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Mehrfamilienhaus in Basel von Esch Sintzel

Wohnmaschine statt Weinfabrik
Mehrfamilienhaus in Basel

Ein Umbau mit Modellcharakter: Bezahlbares Wohnen, vielfältige Grundrisse, Angebote für die Gemeinschaft, optimale Bedingungen für Fahrradmobilität, ein ambitioniertes Energiekonzept, kein Baulandverbrauch. Und das Ganze auch noch in anspruchsvoller Architektur. Was will man mehr?

Architektur: Esch Sintzel
Tragwerksplanung: Aerni + Aerni Ingenieure,
Aegerter & Bosshardt

Kritik: Christian Schönwetter
Fotos: Paola Corsini, Raphael Schicker/Stiftung Habitat,
Philip Heckhausen

Bei diesem Wohnhaus ist vieles anders. Das fängt schon beim Eingang an: Ohne dass ich einen der 64 Klingelknöpfe gedrückt hätte, öffnet sich die Tür automatisch und gleitet mit leisem Surren zur Seite – ein Zugang so einladend wie bei einem innerstädtischen Kaufhaus. Doch ich stehe vor einem Mehrfamilienhaus am Stadtrand von Basel, kurz vor der französischen Grenze, am Übergang der kleinteiligen gründerzeitlichen Blockrandbebauung zur grobkörnigen Struktur einer Industriebrache. Von der anderen Straßenseite winkt der Novartis-Campus mit den Gebäuden seiner Star-Architekten herüber,
etwa dem Auditorium von Frank Gehry.

In diesem disparaten Umfeld markiert der ungewöhnliche Wohnbau den Auftakt zu einem neuen Quartier, das momentan auf den Brachflächen entwickelt wird. Von außen wirkt er wie ein Kind unserer Tage, doch wer das Foyer betritt, merkt schnell, dass es sich um die Umnutzung eines älteren Gebäudes handeln muss. Denn im Entree wird man von einer Reihe schwerer Pilzstützen aus Beton begrüßt, viel zu wuchtig für ein Wohngebäude. Hier treffe ich mich mit Marco Rickenbacher, der im Architekturbüro Esch Sintzel den Umbau geplant hat. »Das Gebäude hat bereits zwei Leben hinter sich«, erläutert er. 1955 wurde es als Coop-Weinlager errichtet. Das Hochparterre mit Laderampe diente dem An- und Abtransport, im Keller baute die Supermarktkette sogar selbst Wein aus – in riesigen Betonfässern. Die mächtigen Pilzstützen lassen die besonderen Lasten der Flaschen und Kisten erahnen, die in den beiden OGs lagerten. 1973 begann das zweite Leben, als man die Produktion einstellte und den Bestand als reines Logistikgebäude beträchtlich erweiterte. Das Walmdach machte Platz für zusätzliche Geschosse in Stahlbauweise, Alt und Neu wurden gemeinsam in eine einheitliche Metallfassade gehüllt.

Nun also das dritte Leben, ermöglicht von der Stiftung Habitat, die sich in Basel für bezahlbares Wohnen einsetzt und dabei Wert auf ein lebendiges Umfeld mit Arbeits- und Begegnungsorten legt. Deshalb ist hier nicht die übliche monofunktionale Wohnzeile entstanden, sondern an den Gebäudeköpfen gibt es im EG ein Café und eine Ladenfläche, die derzeit an ein kleines Sportstudio für Elektro-Stimulationstraining vermietet ist. Und in einem Teil des Kellers, 6 m unter der Erde, liegen sieben schallgeschützte Musikproberäume – auch als Angebot für die Nachbarschaft.

Die Wohnungen selbst sorgen mit Größen von 1,5 bis 7,5 Zimmern für eine breite Mischung unterschiedlicher Nutzergruppen, von Singles über Familien bis Wohngemeinschaften. Die Stiftung vergibt die Einheiten 10 % unter der ortsüblichen Vergleichsmiete. Im Gegenzug achtet sie mit einem aktiven Belegungsmanagement darauf, dass sich kein Luxus breitmacht. Ihre Formel lautet »Zimmerzahl minus 1«, so müssen beispielsweise in einer 4-Zimmer-Wohnung mindestens drei Personen leben. Auf diese Weise verringert sich auch der ökologische Fußabdruck der Mieter:innen. Statt der landesweit durchschnittlichen Wohnfläche von 46,5 m² pro Person verbrauchen sie hier nur rund 40 m².

Schwieriger Bestand nutzbar gemacht

Vom Foyer gelangen wir in eine langgesteckte Rue intérieure. Sie erschließt nach Süden orientierte kleine Gartenwohnungen und nach Norden zur Straße gelegene Waschküchen. Weil sie außerdem zu vier Treppenhäusern mit Aufzug führt, ist sie selbst bei unserem Besuch am frühen Nachmittag gut belebt. Mit 3 m Breite bietet sie genau jenes Maß an Großzügigkeit, das nötig ist. damit man gern für einen Plausch mit den Nachbarn stehen bleibt.

Über ein Dreispänner-Treppenhaus steigen wir hinauf ins 2. OG, wo eine junge Familie uns ihre Wohnung zeigt. Hier sind die meisten Einheiten von Norden nach Süden durchgesteckt. Marco Rickenbacher berichtet, welch massive Eingriffe in den Bestand nötig waren, um das ehemalige Weinlager überhaupt zum Wohnen nutzen zu können. Mit 19  m war der vorgefundene Gebäuderiegel zu breit für eine ausreichende Belichtung. Das Betonskelett wurde daher auf eine Breite von 16 m gestutzt – immer noch viel für Nord-Süd-orientierte Wohnungen, doch man wollte möglichst viel alte Bausubstanz weiternutzen. Bei der Aufstockung aus den 70er Jahren war ein solcher Materialerhalt nicht möglich. Dort gestatteten Geschosshöhen von 4,5 m keine effiziente Verwendung des Raums, sodass man die Stahlkonstruktion abtragen ließ. Eigentlich wollte das Team von Esch Sintzel sie direkt vor Ort wiederverwenden. Doch weil das Abbruchunternehmen nicht mit der nötigen Sorgfalt vorging, musste der Stahl letztlich eingeschmolzen werden. Drei neu auf den Bestand gesetzte, niedrigere Etagen bieten nun mehr nutzbare Fläche. Nicht zuletzt musste das Gebäude erdbebensicher gemacht werden. Um es gegen Horizontalkräfte aus dem Untergrund zu schützen, erhielt es an den Kopfenden je einen Anbau mit aussteifenden Stahlbeton-Wandscheiben in Längs- und Querrichtung. Trotz all dieser umfangreichen Maßnahmen hat sich der Erhalt der Bestandsstruktur gelohnt: Im Vergleich zu einem herkömmlichen Neubau wurden 42 % graue Energie eingespart.

Stützen als Hauptdarsteller

Was vom Originalgebäude übrig blieb, war allein das Betonskelett mit den markanten Pilzstützen. Diese wollte das Planungsteam unbedingt gebührend in Szene setzen. Mit großen, offenen Lofts wäre das ein Leichtes gewesen, doch gefragt waren familientaugliche Wohnungen mit kleinteiliger Gliederung. In den schließlich ausgetüftelten Grundrissen bleiben die skulpturalen Pfeiler stets freigestellt, meist als Raumteiler in einem durchgesteckten Wohn-Ess-Koch-Bereich, hin und wieder auch einmal als Mittelpunkt einer kleinen Diele. Die Wohnungen erhalten dadurch einen eigenwilligen Charme, wie er in einem Neubau niemals möglich gewesen wäre. Weil die Bewehrung der Bestandsdecken hauptsächlich von Pfeiler zu Pfeiler verläuft, lag es nahe, die nötigen Durchbrüche in der Mitte der quadratischen Felder anzuordnen, wo sich jetzt die Schächte für Aufzüge, aber auch für Rohre und Leitungen konzentrieren.

Um möglichst viel Licht in die tiefen Grundrisse zu bringen, sind die Fassaden vollflächig verglast. Das Raster der Tragstruktur setzt sich innen vor den Fenstern fort – in Form geschälter Fichtenstämme als Stützen. Sie sind dick genug, um sich visuell gegen die dominanten alten Pilzpfeiler behaupten zu können (und einen Brand zu überstehen), gleichzeitig bringt ihre Holzoberfläche einen Hauch Gemütlichkeit in die Wohnungen, die ansonsten von Beton an Boden und Decke geprägt werden.

Vielfalt bei der Erschließung

Im 3. OG, der ersten aufgestockten Etage, betreten wir eine weitere Rue intérieure. Wie bei Le Corbusiers Wohnmaschine in Marseille erschließt sie Maisonettewohnungen, doch im Unterschied zu diesem Vorbild ist sie weder dunkel noch stickig. Transluzente Glasbausteine neben den Wohnungstüren lassen Licht herein, unterstützt von den vier vollverglasten Treppenhäusern, die nebenbei für Frischluftzufuhr sorgen. Auf diesem Stockwerk finden sich mit vier kleinen 1-Zimmer-Appartments die einzigen Nordwohnungen des gesamten Gebäudes. Doch weil sie relativ weit oben liegen und ganz leicht nach Westen verdreht sind, bekommen sie abends noch etwas Sonnenlicht.

Wir gehen weiter ins 5. OG, das mit einem offenen Laubengang überrascht – auf der Südseite. Diese nicht ganz alltägliche Anordnung stellt die Intimsphäre der nach Norden gelegenen Schlafzimmer sicher und ermöglicht eine Wechselwirkung von privater Wohn- und halböffentlicher Erschließungsfläche, denn nach Süden präsentieren sich die Appartments mit ihren Küchen und Essbereichen, die ein gewisses Maß an Einblick vertragen. Weil der Laubengang extrabreit angelegt ist, lässt er sich über die reine Zutrittsfunktion hinaus auch als Balkon nutzen. Tatsächlich haben die Mieter:innen ihn sich mit Tischen, Stühlen und Pflanzkübeln angeeignet, sodass ein lebendiges Bild entsteht. Die üblichen Abschottungsmaßnahmen an den Fenstern, ob mit dicken Gardinen oder dauergeschlossenen Rollläden, sind hier nicht zu beobachten.

Mehr als nur Wohnfläche

Im obersten Geschoss schließlich steht ein Gemeinschaftsraum mit Küche und WC zur Verfügung, v. a. aber eine große Dachterrasse. Die grandiose Aussicht über die Dächer Basels bis zu den Bergen bleibt somit kein Privileg der Bewohner:innen im 5. OG, sondern ist der gesamten Hausgemeinschaft zugänglich. Weil für das Energiekonzept große PV-Flächen benötigt wurden, erhielt die langgestreckte Freifläche ein Dach. Zusammen mit einer Grundwasser-Wärmepumpe ermöglichen die Solarzellen, dass das Gebäude übers Jahr betrachtet zu 65 % energieautark ist. Funktionaler Kollateralnutzen des Daches: An heißen Sommertagen sorgt sein Schatten für erträgliche Temperaturen auf der Terrasse. Im Frühling und Herbst dagegen kann die flach stehende Südsonne ungehindert den Außenraum bescheinen.

Mit dem Aufzug geht es noch kurz hinab in den Untergrund. Über eine eigene Fahrradrampe lassen sich schwere E-Bikes, sperrige Lastenräder oder Kinder-Anhänger bequem und sicher im 1. UG unterstellen. Darunter lag der ursprünglich 6 m hohe Weinkeller. Eine neue Zwischenebene macht ihn als zweistöckige Tiefgarage nutzbar, glücklicherweise standen die mächtigen alten Stützen in einem leidlich geeigneten Raster. Wegen der guten Fahrradinfrastruktur und der Straßenbahn-Haltestelle direkt vor dem Gebäude sind momentan nur wenige Parkplätze belegt. Der Raum dient vielmehr als Quartiersgarage für das neu entstehende Viertel und nimmt Carsharing-Stellplätze auf.

Zurück am Tageslicht werfen wir noch einen Blick auf die Fassaden. Wo sie nicht verglast sind, tragen sie als Reminiszenz an die Weinlager-Jahre wieder ein Metallkleid. Eigentlich wollten Esch Sintzel gemeinsam mit den Re-Use-Experten des Büros »in situ« die alten Trapezbleche aufarbeiten lassen, doch das wäre fünfmal teurer als neue Bleche gewesen. Nun hat »in situ« das Material bei einem anderen Projekt verbauen können. Und warum erhielt die neue Aluhaut eine Beschichtung in Rot-Grün? Meine erste Assoziation angesichts der früheren Nutzung des Bauwerks sind Rotweinflaschen, doch die Töne passen nicht ganz. Marco Rickenbacher erklärt, dass man sich mit einer Farbberaterin für Reseda- bzw. Maschinengrün als Hommage an die industrielle Vergangenheit entschieden habe und dass dann als Komplementärfarbe ein ähnlich helles Rot hinzugekommen sei. Auf jeden Fall macht die Farbwahl das Gebäude zu einem Hingucker, der seiner teils öffentlichen Funktion angemessen ist.

Beim Verlassen des früheren Weinlagers bin ich fast ein bisschen neidisch, nicht selbst hier zu leben. Mit seiner sozial engagierten Bauherrin, seiner bunten Mischung an Wohnungstypen abseits der Norm, seiner abwechslungsreichen Erschließung, die trotz hoher Dichte nicht das Gefühl einer Massenunterkunft aufkommen lässt, und mit seiner anspruchsvollen Gestaltung bietet dieses Haus eine Qualität, die im Geschosswohnungsbau nur sehr, sehr selten zu finden ist. Und das Konzept beschränkt sich nicht darauf, aus dem Grundstück das Beste für die Bauherrin herauszuholen, sondern bietet darüber hinaus dem umgebenden Stadtteil einen handfesten Nutzen. Ein solches Projekt kann man nur zur Nachahmung empfehlen.


Vorm Haupteingang mussten sich Architekt Marco Rickenbacher (links) und Redakteur Christian Schönwetter ihren Weg durch die
geparkten Fahrräder bahnen, das Hauptverkehrsmittel der Bewohner:innen


  • Standort: Weinlagerstraße 11, CH-4056 Basel

    Bauherrin: Stiftung Habitat, Basel
    Architektur: Esch Sintzel, Zürich
    Baumanagement und -leitung: Proplaning, Basel
    Tragwerksplanung: Aerni + Aerni Ingenieure AG, Zürich;
    Aegerter & Bosshardt AG, Basel
    Elektroplanung: Edeco AG, Aesch
    Sanitärplanung: Technik im Bau AG, Luzern
    Bauphysik und Akustik: Gartenmann Engineering, Basel
    BIM-Koordination: Kaulquappe, Zürich
    Signaletik: Büro Berrel Gschwind, Basel
    Farbberatung: Archfarbe, Andrea Burkhard, Zürich
    Landschaftsarchitektur: Stauffer Roesch, Basel
    Geschossfläche: 11 100 m²
    BRI: 42 000 m³
  • Beteiligte Firmen:
    Metallfassade: Rytz, www.rytz.ch
    Trapezbleche: Montana Bausysteme, www.montana-ag.ch
    Holzfenster: Gawo Gasser, www.gawo.ch
    Stützen aus Fichtenstämmen: Neue Holzbau, www.neueholzbau.ch
    Glasbausteine: Semadeni Glasbeton, www.semadeni-glasbeton.ch
    Geschliffene Anhydritböden: Repoxit, www.repoxit.com
    Küchen: Hinze Schreinerei, www.holzwerk-ag.ch

Architektur: Esch Sintzel


Marco Rickenbacher

Architekturstudium an der HSLU, Luzern, FHNW, Basel und UdK, Berlin. Seit 2009 Mitarbeit bei Esch Sintzel Architekten, seit 2017 Mitglied der Geschäftsleitung, seit 2021 Partner.


Text: Christian Schönwetter (~cs)

Architekturstudium an der Universität Karlsruhe, Wiss. Mitarbeit. Volontariat bei der AIT, Redakteur beim design report. Gründer und Chefredakteur der Zeitschrift Metamorphose. Seit 2013 Redakteur der db-Metamorphose. Freier Journalist, Kritiker.

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