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Lübecker Variationen

Das Gründungsviertel der Hansestadt kehrt zurück
Lübecker Variationen

Das Areal, das als Keimzelle der Stadt Lübeck gilt, war nach dem Krieg mit zwei Schulgebäuden belegt, danach von den Archäologen gründlich umgegraben worden und steht nun zur Neubebauung bereit. Es ist eine »kritische Rekonstruktion« geplant, die Rückkehr zum Wohnquartier auf der historischen Parzelle. Durch internationale Architektenwettbewerbe will der jüngst im Amt bestätigte Bausenator Franz-Peter Boden ein Leitbild für den Neubau des Quartiers formulieren und unter intensiver öffentlicher Beteiligung diskutieren. Offen ist, ob dies ausreichen wird, um architektonische Qualität zu gewährleisten, und auch, wie viel Mut man sich in Lübeck letztlich genehmigt – und wie viel Zurückhaltung.

~Jürgen Tietz

Der Bau lebenswerter Quartiere gehört nicht zuletzt aufgrund des wachsenden Bedarfs an neuen Wohnungen zu den vordringlichsten Bauaufgaben in etlichen deutschen Städten. Im Gegensatz zu den Stadterweiterungen vom 19. Jahrhundert bis zu den Satellitenstädten der späten Moderne handelt es sich dabei heute häufig um innerstädtische Verdichtungen auf Arealen, die zuvor als Verkehrs- oder Industriegebiete genutzt wurden. So lässt sich an diesem Stadtumbau auch der gesellschaftliche Wandel von der analogen Industrie- zur digitalen Dienstleistungsgesellschaft ablesen, die auf die einstigen Produktionsstandorte geflissentlich verzichten kann. Einen Sonderfall innerhalb der neuen Stadtquartiere stellen die Traditionsinseln der innerstädtischen Altstadtimplantate dar, die auf historischem Stadtgrundriss entstehen. Mit ihnen werden Antworten auf die ewig deutsche Frage gesucht: In welchem Stile sollen wir bauen? Dem disneyfizierten Retortenschick wie er dabei in Potsdam, Dresden und Frankfurt gepflegt wird, versucht man in Lübeck mit dem Gründungsviertel eine vorbildliche Versöhnung von Moderne und Tradition entgegenzustellen. An der Trave liegt die baukulturelle Latte durch den Welterbestatus allerdings auch ungleich höher. Zudem verfügt Lübeck – im Gegensatz etwa zu Frankfurt und Dresden – ja über eine sehr gut funktionierende Altstadt. Mit dem Neubau im Gründungsviertel, gleich gegenüber den (wiederaufgebauten) mächtigen Turmhelmen der Marienkirche und nur wenige Schritte entfernt von Thomas Manns Wohnhaus der »Buddenbrooks« in der Mengstraße, soll nun die Nachkriegsreparatur repariert werden.
Kritischer Wiederaufbau
Bei dem britischen Bombenangriff auf Lübeck Ende März 1942, der als erstes Flächenbombardement einer deutschen Stadt im Zweiten Weltkrieg gilt, stürzten nicht nur mehrere der stadtbildprägenden Kirchtürme ein. Auch ein bedeutender Teil der bis dahin weitgehend mittelalterlich geprägten Stadt wurde zerstört. Das betraf besonders das Gründungsviertel um Alf- und Fischstraße, das durch den Feuersturm in Schutt und Asche versank. Ein Ort mit besonderer Bedeutung für die Stadt, ging doch von dort der Aufstieg Lübecks zum Haupt der Hanse aus. Noch während des Kriegs entwickelte Stadtbaurat Hans Pieper sehr differenzierte Überlegungen für einen möglichen Wiederaufbau, die nach seinem Tod von dessen Sohn veröffentlicht wurden. Piepers Ansätze wurden auch in der Bebauung in den 50er Jahren aufgegriffen. Anstelle des vor dem Zweiten Weltkrieg ziemlich heruntergekommenen Viertels mit seinen giebelständigen Kontorhäusern entstanden eine bis heute erhaltene Wohnüberbauung in Kammstruktur an der Mengstraße (1956, Architekten Hans Rück und Henry Redelstorff) sowie zwei inzwischen entsorgte Schulkomplexe. Die Nachkriegsarchitektur verabschiedete sich dabei zwar von der traditionellen Parzellenstruktur und gab auch in Teilen die historische Nutzung auf, zugleich fügte sie sich in ihrer filigranen Kleinteiligkeit und der Verwendung des roten Backsteins aber beispielhaft in die Stadtfigur ein. Dies gilt im Besonderen für die differenzierte Gestaltung der Hanseschule von Diez Brandi, die es trotz ihrer hohen Gestaltungsqualitäten nicht auf die Denkmalliste schaffte. Ein Schicksal, das sie mit einem Großteil der Architektur aus den Jahren des Wiederaufbaus in Lübeck teilt, die an der Trave trotz ihrer Qualitäten bis heute nur wenig Wertschätzung erfährt.
Ende der 60er Jahre setzte angesichts der Entwicklung des automobilen Individualverkehrs und den immer drängenderen Begehrlichkeiten von Investoren nach Flächen für den großflächigen Einzelhandel in zentralen Lagen eine intensive Diskussion über die drohende Zerstörung der Innenstadt ein. Sie mündete 1972 in dem Appell »Rettet Lübeck«. Zugleich erkannte man damals angesichts eines »teilweise dramatischen physischen Verfallsprozesses« hohen Handlungsbedarf, um die Attraktivität der Altstadt wiederherzustellen. Die Lübecker Stadtsanierung war geboren. Im Rahmen des seitdem kontinuierlich verfolgten Altstadtdiskurses tauchten in den 90er Jahren erste Überlegungen auf, die berufsbildenden Schulen aus dem Gründungsviertel hinaus zu verlagern und damit die Grundlage für die Neustrukturierung des gesamten Areals zu schaffen. Einen ersten Schritt bildete eine städtebauliche Studie des Lübecker Architekturbüros Petersen Pörksen Partner (ppp). Sie sah anstelle der 50er-Jahre-Bauten eine Rückkehr zur Nutzungsmischung mit giebelständigen Häusern vor. Im Sommer 2004 veranstaltete das Lübecker Architekturforum einen Workshop zur städtebaulichen Entwicklung des Viertels und im selben Jahr fasste die Lübecker Bürgerschaft den Beschluss, die Planung von ppp zur Grundlage für die Neuordnung des Quartiers zu machen. Aber erst 2009 erhielt die klamme Stadt 9 Mio. Euro aus dem UNESCO-Welterbestätten-Programm, die es ihr ermöglichten, die ungeliebten Nachkriegsschulen abzubrechen und eine ausführliche archäologische Grabung samt Dokumentation auf dem Gelände der Lübecker Keimzelle durchzuführen. Dieser Weichenstellung folgte neben Expertenrunden und der Einbeziehung des Lübecker Gestaltungsbeirats eine öffentliche Beteiligung im Rahmen einer »Gründungswerkstatt«.
Lübecker Stadtbaustein
Der Rahmenplan für die Neuordnung des Gründungsviertels am Fuße der Marienkirche sieht eine »kritische Rekonstruktion« vor – die Wiederherstellung des historischen Straßenverlaufs und der Parzellenstruktur für eine Mischnutzung aus Gewerbe in der Sockel- und EG-Zone und darüber anschließender Wohnnutzung. Zudem soll ein Teil des Gebiets von einer neuen Tiefgarage unterfangen werden. Eine 1:1-Rekonstruktion der verlorenen Bauten ist nicht vorgesehen. Stattdessen soll es zu einer zeitgemäßen Neuinterpretation kommen. Bis Februar 2015 läuft dafür ein internationaler Wettbewerb, mit dem Ziel, für drei charakteristische Parzellentypen des Gründungsviertels beispielhafte Lösungen zu formulieren. Sie sollen anschließend für die potenziellen Bauherren als Vorbilder für die weitere Planung dienen. Zwar kann mit den Beispielentwürfen keine verbindliche Planung vorgegeben werden, gleichwohl sollen sie eine Orientierung bieten. Dabei gibt es mit dem jüngst fertiggestellten Ulrich-Gabler-Haus der Hamburg-Lübecker Architekten Georg Konermann-Dall und Ingo Siegmund (db 10/2014, S 58) gegenüber der Marienkirche bereits eine hohe Messlatte für die Qualität, hinter die eine künftige Bebauung des Quartiers nicht zurückfallen darf. Auf die Ergebnisse des Wettbewerbs darf man gespannt sein, ebenso auf Fähigkeit und Bereitschaft künftiger Bauherren, sich auf die daraus resultierenden Vorgaben einzulassen. Denn selbst wenn die Wettbewerbsergebnisse verheißungsvoll ausfallen sollten, es handelt sich bei ihnen um Visionen – noch längst nicht um Bauten. Für die Bauverwaltung Lübecks und den rührigen Gestaltungsbeirat der Stadt wird es eine Herkulesaufgabe darstellen, künftig den aufwendigen Weg des öffentlichen Diskurses und der Qualitätssicherung weiter zu beschreiten. Nur durch eine sehr enge Betreuung und vertragliche Regelungen wird es möglich werden, die angestrebte architektonische Qualität in Entwurf, handwerklicher Ausführung und Detailausbildung bei den privaten Bauherren auch in die gebaute Wirklichkeit zu übersetzen. Die Beteiligten in der Verwaltung sind sich dabei durchaus des hohen Aufwands bewusst, der mit diesem Vorgehen verbunden ist. Vielleicht kann eine Art »Bauhütte«, an der die beteiligten Protagonisten und Handwerker mitwirken, einen Weg weisen, um am Ende zur gewünschten Ausführungsqualität zu gelangen. Eine Garantie gibt es dafür gleichwohl nicht. Denn obwohl der Planungsprozess bisher beispielhaft erscheint, ist damit leider immer noch nicht gewährleistet, dass am Ende wirklich gute Architektur entsteht.
Tatsächlich strotzt der Lübecker Ansatz für die Neubebauung des Gründungsviertels nicht gerade vor Mut zu städtebaulichen Innovationen, sondern beschreitet in Fragen der Eigentumsbildung, der Verkehrsführung und der städtebaulichen Struktur deutschlandtypisch eher konventionelle Wege. Gleichwohl stellt er für die rund 200 000-Einwohner-Stadt eine ebenso gewaltige wie zentrale Aufgabe dar, derer sie sich – trotz des Verlusts der denkmalwerten 50er-Jahre-Bauten – mit beispielgebender Transparenz und dem lobenswerten Bemühen um intensive öffentliche Mitwirkung gestellt hat. Eine kluge Balance zwischen Tradition und Moderne, die sich auch städtebaulich nicht kritiklos allein am überkommenen Stadtmodell festklammert, sondern zeitgenössische Konzepte mit einbezieht, könnte jedenfalls eine feine baukulturelle Alternative zu den peinlichen deutschen Retro-Retorten darstellen. •
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