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Verdichtete Abrisse

Verdichtete Abrisse
Verdichtete Abrisse

Verdichtete Abrisse
Foto: Fons Heijnsbroek
Um das Jahr 1650 entstand im Umfeld von Rembrandt das berühmte Gemälde »Der Mann mit dem Goldhelm«. Zur selben Zeit wurde in List auf Sylt ein Bauernhaus errichtet. Unter seinem tief herabgezogenen Reetdach trotzte es jahrhundertelang Wind und Wetter.

~Jürgen Tietz

Heute hängt »Der Mann mit dem Goldhelm« viel bestaunt in der Berliner Gemäldegalerie. Das Sylter Friesenhaus, das die letzten 200 Jahre als Gasthof gedient hatte, wurde am 30. Dezember 2022 einfach weggebaggert. Hätte die Zerstörung dieses Kulturdenkmals ohne aktuell rechtsgültigen Denkmalstatus verhindert werden können, wenn es in Deutschland eine generelle Genehmigungspflicht für Abrisse gäbe? Dass deren Einführung rechtlich möglich wäre, will die umstrittene Deutsche Umwelthilfe in einem aktuellen Gutachten aufzeigen. Doch ist es wirklich sinnvoll, das durch Vorschriften und Gesetze längst überregulierte Bauen in Deutschland weiter zu verkomplizieren? Es zu verteuern, anstatt es endlich zu entschlacken?

Klar ist: In Deutschland wird zu schnell und zu leichtfertig abgerissen. Von der Forderung nach einem Abrissmoratorium bis zur Sorge um den Bestand rücken Altbauten zugleich immer mehr in den Blickwinkel. Das ist gut, aber eigentlich nichts Neues. Ausgezeichnete Beispiele für das Um- und Weiterbauen und die Nutzungskontinuität vorhandener Gebäude sind längst zahlreich vorhanden. Der Sylter Fall erweist sich gleichwohl als besonders krasses Beispiel von Geschichtsvergessenheit. Es gehört schon ein drastisches Maß an Investorenarroganz und Gier dazu, ein solches Gebäude mal eben wegzuhauen. Aber auch die politische Rahmensetzung ist fragwürdig. Bei der letzten Novellierung des Denkmalschutzgesetzes in Schleswig-Holstein (2015) hatte das Reetdachhaus seinen Status als einfaches Baudenkmal verloren. Den Sprung auf die schützende Denkmalliste hatte es seitdem trotz hohen Sylter Engagements (noch) nicht geschafft. Ist es am Ende also politisch gar nicht gewollt, Baukultur und Denkmale umfassend zu schützen? Die Empörung der Sylter über den Abriss ist jedenfalls gewaltig. Zumal gerade in List seit Jahren gebaut wird, als gäbe es kein Morgen mehr. Maßstabssprengend wird dort die sensible Landschaft zugepflastert. Jüngstes Beispiel ist der Lanserhof (Ingenhoven Architects), unter dessen Mega-Reetdach die Umgebung verzwergt. Doch trotz des überhitzten Investitionsklimas, das auf Deutschlands teuerster Insel herrscht, ist Sylt kein Einzelfall. Deshalb gilt es sowohl aus Gründen des Klimaschutzes wie der Baukultur, endlich zu einem Paradigmenwechsel zu gelangen, zu einer neuen Umbaukultur, der die Bundesstiftung Baukultur ihren jüngsten Bericht zur Baukultur gewidmet hat (https://www.bundesstiftung-baukultur.de/publikationen). Abgerissen wird in Deutschland sogar in den besten Umweltschutzkreisen. So hat das Umweltbundesamt in Berlin gerade erst ein Laborgebäude aus den 60er Jahren entsorgt (db 11/2021) – um ein neues Laborgebäude zu errichten.

Sylt und Berlin eint: Die vorhandene Bebauung genügte nicht den jeweiligen Ansprüchen. Auf Sylt mit seinen absurd hohen Immobilienpreisen lässt sich aus dem Grundstück bei dichterer Bebauung eben noch etwas mehr Renditesaft pressen. Aber halt! Ist es nicht genau das, was beim ökologischen Umbau der Städte und Dörfer dauernd propagiert wird? Dichte Quartiere auf Teufel komm raus. Gibt es also eine gute Dichte bei politisch gewollten, innovativen Projekten und eine böse Dichte bei Investorengier am Nordseestrand? Oder muss nicht das Paradigma einer gesteigerten Grundstücksauslastung um jeden Preis endlich kritisch hinterfragt werden? Zumal dabei meist nur öder Standard entsteht. Es gibt in der Bundesrepublik einen erheblichen Bedarf an ebenso nachhaltig wie qualitätvoll gestalteten Wohnungsneubauten. Die von der Bundesregierung propagierten 400 000 jährlichen neuen Wohnungen mitsamt dem Umfeld von Kitas über Schulen und Verwaltungsgebäuden werden erwartbar ein Traumgespinst bleiben. Kein Neubau ist also keine Alternative. Das entlastet aber nicht davon, endlich verantwortlicher mit dem Bestand umzugehen. Städtebaulich wie architektonisch. Selbst ein gesetzlich verankerter Schutz des Bestandes durch eine Abrissgenehmigung hilft weder der Umwelt noch der Baukultur, solange bei der nächsten Sanierung eines Wohngebäudes die 100 Jahre alten Jugendstilfenster mal eben durch Kunststofffenster ersetzt werden; Kunststofffenster, von denen jeder weiß, dass sie niemals 100 Jahre halten werden. Oder wenn der historische Dielenboden entsorgt wird, damit die neuen Wohnungsgrundrisse im Trockenbau erwachsen können. Viel mehr als neue Gesetze und noch mehr Regelungen bedarf es eines gesellschaftlichen Mentalitätswandels. Eines Konsenses, der gar nicht erst auf die Idee kommt, ein historisches Reetdachhaus abzureißen, selbst wenn es die Denkmalpflege verpasst hat, es rechtzeitig unter Schutz zu stellen. Es wird immer einen vermeintlich guten Grund geben, um sich die Welt so zurechtzulegen, dass ein Abriss gerade besser passt als der Erhalt eines Gebäudes. Das gilt für eine angebliche Umweltbehörde in Berlin ebenso wie für einen Investor auf Sylt. Was da hilft? Statt mehr gesetzlicher Regelungen endlich mehr Haltung zu zeigen.

Der Autor ist Architekturkritiker in Berlin.

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