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Die produktive Stadt vereint Arbeiten und Wohnen

Ein neues Verständnis für das Arbeiten und Wohnen in der Stadt
Zukunft der Vergangenheit – Die Produktive Stadt

Neben dem Städtebau der Nachkriegsmoderne bleibt vor allem die Trennung der Funktionen von Städten und Gebäuden als das wirksamste Erbe der Moderne. Sie bildet die Grundlage von Planungsinstrumenten, Gesetzen, Verordnungen, Bebauungsplänen, Finanzierungsmodellen und Eigentumsverhältnissen, mit weitreichenden Konsequenzen für die Zukunft unserer Städte bis heute. Es müssen ein neues Verständnis und eine neue Planungspraxis für das Arbeiten und Wohnen entwickelt werden, die der Lebenswirklichkeit der Menschen im 21. Jahrhundert entsprechen und der sozialen Erosion entgegenwirken.

~Autor: Hans Drexler

In der modernen Stadt wurden die globalen Megatrends der Zeit festgeschrieben: Urbanisierung, Industrialisierung, Globalisierung und Standardisierung. Die Moderne ist eine Übersetzung der Industrialisierung in Räume, Formen, Material, Konstruktion und Prozesse. Städte wurden wie Fabriken gedacht und auf die Verkehrsflüsse und effizienten Abläufe hin optimiert. Architektur, die wie Autos massenhaft, effizient und günstig hergestellt werden kann. Menschen, die wie Fabrikarbeiter:innen ihren optimierten Wohn- und Arbeitsmustern folgen. Die arbeitsteilige Gesellschaft und die Funktionstrennung, die zunächst nur innerhalb der Stadt gedacht wurden, haben im Zuge der Globalisierung zu einer Verteilung von Produktionsprozessen über die ganze Welt geführt. Die materielle Produktion, eine wichtige kulturelle und intellektuelle Komponente im Gesamtgefüge von Wirtschaft und Gesellschaft, wird von immer weniger Menschen als attraktives Arbeitsumfeld wahrgenommen.

Funktionstrennung fördert die Fragmentierung der Gesellschaft

Die Fragmentierung und Individualisierung der Gesellschaft wird durch das Fehlen von gemeinschaftlichen und öffentlichen Räumen befördert. Der Architekt und Stadtplaner Thomas Sieverts betont, dass die sozialen Realerfahrungen, jeden Tag unterschiedliche Menschen zu treffen, die Grundvoraussetzung für die Entwicklung eines demokratischen und solidarischen Grundverständnisses sind. Die Funktionstrennung hat den öffentlichen Stadtraum überwiegend zum Verkehrsraum transformiert, in dem sich kleine Enklaven von öffentlichen Plätzen finden. Langsam nur werden heutzutage einzelne Orte für Menschen und öffentliche Nutzungen zurückerobert. Die Innenstadtbereiche sind vielfach zu Einkaufszentren umfunktioniert worden, die außer Konsum wenig zulassen. Den monofunktionalen Wohnquartieren fehlt das vielfältige städtische Leben. Aus starren Vorstellungen von Lebensmodellen und Nachfragetrends entstehen Raumprogramme, die meist eine geringere Gültigkeit haben als die Lebensdauer der Gebäude selbst. Im Planungsrecht wurde 2017 das »urbane Gebiet« ergänzt, in dem neben Wohnen auch Gewerbe, Handel, Verwaltungen und soziale Nutzungen zulässig sind. Damit kehrt das Planungsrecht zurück zu einem traditionelleren Verständnis, in dem Städte immer ein Nebeneinander, Übereinander und Miteinander von Wohnen, Produktion, Dienstleistung, Handel und Kultur waren. Die produktive Stadt des 21. Jahrhunderts ist eine Chance für die Rückbesinnung auf dieses konstruktive, lebendige Neben- und Miteinander.

Die produktive Stadt stärkt Identifikation und Innovation

Im Idealfall hat die produktive Stadt kurze Wege und damit ökologische, dezentrale Strukturen. Mit steigender Dichte sinkt der Landverbrauch pro Kopf, nicht nur für die Gebäude, sondern auch für Straßen und Infrastruktur. Die Auslastung sozialer Infrastruktur und von Kultureinrichtungen nimmt zu und ermöglicht bessere Angebote. Wenn Waren lokal produziert und gehandelt werden, wird die Stadt wieder zu einem engmaschigen Netzwerk von Wohnen, Arbeiten, sozialem und kulturellem Leben. In den letzten Jahren ist bei den Verbraucher:innen ein größeres Interesse an lokalen, ökologischen und nachhaltigen Produkten entstanden, das mit der Bereitschaft verbunden ist, höhere Preise zu akzeptieren. Dieser Trend entsteht aus einer Identifikation mit den kleinen Industrien. Regionale Produkte sind ein wichtiger Träger der kulturellen Identität der Städte. Städte werden wieder Treiber gesellschaftlicher, politischer, kultureller und ökonomischer Innovationen und Plattformen des Austauschs und der Wertschöpfung.

Die Rückkehr der Produktion in die Stadt

Ansatzpunkt für die produktive Stadt, die das produzierende Gewerbe und die Landwirtschaft wieder integriert, ist beispielsweise die Industrie 4.0 mit ihrer digitalen Vernetzung der Maschinen, hoher Flexibilität der Produktionsanlagen und geringen Grenzkosten. »Fabrication Labs« zeigen, wie eine dezentrale und hochgradig digital gesteuerte Industrieproduktion der Zukunft aussehen könnte: offene Werkstätten, die sich zur

Produktion in kleinen Serien eignen. Der Aufbau einer solchen Industrie 4.0 ist nur anteilig eine planerische Aufgabe. Es müssen übergreifende Konzepte der Wirtschaftsförderung, Bildungspolitik und Stadtplanung entwickelt werden. Im Rückgang des stationären Einzelhandels, der durch den Online-Handel verdrängt wird, liegt eine weitere Chance durch Gebäude, in denen Wohnen und Arbeiten in verschiedenen Anteilen oder Nutzungszyklen gemischt werden mit individuellem und gemeinschaftlichem Wohnen. Die Nähe zur Produktion bietet auch einen neuen Ansatz für den Einzelhandel, wie schon heute Modegeschäfte mit angelagerter Produktion in Berlin zeigen. Solche flexiblen, umnutzbaren Mischformen sind robuster und nachhaltiger im Hinblick auf kurz- und langfristige Änderungen von Bedarf und Lebensstilen.

Ein weiteres Potenzial sind Synergien für Energie- und Stoffkreisläufe. Wohngebäude können als Wärmesenken für das produzierende Gewerbe dienen. Wenn Abwärme genutzt wird, lassen sich ganze angrenzende Wohnquartiere mitversorgen. Gebäude können durch die Integration von Photovoltaik zu kleinen Kraftwerken einer dezentralen Energieversorgung werden. Bei der Engführung der Waren und recycelten Ressourcen kann der Baubereich Pilotprojekte umsetzen. Über regionale Bauteilbörsen ließe sich die gebaute Stadt als Rohstofflager für Baustoffe nutzen, die laufend bei Abriss und Umbaumaßnahmen anfallen.

Raumorganisation und Typologien der produktiven Stadt

Für eine produktive Stadt müssen Konzepte entwickelt werden, die das enge Nebeneinander von unterschiedlichen Nutzungen räumlich und zeitlich organisieren, sodass Konflikte minimiert und Synergien genutzt werden. Umgesetzt wird heute schon beispielsweise die Typologie der Enklave, bei der Fabriken, die die angrenzende Wohnnutzung nicht stören, zentral platziert werden. Weiter geht die Integration, wenn Nutzungen im gleichen Gebäude in vertikaler Schichtung gemischt werden. Eine weitere Differenzierung lässt sich durch die Innen- und Außenkanten städtischer Blöcke einführen, beispielsweise mit geschlossenen Nachbarschaftshöfen, die nach außen zum Straßenraum kommerzielle Nutzungen und nach innen Wohnen anbietet. So entstehen unterschiedliche städtische Räume in einem engen Verbund, der Schutz von privaten und gemeinschaftlichen Räumen erlaubt. Einen interessanten Ansatz bietet die Typologie der »Inside-Out-Blöcke« des Entwurfs von JOTT Architekten für das IBA-Projekt »Produktives Stadtquartier Winnenden« (Beitrag auf tinyurl.com/fkv424d5), der die lärmintensiveren Nutzungen ins Innere von vertikal gemischten Blöcken verlegt. Die Wohnnutzungen in den oberen Etagen hingegen wenden sich nach außen auf öffentliche Grünräume zwischen den Blöcken.

Wege zur Überwindung der Trennung von Nutzungen und Menschen

Wichtiges Handlungsfeld ist die (kommunale) Planungspolitik. Plumpe Deregulierung führt zu Verdrängung und zu kurzfristigen Reaktionen auf die Nachfragetrends. Wenn in der produktiven Stadt auch neue Produktionsformen und Industrien entstehen sollen, dann brauchen diese einen geschützten Raum und kontinuierliche Förderung. Die letzten Jahrzehnte haben eine zunehmende Partikularisierung der Lebenswelten und eine sinkende Toleranz gegenüber anderen Vorstellungen, Lebensentwürfen und Menschen gezeitigt. Gemeinsam in der Stadt zu leben und zu arbeiten ist das Gegenmodell zu dieser Trennung von Nutzungen und Menschen. Wir müssen wieder neu lernen, mit dem Unerwarteten und mit Reibungen umzugehen. Die produktive Stadt ist in jedem Fall ein Experiment. Als solches birgt sie neben Risiken oder der Notwendigkeit des Nachsteuerns vor allem die Chancen einer Kurskorrektur, von der wir alle profitieren.

Exkurs: dgj223 IBA Heidelberg COLLEGIUM ACADEMICUM

Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) Heidelberg entwickelte DGJ Architektur für das »Collegium Academicum« eine innovative, interaktive Wohnform für ein selbstverwaltetes, gemeinschaftliches Studierendenwohnheim mit 176 Wohnplätzen. Die Konstruktion ermöglicht, dass die Innenwände im Selbstbau mit einfachen Mitteln hergestellt und versetzt werden können. So wird das Gebäude zu einem Labor, in dem die Bewohnerschaft den Raumbedarf, die Nutzung und die räumliche Konfiguration der Wohnungen zwischen Individual- und Gemeinschaftsflächen rekonfigurieren und verhandeln kann. Eine Anforderung war außerdem, ein Gebäude zu planen, das perspektivisch zu einem späteren Zeitpunkt für altersgerechtes Wohnen umgebaut werden kann.

Dieser Text ist die gekürzte Version eines Essays, das im Rahmen der Kuratoriumstätigkeit von Hans Drexler für die Internationale Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBA’27) entstand. Vollversion online unter: https://www.iba27.de/hans-drexler-zukunft-der-vergangenheit-die-produktive-stadt


Hans Drexler

1995-97 Architekturstudium an der ETH Zürich, 1998 Diplom. 1997-98 Gaststudium an der Städelschule Frankfurt. 1998-99 Architekturstudium an der Bartlett School of Architecture, University College London. 2020 Promotion an der TU Berlin. 2005-09 Wissenschaftliche Mitarbeit an der TU Darmstadt. 2013-14 Lehrauftrag an der Hochschule RheinMain, Wiesbaden. 2009-14 Professur an der Münster School of Architecture. 2014-17 Verwaltungsprofessur an der Jade Hochschule, Oldenburg. 1999 Gründung des eigenen Büros DGJ Architektur GmbH.

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