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Urbane Akupunktur und Netzwerke der Stadtlandschaft

Diskurs
Urbane Akupunktur und Netzwerke der Stadtlandschaft

Für die Transformation und Weiterentwicklung der vorhandenen Stadt, die über die funktionale Neubelegung auch die symbolische Neubewertung von Räumen mit einbezieht, werden Strategien entwickelt, die an die Netzwerke der Stadtlandschaft andocken und dem Akupunktur-Modell folgen.

~Elizabeth Sikiaridi, Frans Vogelaar

Der Stadtumbau setzt punktuell im Stadtfeld mit Um- und Anbauten ressourcenschonend und strategisch ein. Bei der Neuprogrammierung von bestehenden Baulichkeiten geht es nicht nur um funktionale Neubelegungen. Die Umnutzung von Räumlichkeiten ist ein Prozess, der über die funktionalen Aspekte hinaus auch die Neukodierung und die symbolische Neubewertung von Raum mit einbezieht.
Als Stadtumbau-Laboratorium wurde 2006 das Museum für Architektur und Ingenieurkunst Nordrhein-Westfalen (M:AI) ins Leben gerufen. »Wohl kein anderes Land hat sich so viel Wissen, Kompetenz und Erfahrung in der Transformation der gebauten Umwelt erworben wie Nordrhein-Westfalen. […] Diesen Wissensspeicher und diesen Kompetenzvorsprung wollen wir nutzen, für die Entwicklung Nordrhein-Westfalens selbst, aber auch für die Regionen weltweit, die diesen Umstrukturierungsprozess noch vor sich haben. Dies wird der inhaltliche Schwerpunkt des Museums sein.«1
Das M:AI soll – ohne eigenes Haus – ein mobiles Netzwerk-Museum sein. Als »Kampagne für gutes Bauen« dockt es sich an vorhandene Institutionen an und unterstützt bzw. entwickelt Projekte. Als erste Handlung hat sich das M:AI die städtischen Museen als Partner gesucht, um für die Architektur der Museen und deren urbane Verankerung Anstöße zu liefern.
Eines dieser Projekte brachte das M:AI mit dem Bau des Museums Bochum in Kontakt; ein Gebäude mit hochwertiger Bausubstanz vom Beginn der achtziger Jahre, entworfen von den dänischen Architekten Jorgen Bo & Vilhelm Wohlert als Anbau zur historizistischen Doppelvilla Marckhoff-Rosenstein aus dem Jahre 1900. Dem M:AI ging es nun um die »Entfaltung einer Museumslandschaft«, was über die räumliche Komponente, die Beziehung der Gebäude mit dem umliegenden Raum, auch inhaltlich-programmatische Aspekte berührte.
Neukodierung und urbane Akupunktur als minimaler Eingriff
In diesem Rahmen entwickelt, schlägt das Projekt »11en hain bochum« für die Entfaltung der Museumslandschaft eine Doppelstrategie vor: eine Umbenennung des Museumsstandortes, die der Entfaltung der Atmosphäre des Ortes dient und eine Akupunktur mithilfe minimaler architektonischer Interventionen, die diese Neukodierung unterstützt. Der Vorschlag greift auf das Projekt der Stadt Bochum zurück, die Unterführungen an den Hochbahntrassen, die die Innenstadt von Bochum umschließen, in der Art der alten Werkstore zu nummerieren und zu beleuchten, um durch die Errichtung von Kunstlichttoren Eingangssituationen für die City zu schaffen. Der Standort des Museums, direkt von der Innenstadt über das »Kunstlichttor11« erschlossen, steht mit seinem grünen Charakter im Kontrast zu der dicht bebauten Struktur der angrenzenden City. Das ist der Ausgangspunkt, um die grüne Oase direkt vor dem Kunstlichttor11 als »11enhain bochum« neu zu interpretieren. Diese Kommunikationsstrategie bereichert den Ort mit einer assoziativen Metapher und bietet nicht nur ein neues Urban Brand für den Standort, sondern auch einen Rahmen für die Corporate Identity des Museums.
Zur Unterstützung dieser Neuinterpretation des Standorts wird eine Akupunktur mithilfe von leichten architektonischen Elementen vorgeschlagen, die neue Zugänge und Perspektiven auf den Standort ermöglichen. Um die Akupunkturpunkte festzulegen, wurden die Mikrotopologien der Museumslandschaft sorgfältig erkundet und die Problembereiche im Außen- und Innenraum gesucht. Der »11en hain« Metapher entsprechend, wurde ein Mikroblick für die kleinen spezifischen Situationen entwickelt. Für die drei Akupunkturpunkte, die sich dabei herauskristallisiert haben, wurden kleinmaßstäbliche Interventionen mit leichten architektonischen »plug-in-Elementen« vorgeschlagen, die das Innen und das Außen der Museumslandschaft verbinden: ein neuer Eingang für die Museumspädagogik durch das Fenster des Altbaus, Bautypologien invertierend, ein Hochsitz als Aussichtspunkt auf den Park als Markierung für das neu entstehende Café und eine Vitrine für den Museumsshop, als Leitelement vom Eingangsfoyer Richtung Altbau.
Diese kleinen Eingriffe, die auch unabhängig voneinander realisiert werden können, ermöglichen eine wahre Gebrauchskunst und sind mit zeichenhaftem Charakter versehen. Somit entsprechen sie der »Theorie des kleinstmöglichen Eingriffs«2, die 1982 durch den Stadtsoziologen Lucius Burckhardt formuliert wurde. Der Umwandlungsthematik folgend, die »11en hain« innewohnt, wurde für die architektonische Formfindung der einzelnen Elemente die Methode der prozessorientierten computergestützten Form-Transformation eingesetzt.
An den Vernetzungspunkten – der Institution Museum mit seinem Umfeld mithilfe der neuen Funktionen Museumspädagogik, Restaurant und Shop und an den Grenzen zwischen Innen und Außen – setzen die Akupunkturen ein. Im Maßstab der Stadtlandschaft des Ruhrgebiets betrachtet, bietet sich das Museum als Knotenpunkt im urbanen Netzwerk, als Akupunkturpunkt an. Die Museumslandschaft als Oase für Stadtnomaden wird in ihrer Anziehungskraft als Pol im Städtenetzwerk Ruhrgebiet verstärkt.
Netzwerke
Diese Betrachtung des Agglomerationsraums als Netzwerk-Stadt legt den Fokus auf den Netzwerk-Charakter der Stadtlandschaft, mit den Verkehrswegen, Wasserwegen und Grünverbindungen, die die urbanen Landschaften überlagern. In der durch Fragmentierung und Perforierung bestimmten Stadtlandschaft des Ruhrgebiets ermöglicht eine solche Annäherung ein operatives Verständnis, um verwebend auf die sich zersplitternde urbane Landschaft einzuwirken.
Das Netzwerk-Paradigma wird auch bei der Beschreibung von zeitgenössischen gesellschaftlichen Phänomenen eingesetzt (siehe das Standardwerk des Stadtsoziologen Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft). Auch folgen aktuelle Institutionen diesem Netzwerk-Modell: »Das M:AI findet sich in den 396 Städten unseres Landes und es wird manifest in einem mobilen System innerhalb eines Netzwerkes all derer, die an der Präsentation von und der Diskussion um Architektur und Ingenieurkunst ein Interesse haben …«.3
Eine sich in Entstehung befindende »Network Science«4 richtet das Augenmerk auf die Netzwerke und ermöglicht wie bei einem Röntgenblick ein Verständnis der Entwicklung und Wirkung von komplexen Systemen in der realen Welt. Die »Network Science« als Weiterentwicklung der Komplexitätstheorie ist auch für das Verständnis des komplexen Systems Stadtlandschaft von Relevanz.
Da die Stadtlandschaft entlang von Wegen, Autobahnen und Bahntrassen, Straßen und Kanälen erfahren wird, sind die Mobilitätsnetzwerke für die Wahrnehmung der Stadtlandschaft bestimmend. Um an den Bildern und (somit auch an den Leitbildern) der urbanen Landschaft mitzuprogrammieren, muss also an diesen Netzwerken angedockt werden.
Netzwerk-Akupunkturen
Die postindustrielle Stadtlandschaft des Ruhrgebiets wird durchzogen von einem komplexen System von Wasserwegen. Diese Kanäle, im Industriezeitalter als Transportwege angelegt, durchschneiden die Rückseite der Stadtlandschaft, die alten verlassenen Industriehäfen und stillgelegten Anlagen. Siebzehn Städte und zwei Kreise im nordöstlichen Ruhrgebiet haben sich zur regionalen Initiative »Fluss Stadt Land« zusammengeschlossen, um dieses dichte zusammenhängende System von Kanälen und Flüssen in eine Freizeitlandschaft aufzuwerten.
Das Projekt »Water Mobili«, für diese regionale Initiative entwickelt, bezieht sich auf dieses Netzwerk von Wasserwegen und schlägt mobile Wassermöbel vor. Es beinhaltet eine Serie von Freizeitlementen, um die Akupunkturpunkte dieser Netzwerklandschaft zu stimulieren und für die Freizeitgesellschaft und Tourismuslandschaft zu öffnen. Modulare Bauelemente werden in Containern transportiert und docken an ausgewählten Stellen der Wasserlandschaft an. Diese mobilen Wassermöblierungen können zu Camping-Plattformen, Bars, Buden, Picknick-Boxen und Kanalschwimmbädern zusammengesetzt werden. Diese kleinen Netzwerkelemente dienen zur Anlagerung von Freizeitnutzungen und zur Aktivierung der post-industriellen Wasserlandschaft des Ruhrgebiets. Sie schwimmen im Wasserwegenetz und injizieren die verlassenen industriellen Landschaften mit Freizeitoptionen. Als mobile Elemente bieten sie immer wieder neue Zielsetzungen für Wanderungen zur Erkundung der Stadtlandschaft. Als eine Akupunktur von Gebrauchselementen überlagern siedie sich monokausal entwickelten Gebiete mit neuen Bedeutungen und Geschichten. Sie sind temporäre Setzungen und respektieren den vorgefundenen Ort.
Die mobilen Akupunkturen dienen der funktionalen Neuprogrammierung und der symbolischen Neubewertung von vorhandenen Räumen.
Literaturhinweise und Quellen: ¹ Oliver Wittke, Minister für Bauen und Verkehr, NRW, in: Museum für Architektur und Ingenieurkunst des Landes NRW: Mobiles Museum – Laboratorium – Kampagne, M:AI, Nr. 1, Gelsenkirchen 2006. ² Lucius Burckhardt, Die Flächen müssen wieder in Besitz genommen werden, in: Die Stadt 29/11, 1982. ³ Der Geschäftsführer Wolfgang Roters im Gespräch mit Nikolaus Kuhnert und Anh-Linh Go, in: Museum für Architektur und Ingenieurkunst des Landes NRW (s. a. a. Ort). 4 Siehe u. a. Albert-László Barabási Linked: The New Science of Networks, Cambridge/Massachusetts 2002.
Prof. Elizabeth Sikiaridi und Prof. Frans Vogelaar sind Gründer von Hybrid Space Lab und Partner von invOFFICE for architecture, urbanism and design. Die Projekte »11enhainbochum«, »Water Mobili«, »Fluss Stadt Land« wurden von ihnen erarbeitet.
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