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Grundlagen der Gewölbestatik

Grundlagen der Gewölbestatik
Den Bogen überspannen

Treten bei Bögen oder Gewölben Risse auf, stellt sich die Frage: harmlos oder gefährlich? Wer sich die statischen Prinzipien dieser Konstruktionen ins Gedächtnis ruft, kann schnell eine erste Einschätzung zu Risiko und möglichen Instandsetzungskosten treffen.

»Da ging ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Tor, sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen – und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost […].«, Heinrich v. Kleist an Wilhelmine von Zenge, Berlin 16./18.11.1800

Bei einem Riss im Gewölbe sind die Sorgen erst einmal groß: Hält das noch? Droht gar der Einsturz? Nicht nur bei baufachlichen Laien besteht oft eine gewisse Unsicherheit, denn die statischen Verhältnisse bei Wölbkonstruktionen sind nur bedingt intuitiv erfassbar. In vielen Fällen lassen sich jedoch mithilfe ingenieurtechnischer Grundkenntnisse und fundierter Voruntersuchungen relevante Aussagen zu Konstruktion, Schäden und möglichen Risiken treffen.

Um komplexere Wölbungen beurteilen zu können, sollte zunächst die Grundform betrachtet werden: der Bogen (Abb. 1, 2). Seine Statik basiert auf einfachen Prinzipien. Erstens: Kräfte lassen sich zu einer Resultierenden addieren oder in Teilkräfte zerlegen; die Addition oder Zerlegung folgt dabei den Prinzipien der Vektorrechnung. Zweitens: Mauerwerk kann zwar außerordentlich große Druckkräfte aufnehmen, rein rechnerisch jedoch kaum Zug- oder Biegebeanspruchungen.

Bogenkonstruktionen gehören im weiteren Sinn zu den Sprengwerken und üben, anders als biegebeanspruchte Balken oder Betondecken, einen Schub auf die Auflager aus: Neben den Vertikalkräften treten auch nach außen wirkende Druckkräfte auf. Die horizontale und die vertikale Komponente der Gewölbekraft können differenziert betrachtet werden:

– Die Horizontalkraft, also der »Gewölbeschub«, ist an jedem Teilstück der Wölbung gleich groß.

– Die Vertikalkraft nimmt vom Scheitel nach unten mit jedem zusätzlichen Teilstück der Wölbung zu. Die Vertikalkraft ist dabei v. a. das Eigengewicht des Materials.

Stützlinie und Biegebeanspruchung

Aus diesen beiden Aspekten lässt sich die Stützlinie eines Bogens konstruieren (Abb. 3). Es handelt sich dabei um den Kraftpfad, bei dem im Material keine Zug- oder Biegebeanspruchungen auftreten. Der Verlauf ergibt sich an jedem Teilstück aus der Addition von horizontalen und vertikalen Kraftkomponenten zu einer Resultierenden.

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Abb. 3: Vereinfachte Darstellung der grafischen Stützlinienermittlung (inkrementelle Annäherung, mit Teilung des Bogens in drei Abschnitte); unten rechts Kräfteplan. Av/Ah: horizontale/vertikale Auflagerkräfte; G: Eigengewicht des Bogenabschnitts (Bild: KBBM/Christian Kayser)

Da die horizontale Komponente an jedem Stück der Wölbung gleich ist, die vertikale Kraftkomponente (das Eigengewicht) nach unten hin jedoch zunimmt, wird die Ausrichtung der Stützlinie in ihrem Verlauf immer steiler. Auf diese Weise entsteht eine »Katenoide«, eine parabelähnliche Form. Ihr deutscher Name – Seil- oder Kettenlinie – illustriert prägnant die Wirkung. Es handelt sich um den Kurvenverlauf, der sich bei einer an beiden Enden aufgehängten Kette ergibt, in der natürlich ausschließlich Zugkräfte auftreten.

Dreht man die zugbeanspruchte Seillinie nach oben, ergibt sich die druckbelastete Stützlinie. Diese Erkenntnis wurde etwa von Antoni Gaudi beim Entwurf seiner berühmten Kirchenbauten benutzt (Abb. 4). Hierfür stellte er zunächst Hängemodelle aus Fäden her, die mit Gewichten beschwert waren, welche das Eigengewicht des Steins repräsentierten. Anschließend fotografierte er die Fäden und nutzte dann die umgedrehten Bilder als Grundlage für seine Planungen.

Wie Gaudi richtig erkannte, sind bei »idealen«, nur mit Druckkräften beaufschlagten Mauerwerkkonstruktionen Stützlinie und Konstruktionsform geometrisch identisch. Statische Probleme entstehen dagegen an Gewölben, wenn der Verlauf der Stützlinie und die gebaute Konstruktionsform nicht übereinstimmen. Durch einen Versatz zwischen der Konstruktionslinie – der »Mittelachse« des gebauten Gefüges – und der Stützlinie entsteht ein Moment mit lokalen Zugkraftanteilen im Querschnitt des Gewölbes. So lange der Versatz klein ist, die Stützlinie etwa im mittleren Drittel eines Mauerquerschnittes zu liegen kommt, führt dies nicht zu Beeinträchtigungen an der Konstruktion. Liegt die Stützlinie dagegen im äußeren Mauerdrittel, treten Schäden auf: Einseitig kommt es durch den Druck zu hohen Pressungen, während auf der anderen Seite Fugen aufgehen oder Risse entstehen. Die Belastungsspitzen auf der druckbeanspruchten Seite können zu einer Überbeanspruchung des Materials und in Folge zu Ausbrüchen an den Mauerkanten führen (Abb. 5). Diese Beanspruchungen sind umso größer, je weiter außen die Stützlinie im Mauerquerschnitt verläuft. Liegt die Stützlinie außerhalb des Querschnittes, stürzt das Gefüge ein – Luft überträgt keine Druckkräfte!

Was führt zu Rissen bei Gewölben?

Aus diesen Grundprinzipien lassen sich die typischen Rissbildungen bei Tonnengewölben erklären: Die meisten Bögen und Tonnengewölbe zeigen auf der Unterseite im Scheitel einen gut sichtbaren Riss. Zusammen mit diesem Schadensbild treten auf der Gewölbeoberseite etwa in den unteren Drittelspunkten weitere Risse auf, die allerdings aufgrund von Verschmutzung und mangelnder Zugänglichkeit meist unbemerkt bleiben.

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Abb. 6: Schadensmechanismus an einem Bogen mit nachgiebigen Auflagern. Oben: Ausgangssystem. Mitte: Ausweichen der Auflager mit Gelenk- und Rissbildung. Unten: veränderter, flacher Stützlinienverlauf bei starkem Nachgeben der Auflager mit erhöhtem Horizontalschub (Bild: KBBM/Mathias Jagfeld)

Diesem charakteristischen Schadensbild liegt ein einfaches mechanisches Modell zugrunde (Abb. 6). Bewegen sich die Auflagerpunkte infolge des horizontalen Gewölbeschubs oder infolge äußerer Einflüsse vom Gewölbe weg, kommt es zu einem Absenken des Scheitels. Die Bogenoberseite wirkt nun als Gelenk der beiden sich gegeneinander lehnenden oberen Bogensegmente bzw. Kappen des Gewölbes: Am Scheitel treten unterseitig erste Risse auf. Des Weiteren bildet sich im Feld zu jeder Seite je ein weiteres Gelenk aus, an dem dann oberseits, in der Zugzone des Querschnittes, gleichfalls Risse oder klaffende Fugen entstehen (Abb. 7). Die Stützlinie verläuft nun leicht gekrümmt von Gelenkpunkt zu Gelenkpunkt – also durch die Bereiche, wo das Material mit den Kontaktflächen die Druckübertragung ermöglicht. Solange sich die Auflagerpunkte nicht weiter voneinander entfernen, bleibt das Gewölbe stabil.

Bei kleinen Auflagerverschiebungen im Millimeterbereich ergibt sich aus diesem Mechanismus sogar zunächst ein positiver Effekt. Die Stützlinie wird durch die Gelenkbildung zwangsweise in den steilstmöglichen Verlauf innerhalb des Bogenquerschnittes »gezwungen«, der Horizontalschub am Gewölbefuß reduziert sich zunächst. Bei größeren Auflagerverschiebungen mit einer deutlichen Verformung der Gewölbegeometrie kann es dagegen zu einem selbstverstärkenden Schadensmechanismus bis hin zum Einsturz der Konstruktion kommen. Da die Stützlinie durch das Absenken des Gewölbescheitels ebenfalls flacher verläuft, erhöht sich auch die horizontale Komponente der am Auflager wirkenden Kraft. Das Gewölbe »schiebt« nun mehr als zuvor – und die größere Horizontalkraft kann wiederum zu weiteren Auflagerverschiebungen führen, mit weiteren Gewölbeabsenkungen …

Was tun bei Rissen?

Bei stabilen Auflagern und geringfügiger Rissbildung besteht damit kein Handlungsbedarf. Ein feiner Scheitelriss ist meist lediglich ein Anzeichen dafür, dass sich im Gewölbe die steilstmögliche Stützlinie eingestellt hat. Gefährdet sind dagegen Bögen mit flacher Neigung und dünnem Querschnitt und, vor allem, nachgiebigen Auflagern. Um die tatsächliche Bauteilgeometrie und den Grad möglicher Verformung zu ermitteln, sollte daher unbedingt vor weitergehenden Analysen und Planungen ein präzises, formgetreues Aufmaß erstellt werden.

Sind die Verformungen noch nicht zu weit fortgeschritten, lässt sich das System häufig durch ein Stabilisieren der Auflager sichern. Im einfachsten Fall können Zuganker zwischen den Bogenansätzen eingezogen werden (Abb. 8), die die horizontalen Kräfte an beiden Fußpunkten kurzschließen. Diese Maßnahme ist meist ökonomisch umsetzbar, mit verhältnismäßig geringen Eingriffen verbunden und reversibel. Allerdings bringt sie eine gewisse Störung des Innenraums mit sich und wird daher gerade bei wertvollen Raumkunstwerken, etwa Sakralräumen, kritisch gesehen. Alternativ können außen massive Verstärkungen – Strebepfeiler – angebracht werden, die jedoch die äußere Erscheinung nachhaltig verändern.

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Abhängig von der individuellen Bauteilgeometrie lässt sich manchmal auch der Bogen überspannen – nämlich mit einer Klammerkonstruktion, bei der die horizontalen Auflagerkräfte über eine biegesteife Konstruktion, etwa einen Rahmen, oberhalb des Bogenverlaufes aufgenommen werden (Abb. 9). Der Aufwand ist jedoch sowohl in der Planung, als auch in der Umsetzung verhältnismäßig hoch, da die Kräfte nicht auf direktem Weg kurzgeschlossen werden. Daher sind entsprechende Gefüge oft recht »weich« und lassen damit zunächst weitere Verformungen zu.

Nicht jeder Riss in einem Bogen oder Gewölbe ist Anzeichen eines aktiven Schadensmechanismus. Langjährige Messungen bezeugen, dass große Mauerwerksbauten im Jahresverlauf »atmen«, also witterungsbedingte Relativbewegungen erfahren, die meist mit feinen Rissbildungen einhergehen. Häufig ist es daher sinnvoll, beim Auftreten von kleinen Rissen zunächst einmal ein geeignetes Verformungsmonitoring zu konzipieren und umzusetzen, für valide Daten einige Messzyklen abzuwarten und erst nach sorgfältiger Interpretation der Daten mögliche Sicherungsmaßnahmen zu diskutieren.

~Christian Kayser


Über den Autor Christian Kayser

Architekturstudium an der TU München und der University of Bath, Schwerpunkt Bauforschung und historische Baukonstruktionen. Seit 2004 Mitarbeit im Ingenieurbüro Barthel & Maus, seit 2012 als Geschäftsführer. 2008-11 Akad. Rat an der TU München, Dissertation. Lehraufträge an TU und LMU München.

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