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Lorscher Fragmente

Gespräch mit Karl Weber und Peter Sichau
Lorscher Fragmente

Seit 1991 steht das ehemalige Kloster Lorsch mit der berühmten karolingischen »Torhalle« auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes. Auf Grundlage eines 2010 von HG Merz und Topotek 1 gewonnenen Wettbewerbs findet derzeit eine Neuordnung des Geländes statt, die bis 2014 abgeschlossen sein soll. Sie sieht neben der Neuanlage eines frühmittelalterlichen Dorfs auch die Umgestaltung der Klosteranlage selbst vor, sowie die Umnutzung der barocken Zehntscheune. Durch verschiedene Vermittlungsstrategien sollen unterschiedliche Zielgruppen angesprochen werden. Eine besondere Schwierigkeit der Präsentation liegt dabei im Ungleichgewicht zwischen der hohen kulturgeschichtlichen Bedeutung des Orts und der Deutungsoffenheit seiner materiellen Fragmente. Über die künftige Präsentation von Lorsch sprach Jürgen Tietz mit dem Direktor der Staatlichen Schlösser und Gärten in Hessen, Karl Weber, und dem Architekten der Umgestaltung der Zehntscheune, Peter Sichau.

Interview: Jürgen Tietz

Jürgen Tietz: Was macht die Eigenheit der Welterbestätte Lorsch aus?
Karl Weber: Das Kloster Lorsch ist baulich fast nicht mehr vorhanden und das, was übrig ist, ist die bauliche Addition von Fragezeichen. Wir forschen dort sehr viel, doch auf jede Antwort ergeben sich fünf neue Fragen. Das beginnt schon bei der Torhalle. So faszinierend sie ist, keiner kann uns sagen wozu sie eigentlich gedient hat. Jedenfalls nicht als Torhalle. Stellen Sie sich vor, der Kaiser kam nach Lorsch geritten und stieß sich als Erstes den Kopf, wenn er durch die niedrige Halle reiten wollte. Geht nicht. Vom Pferd absteigen? Undenkbar für einen Kaiser. Generell zeichnet sich das Kloster Lorsch durch drei Dimensionen aus: Zunächst durch die berühmte Bibliothek, die als bedeutender Ort des Transfers von Wissen aus der Antike in das Mittelalter fungierte. Deshalb ist es wichtig, die weit verstreuten Buchbestände wenigstens im Internet wieder zusammenzuführen. Das ist uns schon fast gelungen. Die zweite Dimension war das Netzwerk Lorsch. In karolingischer Zeit diente das Kloster als Ort der Organisation des Reichs. Über 1 100 Orte beziehen sich heute in ihrer ersten Erwähnung auf Lorsch. Und die dritte Ebene ist, dass wir spannende Reste von Bauskulptur haben, denn bedeutende Klöster waren stets auch Orte herausragenden Handwerks. Das alles kann ich den Besuchern nur in Form einer Erzählung präsentieren, denn wenn ich die Gegenstände nebeneinanderlege, bleiben sie sprachlos. Erst wenn ich die Dinge mit Worten zum Leben erwecke, entsteht im Kopf des Besuchers ein Bild.
Lorsch gleicht also, um ein Bild aus dem Scriptorium eines Klosters aufzugreifen, einem gleich mehrfach überschriebenen Palimpsest. Das macht die Präsentation nicht unbedingt einfacher.
Peter Sichau: Klassische mediale Informationswerkzeuge der Museumspädagogik wie Text, Film oder Internet etc. bergen per se die Gefahr, das auratische Potenzial eines Orts zu korrumpieren. Dieses Phänomen gilt ganz besonders in Lorsch. Denn gerade an diesem Ort, an dem ich entweder nichts mehr oder nur noch Reste der Klostergeschichte sehe und diese Reste meist verwirrende Fehlinformationen erzeugen, muss ich mich fragen, was das Ziel einer Vermittlungsstrategie sein soll. Die Torhalle als Wahrzeichen Lorschs ist für mich dabei schon fast ein Störfaktor (lacht), weil die so gut und makellos aussieht und in ihrer Vollständigkeit überhaupt nicht zum Rest der Anlage passen will. Bis heute wissen wir ja nicht, in welcher Beziehung dieses Gebäude zu dem dahinter anschließenden Kirchenfragment stand. Fachleute, egal welcher Disziplin, haben unterschiedliche Erklärungen für die Baugeschichte Lorschs entwickelt. Keine davon stimmt in Gänze! Wie soll sich da erst der normale Besucher ohne wissenschaftliche Vorkenntnis orientieren?
Die Suche im Materiellen verstellt also den Blick auf das, was Lorsch wirklich war – nämlich eines der großen geistigen, politischen und kulturellen Zentren der Karolingerzeit, das in seiner monastischen Epoche eine bis heute lesbare Wirkung auf die nord- und mitteleuropäische Geisteslandschaft ausübte. Man muss daher die heutige Präsenz des Orts mit seiner Vielzahl von zusammenhanglosen materiellen Spuren nutzen, um v. a. seine immaterielle Bedeutung zu vermitteln.
Wie sieht das konkret aus? Wie wollen Sie die Disparität zwischen der großen Bedeutung des Orts und seinen fragmentierten Spuren auflösen?
Karl Weber: In den letzten 150 Jahren gab es mehrfach Pläne, das Kloster jeweils im Geiste der Zeit wieder aufzubauen. Das entspricht auch heute wieder sehr stark dem Zeitgeist, wie die Rekonstruktionsprojekte in Berlin, Dresden oder Frankfurt beweisen. Aber genau das wollen wir in Lorsch nicht. Wir haben unterschiedliche Zielgruppen, die nach Lorsch kommen. Sie alle werden ernst genommen und müssen auf ihrer jeweiligen Wissens- und Verhaltensebene abgeholt werden, um ihnen die Bedeutung des Klosters zu vermitteln – mit allem Sichtbaren und eben auch Unsichtbaren. Dafür dient beispielsweise Museumsdorf Lauresham, das gerade im Bau ist und für das HG Merz ein Eingangsgebäude verwirklicht. Es ist wie die »blaue Piste« im Skigebiet: Dort bietet sich ein möglichst einfacher Zugang zur Wissensvermittlung. Der Nachbau des mittelalterlichen Dorfs wird ein experimentelles Labor, das wie ein Handwerkszeug funktioniert, um Wissen an die Besucher zu transportieren. Demgegenüber ist das Museumszentrum neben der Torhalle der klassische Ort, an dem das Wissen entsprechend der üblichen Sehgewohnheiten anhand von Artefakten präsentiert wird. Und das Klostergelände und die Zehntscheune sind die »schwarze Piste«. Dort findet die Vermittlung viel abstrakter statt, im Rahmen von einzelnen Veranstaltungen, die den Besucher über das gesprochene Wort in eine künstlerische Wissenserfahrung einbinden. Aber alle drei Konzepte gehören zusammen! Uns ist dabei bewusst, dass wir in Lorsch nur das Basiswissen der Ereignisgeschichte auf einer sicheren Grundlage vermitteln können. Bei allem, was danach kommt, muss man den Mut haben, immer wieder zu sagen: »Es kann so oder so oder anders gewesen sein. Wir wissen es nicht!« Eine Besuchergruppe kann also mit fünf oder zehn verschiedenen Modellen im Kopf die Zehntscheune in Lorsch wieder verlassen. Unsere Aufgabe ist es, die Geschichte so zu erzählen, dass es in ihren Köpfen zu arbeiten beginnt. Das entspricht überhaupt nicht dem sonst an touristischen Orten praktizierten Vermittlungsmodell. Wenn ich in ein Museum komme, möchte ich dort dieses bestimmte Bild sehen – das geht in Lorsch nicht.
Einer der derzeit üblichen Wege der Vermittlung ist es, dem Besucher einen Audioguide oder eine App an die Hand zu geben.
Peter Sichau: Das ist etwas, das z. B. bei der Dresdner Frauenkirche funktioniert, weil dort die Anscheinsbehauptung »Ich bin ein spätbarockes Bauwerk« im Abgleich des Orts mit der medialen Information auf meinem i-Phone leicht überprüfbar ist. Dies insofern, dass ich zwar ein originales Bauwerk des ausgehenden 20. Jahrhunderts vor mir habe, aber eben kein authentisches. Das, was das Gebäude nämlich behauptet, also ein Zeitzeugnis des Barock zu sein, entlarvt sich mittels der angebotenen Informationen zutreffend als Lüge.
Diese Methode funktioniert in Lorsch jedoch nicht. Hier geht es nämlich exemplarisch um die Vermittlung des Nicht-Sichtbaren. Dazu gibt es keine vermeintlich selbsterklärenden Artefakte, keine eindeutige Anscheinsbehauptung des Physischen, sondern nur noch Spuren unterschiedlicher Herkunft und Überlagerung, die bis heute nicht gedeutet werden können. Allerdings existiert noch die Aura, die im Wesentlichen auch durch die Nichterklärbarkeit des Sichtbaren bedingt ist. Was soll also vermittelt werden, wenn selbst Fachleute rätseln? Was ist der eigentliche Gehalt des Orts und wie muss ein auf unterschiedliche Besucher angepasstes Vermittlungskonzept aussehen? Zumal der Welterbestatus des Klosters per se auch den Auftrag beinhaltet, den verschiedenen Besuchergruppen etwas über diesen komplexen Geschichts-Ort zu vermitteln. Wir haben in Lorsch den großen Vorteil, dass wir hier Informationen je nach »Zielgruppe« auf mehreren Rezeptionsebenen anbieten können, die alle schon da sind: Konsumptiv im Museumsdorf Lauresham, kognitiv im bestehenden Museumszentrum und intuitiv auf dem Klostergelände selbst und in der Zehntscheune. Die Gesamtheit dieser aufeinander abgestimmten Angebote macht die einmalige Besonderheit des Gesamtkonzepts aus.
Welche Rolle kommt der Zehntscheune in diesem Vermittlungskonzept zu, das auf verschiedene Zielgruppen zugeschnitten ist?
Peter Sichau: Unsere Konzeption sieht in Ergänzung der bestehenden Vermittlungsangebote vor, auf dem eigentlichen Klostergelände keine didaktischen Hinweise zu geben, die zu einer intellektuellen Auseinandersetzung mit einer vermeintlichen Information reizen. Der Besucher wird hier also bewusst allein gelassen mit seiner individuellen Vorbildung und Erwartungshaltung. Auf dem Areal geht es daher nicht um Antworten (die es ja nicht gibt), sondern um Fragen. Die Zehntscheune thematisiert in diesem Zusammenhang die Ambivalenz zwischen archäologischen Zeitzeugnissen und deren Nichterklärbarkeit. Sie ist Geschichtsmagazin, Werkstatt, Fundus und Veranstaltungsort – für Besucher nur erlebbar im Rahmen von Veranstaltungen. Hier dient das Überkommene im Fragment als Interpretationsgegenstand einer von vielen Deutungsmöglichkeiten. Die Vermittlung geschieht ähnlich einem Konzert oder einer literarischen Aufführung durch einen »Interpreten«. Dabei ist die Vorlage des Stücks immer die gleiche: Kloster Lorsch. Der Erfolg ist – ähnlich wie im Konzert – abhängig von der Qualität des Interpreten. Aber wohlgemerkt – es geht nicht um Theaterführungen, wie man sie schon aus anderen Museen kennt, sondern um eine Form von Kommunikation bei der – selbst wenn es hochtrabend klingt – die künstlerische Erfahrung des Vermittlungsakts für das Publikum im Vordergrund steht. Das archaische Bedürfnis des Menschen nach diesem Erlebnis ist der Schlüssel zum intuitiven Begreifen der eigentlichen Bedeutung des Klosters!
Worin liegt dabei der Gewinn im Vergleich zur klassischen Führung im Museum?
Peter Sichau: Eine Museumsführung ist ein technischer Akt. Der Museumsführer hat etwas im Kopf, was er erzählen möchte, und das Ziel ist dann erreicht, wenn er sein Wissen intellektuell vermittelt hat. Bei einem Konzert oder Theaterbesuch geht es demgegenüber jedoch nicht darum, dass sie nach der Aufführung wissen, warum sich Romeo und Julia am Ende nicht gekriegt haben. Vielmehr steht hier die künstlerische Wissenserfahrung im Vordergrund, nicht die bloße Wissensvermittlung. Es geht also darum, ein kleines römisches »opus sectile«-Mosaik aus dem Boden des Lorscher Klosterkreuzgangs zum Leben zu erwecken, um damit eine mögliche Geschichte zu erzählen, die den Geist des Orts in diesem Fragment wiederbelebt. Das hat nichts mehr mit Museumspädagogik zu tun, sondern tradiert die kulturelle Qualität in einer neuen künstlerischen Form.
Karl Weber: Neben die Aura des Orts in Lorsch werden wir in der Zehntscheune die Aura der Vermittlung stellen. Das ist die Aufgabe, die wir hier zu lösen haben.
Herr Weber, Herr Sichau, vielen Dank für Ihr Kommen und für das Gespräch.
  • Das Interview führte Jürgen Tietz am 9. November 2012 in der Hessischen Landesvertretung in Berlin. Der Autor studierte Kunstgeschichte und arbeitet als Architekturkritiker und Buchautor in Berlin.
  • Karl Weber, Jahrgang 1952, studierte Architektur und Kunstgeschichte. Er war zunächst Referatsleiter bei der Hamburger Kulturbehörde, dann Ministerialrat für Museen, Bildende Kunst, Stiftungen im Hessischen Wissenschaftsministerium. Seit 2003 ist er Direktor der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen.
  • Peter Sichau, Jahrgang 1960, studierte Architektur, Stadtplanung, Philosophie, Germanistik und Soziologie. Seit 1989 führt er gemeinsam mit Hartmut Walter ein Büro in Fulda, das sich primär mit komplexen Bauaufgaben im Bestand beschäftigt.
»Unsere Aufgabe ist es, die Geschichte so zu erzählen, dass es in den Köpfen der Besucher zu arbeiten beginnt.«
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