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Anne-Frank-Mittelschule in Antony (F) von MARS architectes

Anne-Frank-Mittelschule in Antony (F)
Respekt für Jean Nouvel

Firmen im Artikel
Als eines seiner frühen Werke stellte Jean Nouvel 1980 eine Schule im Pariser Speckgürtel fertig. Trotz ihrer beachtlichen Größe von rund 7 500 m² geriet sie in der Fachwelt weitgehend in Vergessenheit. Nun ist sie grundlegend modernisiert worden – mit schweren Eingriffen, die aber versuchen, die Vielschichtigkeit von Nouvels Architektur zu bewahren.

Architektur: MARS architectes
Tragwerksplanung: RFR, Batiserf

Text: Christian Schönwetter
Fotos: Charly Broyez, Nicolas Grosmond

Es war ein Direktauftrag. Südlich von Paris, nicht weit vom Flughafen Orly, durfte Jean Nouvel 1980 in der Gemeinde Antony eine Mittelschule realisieren. Ohne die Autorität eines gewonnenen Wettbewerbs musste er sich allerdings den Vorgaben der Bauherrschaft beugen, die darauf pochte, ein etabliertes Fertigteilsystem zu verwenden. Diese Vorgabe erfüllte er. Doch dem Ergebnis ist anzusehen, dass er sie zugleich subversiv unterwanderte. Statt des zu erwartenden funktionalistischen Nachkriegs-Schulbaus entwarf er einen schlossartigen Grundriss, der an die Drei-Flügel-Anlagen des Barock anknüpft, mit dem Schulhof als Cour d’honneur und einer opulent bemessenen Treppenhalle genau in der Symmetrieachse der Anlage. Der Plan basiert auf einem strengen quadratischen Raster. An den Fassaden spielte Nouvel mit einer pixelartigen Anordnung der Fenster und die Sonderräume erhielten Pyramidendächer mit einer schwarz-weiß gestreiften Deckung. Im Innern überlagerte er die Fertigteil-Ästhetik punktuell mit bauhistorischen Zitaten, verkleidete etwa einige quadratische Betonpfeiler als dorische Säulen und kaschierte abgehängte Kabeltrassen mit frei im Raum schwebenden Stuckleisten. Das Ganze fügte sich zu einer eklektizistischen Collage und entsprach in seiner Vielschichtigkeit geradezu beispielhaft Robert Venturis Forderung nach »Complexity and Contradiction in Architecture«.

Fassaden weiterentwickelt

Gut 40 Jahre später stand v. a. aus energetischen Gründen eine Sanierung an – sowohl im Sommer als auch im Winter herrschten in der Schule unangenehme Temperaturen. Um den hohen Energieverbrauch in den Griff zu bekommen, führte kein Weg an einer außenliegenden Dämmung vorbei. Denn Nouvel hatte das tragende Raster aus Betonfertigteilen an den Fassaden sichtbar belassen, sodass es aus heutiger Perspektive eine einzige große Wärmebrücke bildete. Dennoch wollten MARS architectes, die mit der Modernisierung beauftragt waren, am tektonischen Ausdruck der Fassaden, am Prinzip des Skeletts mit Ausfachungen, festhalten. Deshalb behandelten sie diese beiden Hauptkomponenten unterschiedlich.

Bilder: Charly Broyez; MARS; Nicholas Grosmond

Die Betonpfeiler und die Stirnseiten der Decken erhielten nach dem Dämmen eine schützende Bekleidung mit einfachen Gitterrosten aus Stahl. Sie machen die Idee des geschichteten Aufbaus anschaulich und erzeugen wieder ein gerastertes Fassadenbild aus industriell vorgefertigten Elementen – interpretieren also einen wesentlichen Aspekt des Ursprungsbaus neu. Kenner von Nouvels Architektur werden sich außerdem an das Hotel Saint-James in Bouliac erinnert fühlen, das er 1989 in ein Kleid aus Gitterrosten hüllte, wenn auch aus Cortenstahl. Obwohl die Stützen der Schule v. a. an den Gebäudeecken durchs Dämmen in die Breite wuchsen, verhindern die durchlässigen Stahlgitter eine allzu schwere Proportion und verleihen dem Bau eine gewisse Leichtigkeit.

Die Ausfachungen zwischen den tragenden Betonelementen machten Platz für eine neue Glasfassade als Pfosten-Riegel-Konstruktion. Die einstige pixelartige Anordnung der Fenster wurde dabei nachgebildet: Wo sich bisher geschlossene Felder befunden hatten, gibt es jetzt Glasscheiben mit aufgedrucktem Punktraster, in Rot, Weiß, Blau oder Gelb, den Tönen der Originalfassade. Von außen wirken diese Felder opak wie zuvor, lassen aber Licht nach innen durchscheinen, sodass die Räume gleichmäßiger ausgeleuchtet werden. Erst abends, wenn innen das Kunstlicht angeht, zeigt sich die Transluzenz der Fassaden auch nach außen. Tagsüber hingegen hat sich das Erscheinungsbild der Schule – zumindest bei flüchtiger Betrachtung – nicht allzu sehr verändert.

Grundriss sanft optimiert

In den Grundriss griffen MARS architectes nur moderat ein, v. a. durch Umwidmen einiger Räume. Die Mensa etwa lag bisher im Haupttrakt, wo sie im EG den Zugang zum Westflügel blockierte und mit ihrer Küche und Anlieferungszone die Attraktivität der Eingangsfassade schmälerte. Der Speisesaal wanderte nun ganz ans nördliche Ende des Westflügels unter eines der schwarz-weiß gestreiften Pyramidendächer, das zuletzt eine leerstehende Werkstatt beherbergt hatte. Dort bietet er besseren Zugang zum begrünten Teil des Schulhofs. Essensgerüche wabern nicht mehr durch die Eingangshalle und die Anlieferung kann diskret von der Rue George Suant, einer kleinen Seitenstraße, erfolgen. Der frei gewordene Raum der ehemaligen Mensa nimmt inzwischen eine Bibliothek auf.

Rechts und links der Eingangshalle reaktivierte man kleine Lichthöfe, die zwischenzeitlich geschlossen worden waren. Sie sorgen für mehr Helligkeit in der Halle, aber auch im Studierraum unter der südöstlichen Pyramide. Die Büros der Schulleitung wurden etwas vom Trubel der Eingangshalle abgerückt und in den Ostflügel verlegt. Um es in der insgesamt recht weitläufigen Anlage zu ermöglichen, auf direktem Weg vom Ost- in den Westtrakt zu gelangen, errichtete man im Schulhof einen unauffälligen gedeckten Gang, der sich trockenen Fußes als schnelle Abkürzung nutzen lässt.

Schwerere räumliche Eingriffe konzentrieren sich auf den Westflügel. Dessen Treppenhaus wurde um eine Achse verschoben, um Platz für die Nebenräume der Mensa zu machen. In den oberen Geschossen wichen an der Hofseite ein paar kleinere Klassenzimmer. Dadurch war es möglich, den bislang innenliegenden Flur an die Fassade zu verlegen, großzügig zu verbreitern und die Flächen der straßenseitigen Unterrichtsräume auf heutige Standards zu erhöhen. Weil all dies im konstruktiven Raster des Bestands geschah, stechen die Änderungen nicht groß ins Auge.

Interieur wieder näher am Ursprung

Ein großer Gewinn ist der Abbruch der abgehängten Decken, die man bei einer vergangenen Modernisierung eingefügt hatte. Nun sind die originalen, charakteristischen Betonkassetten wieder sichtbar. Dadurch kommen die Klassenzimmer auf ihre alte Höhe von 3,5 m und bieten im wahrsten Sinne des Wortes mehr Raum zum Denken. Ganz pragmatisch dienen die freigelegten Betondecken als träge thermische Masse, um an Sommertagen das unangenehme Aufheizen der Räume zu verlangsamen. Das Auf und Ab der Kassetten wiederum ist günstig für die Akustik, dennoch erhält es Unterstützung von Schallabsorbern in denjenigen Feldern, die keine Leuchte aufnehmen. Die gesamte Technik ist somit unauffällig in die Kassetten integriert.

Ähnlich haben MARS architectes die Flure behandelt. Neu sind hier die Lüftungsrohre unter der Decke. Sie durchbrechen die Wand zum Klassenzimmer jeweils an zwei Stellen: Im Eingangsbereich des Zimmers strömt Zuluft in den Raum, während an seiner Rückseite die verbrauchte Luft abgesaugt wird. Auf diese Weise brauchten die Kassettendecken der Klassenzimmer nicht für große Rohre durchbrochen zu werden. Im Flur sind die Lüftungsleitungen unterhalb des Betontragwerks so offen geführt wie die frei schwebenden Stuckleisten für die Kabeltrassen.

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Ironisch verfremdetes Baugeschichtszitat: abgehängte Stuckleisten unter den Lüftungsrohren (Foto: Nicolas Grosmond)

Wo noch vorhanden, wurden die historisierenden Säulenfragmente bewahrt, seien es einzelne weiße Kapitelle unter den Flurdecken oder kannelierte Schaftstücke an den Betonpfeilern der Eingangshalle. Dass das Planungsteam die Reste dieser vollkommen nutzlosen, rein dekorativen Elemente nicht auch noch beseitigt, sondern sich insgesamt auf die postmoderne Formensprache des Bestands eingelassen hat, anstatt die Sanierung etwa als Gelegenheit für einen deutlichen gestalterischen Neuanfang mit eigener Handschrift zu nutzen, zeigt den großen Respekt vor dem Frühwerk von Jean Nouvel. Wie man wohl mit dem Gebäude umgegangen wäre, wenn es nicht von einem Pritzker-Preisträger, sondern einem weniger renommierten Architekten stammen würde? Wäre man dem postmodernen Interieur mit der gleichen Wertschätzung begegnet? Im Innern präsentiert sich die modernisierte Anne-Frank-Schule nun jedenfalls wieder ähnlich wie kurz nach ihrer Fertigstellung. Man darf sich ganz in die 80er Jahre zurückversetzt fühlen – ein Eindruck, der noch dadurch verstärkt wird, dass die derzeitige Jugendmode, die viele Schüler:innen tragen, sich an dieser Dekade orientiert. Für die perfekte Illusion fehlt nur noch, dass plötzlich die berühmte Titelmusik von »La Boum« erklingt und in einem der Flure Sophie Marceau und Pierre Cosso als Teenager um die Ecke biegen…


  • Standort: 112 Rue Adolphe Pajeaud, 92160 Antony (F)
    Bauherr: Conseil départemental des Hauts de Seine, Nanterre
    Architektur: MARS architectes, Paris
    Projektleitung: Stephane Bauche
    Tragwerksplanung: RFR (Fassade), Paris; Batiserf, Fontaine
    Elektroplanung: BET Choulet, Clermont Ferrand
    Landschaftsarchitektur: Bassinet Turquin Paysages, Paris
    Gesamtfläche: 7 552 m²
    Baukosten: 20 Mio. Euro
  • Beteiligte Firmen:
    Fassade: Jean Rossi, www.jeanrossi.fr
    Fenster: Wicona, www.wicona.com
    Decken: Amedeco, www.amedeco.fr

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