Man möge doch die beliebte und durch jährlich 60 000 Besucher stark frequentierte Plattform auf Ebene 10 für das Publikum sperren. Das Ansinnen kann man zunächst durchaus nachvollziehen, doch einige Fragen stellen sich dann doch. Der Architekt Richard Rogers hatte das Investorenprojekt »Neo Bankside«, bis zu 24 Geschosse hohe Wohntürme mit Luxusapartments, auf das enge Grundstück gepackt, ohne mit den schematisch baugleichen Türmen auf die komplexen Grundstücksverhältnisse näher einzugehen. Schon gar nicht auf das Museum, dessen Baugenehmigung bereits vorlag. Bei zum Teil nur 7 m Abstand bleiben gegenseitige Einblicke unvermeidlich, zumal die Wohnungen raumhoch komplett verglast sind. Jeder Architekturstudent hätte die Türme nach Süden orientiert. Dann wäre auch die Nähe zum Museum an der Nordseite (knapp 20 m) kein Problem.
Im Februar bekamen die Kläger vom Obersten Gerichtshof überraschend Recht. Kopfschütteln allenthalben, denn die Käufer der mit ihrer »unübertroffenen Lage…neben Warhol, Dalí und Picasso« beworbenen 4-Mio.-Britische-Pfund-Apartments wussten genau, dass sie in die dichteste Innenstadt ziehen und wie im Aquarium wohnen würden, exponiert vor Nachbarn und Museumspublikum. Dass sie nun nachträglich ihre Privatsphäre einklagen und dafür auch noch Recht bekommen, ist schwer erträglich. Das Urteil legt nahe, dass jeder Bauherr das Ambiente rückwirkend vor störenden anderen Menschen und Aktivitäten »säubern« lassen kann. Ein Berufungsgericht entscheidet nun über Konsequenzen. Unsere Empfehlung: Verspiegelte Folien müssten reichen. Sie würden das Budget der Tate Modern nicht sprengen und würden die Ausblicke für die in manchen Wohnungen bereitstehenden Fernrohre nur unwesentlich beeinträchtigen…
Ein bizarrer Einzelfall von der Insel? Nur ein Beispiel für ein auch hierzulande bekanntes gesellschaftliches Phänomen, das Sankt-Florian-Prinzip. Einerseits scheint sich die Gesellschaft weg vom empathischen Miteinander hin zum aggressiven Individualismus zu entwickeln. Damit einher geht die Neigung, Besitzstände zu verteidigen. Beides trifft auf eine Situation im Städtebau, in der es sich als zwingend erwiesen hat, dass wir Wachstum einschränken, Flächenverbrauch minimieren und Nutzungsdichte erhöhen müssen.
So wird es immer schwieriger, unsere Siedlungsstrukturen im notwendigen Maß zu verdichten. Man kann davon ausgehen, dass sich Bürger grundsätzlich gegen neue Nachbarschaften wehren, dass auch die sinnvollsten Projekte der Aufstockung, Innenhofbebauung und Lückenschließung zu Fall gebracht oder zumindest verzögert werden. Baulärm und Dreck sind die häufigsten und empörendsten, weil temporären Argumente gegen notwendige Bauprojekte. Menschen, die in Sozialwohnblocks mit günstiger Miete leben, fühlen sich berechtigt, Aufstockungen von hölzernen Dachgeschossen mit bezahlbaren Wohnungen zu verhindern, die für gleichermaßen bedürftige Mitmenschen dringend benötigt werden. Das Gefühl, sich Rechte »erwohnt« zu haben, berechtigt sie dazu. Es ist auch paradox, wenn passionierte Städter in die Innenstadt ziehen, weil dort »viel los« ist, weil die Infrastruktur aufgrund der Bevölkerungsdichte effektiv und gut ausgebildet, das Freizeit- und Versorgungsangebot auf hohem Niveau ist, und wenn dann dieselben Städter gegen eine Verdichtung ins Feld ziehen, die für ihr geliebtes Milieu überhaupt erst die Voraussetzung schafft.
So hat man sich die Liberalisierung nicht vorgestellt. Es sind nicht nur Infrastrukturprojekte, es ist auch der Wohnungsbau, der durch Einspruchsmöglichkeiten mal mehr, mal weniger direkt Betroffener auf haarsträubende Weise ins Stocken kommt. Es ist kein Begleitaspekt der Gentrifizierung, wie das Londoner Beispiel nahelegt. Denn es gibt Hilfe und kräftig Ansporn aus dem Netz für jedermann. Zahlreiche Websites – keineswegs immer seriös oder von Rechtsanwälten – mit vorformulierten Einwendungen und »Einspruchgenerator« empfehlen und beraten, »wie Sie sich gegen unliebsame Baumaßnahmen zur Wehr setzen können«. Die Einsprüche, auch unbegründete, führen immer zu Planungsverzögerungen.
Besonders beliebt als Projektbremse ist der Naturschutz. Beim umstrittenen Großbauvorhaben Stuttgart 21 haben die Tierschützer die legendäre Fledermausart Kleine Hufeisennase, den Juchtenkäfer und die Zauneidechse ins Feld geführt. Letztere musste mit 4 000 Euro pro Exemplar umgesiedelt werden. Bleibt nur der steinige Weg durch die Institutionen und Parteien: Bewusstseinsbildung für die gesellschaftlichen Zusammenhänge, Regierungsprogramme zur Beschleunigung von Baumaßnahmen, Eindämmung von Auswüchsen und Beschneidung der ins Kraut geschossenen Einspruchsmöglichkeiten auf ein sinnvolles Maß. Bauen ist eine Angelegenheit im öffentlichen, im demokratischen Raum. Bauen in der Demokratie ist ein mühsames Geschäft.
Der Autor lebt und arbeitet als freier Architekturkritiker in Berlin.