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Corona und die Herausforderungen für Architektur und Städtebau

Corona und die Folgen für Architektur und Städtebau
Verpasste Chance

Verpasste Chance
Coronatauglich: der Englische Garten in München, Foto: Ignacio Brosa auf Unsplash
War da etwas gewesen? Mehrfache Lockdowns, Maskenzwang, leere Innenstädte, geschlossene Schulen, strikte Abstandsregelungen und sogar ein Impfzwang für einzelne Berufsgruppen. Die Corona-Pandemie traf Anfang 2020 mit voller Wucht aus China kommend auf das unvorbereitete Europa.

~Jürgen Tietz

Rückblickend muten einige der damals ergriffenen Maßnahmen an wie aus dem Horrorkabinett der Überregulierung – und sind doch schon fast wieder vergessen. Aber Moment mal. Die Corona-Warn-App wurde erst im Juni in den vorläufigen Wartezustand versetzt – bis zum Neustart bei der nächsten Pandemie. Im Wettstreit der globalen Aufmerksamkeit haben Ukraine-Krieg, die ausgerufene »Zeitenwende« und die sprunghafte Inflation Corona aus den Schlagzeilen verdrängt. War es das also mit Corona? Man könnte fast den Eindruck gewinnen. Das ist gut, weil das Virus viel von seinem Schrecken eingebüßt hat, und es ist schlecht, weil die architektonischen und städtebaulichen Herausforderungen, die während der Pandemie auftraten, keineswegs gelöst sind. Zugegeben: Die Krise der Innenstädte, die Frage nach veränderten Arbeitsplatzmodellen zwischen Büro und eigener Wohnung und die Herausforderungen des Klimawandels beim Stadtumbau gab es bereits vor Corona. Doch dies alles hat sich mit der Pandemie wie unter einem Brennglas verschärft. Und bleibt weiter aktuell. Selbst in den A-Lagen vieler Innenstädte dauert der Leerstand der Ladenlokale auch nach Corona an.

Der Einzelhandel ringt gegen den Onlinehandel ums nackte Überleben. Nach wie vor ist die Frage völlig offen, welche Aufgaben die Innenstädte künftig wahrnehmen sollen, wenn nach den Kaufhäusern nun auch die Malls nach und nach sterben. Nicht besser sieht es auf dem Markt der Büroimmobilien aus. Wenn häufiger im Homeoffice gearbeitet wird, braucht es weniger Büros. Für jene Büros, die in den kommenden Jahren neu entstehen, bedeutet das, dass sie durch besondere Qualitäten punkten müssen, vom Standort bis zur Ausstattung. Doch was passiert dann zwischen Leerstand und Umnutzung mit dem Altbestand, der nicht mehr so glänzt? Die Entwicklung auf dem Büromarkt wirkt sich auch auf die Standorte an der urbanen Peripherie aus, wo die Nachfrage sinkt. Daher gilt es, diese Quartiere endlich als städtebauliche Potenzialflächen für alternative Entwicklungen zu begreifen. Wer einen Teil der Woche in der eigenen Wohnung statt im Büro arbeitet, der benötigt zudem andere Wohnungsgrundrisse oder zusätzliche wohnortnahe Raumangebote für das temporäre Arbeiten. Wer sich hingegen lieber ganz auf das Land zurückzieht, um der urbanen Dichte mit ihrem Lärm und ihrer Ansteckungsgefahr auszuweichen, der benötigt neben einer funktionierenden Grundversorgung im Alltag v. a. schnelles Internet. All das ist nichts wirklich Neues. Doch die Corona-Pandemie hat die Dringlichkeit aufgezeigt, einer veränderten Planung Raum zu geben, die sich als krisen- und damit pandemiefester erweist. In der Praxis ist davon bisher wenig angekommen. Stattdessen gilt zumeist »business as usual«. Diese post-pandemische Vergesslichkeit unterscheidet unsere Gegenwart vom früheren Umgang mit Seuchen. Warum sind wir zu träge, um uns vom Städtebau bis zu reformierten Gesundheitslandschaften zügig auf die Herausforderungen der nächsten Pandemie einzustellen, deren Ausbruch in unserer konnektiven globalen Welt nur eine Frage der Zeit ist?

Wer in diesem Jahr noch auf die Architektur-Biennale nach Venedig fährt, der sollte nach einem Besuch im Arsenale und in den Giardini einen Abstecher auf die Giudecca unternehmen und bei Il Redentore vorbeischauen. Das lohnt nicht nur, weil es sich um ein Meisterwerk der Renaissancebaukunst Andrea Palladios handelt. Die Erlöserkirche erinnert auch seit rund 450 Jahren in demütiger Dankbarkeit daran, dass die Serenissima von der Pest erlöst wurde. Natürlich könnte man auch zur Karlskirche nach Wien fahren oder sich dort die Pestsäule Am Graben anschauen. Beides sind Orte, die nach überstandener Seuche gestiftet wurden. Die pandemische Amnesie, der wir anheimgefallen sind, muss ja nicht gleich mit einem Meisterwerk von Andrea Palladio oder Fischer von Erlach beantwortet werden. Aber ein Nachdenken darüber, wie ein angemessenes Erinnern im Umgang mit der Pandemie und ihren weltweit knapp 7 Millionen Toten aussehen könnte, wäre wünschenswert. Nicht nur, um einen Ort der Erinnerungen für die Opfer der Pandemie zu schaffen. Vielmehr gilt es, die vergessliche Gesellschaft an ihre Aufgaben zu erinnern, Lehren aus der Pandemie zu ziehen. Wollte man die richtige Form eines solchen Erinnerungsortes finden, hilft es, daran zu denken, was während der quälenden Tage der Lockdowns die wichtigsten Orte in den Städten waren: jene weitläufigen Parks und Gärten, die die Enge der Städte aufgelockert haben. Diese Grünräume brauchen wir übrigens auch, um die aufgeheizten Städte im Klimawandel widerstandsfähiger zu machen und lebenswert zu halten. Aus der Corona-Pandemie zu lernen eröffnet also gleich mehrere Chancen. Wir müssen sie nur ergreifen.

Der Autor ist Architekturkritiker in Berlin

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