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Zeitenwende ungemütlich

Zeitenwende ungemütlich
Zeitenwende ungemütlich

Zeitenwende ungemütlich
Beispielbild Sozialer Wohnungsbau Foto: Nils Schubert
Die ungewöhnlich warmen Herbsttage erinnern uns daran, dass Dürren, Brände, Stürme und Überschwemmungen in Südeuropa und Nordafrika wohl auch mit dem Klimawandel zusammenhängen.

~Andreas Hofer

Die Corona-Pandemie, ein Krieg in Europa und weitere Konflikte, die Flüchtlingsströme auslösen, haben in den letzten Jahren unser gesellschaftliches System strapaziert. Vor diesem Hintergrund wirken die Entwicklungen auf dem Immobilienmarkt besonders bedrohlich. Für die Besitzenden kommt die Energiewende im eigenen Heizungskeller an und für die Wohnungssuchenden schwinden die Hoffnungen, eine passende Bleibe zu finden. Seit die damalige Justizministerin Katarina Barley 2018 das Thema Wohnen als die soziale Frage des 21. Jahrhunderts bezeichnete, hat sich die Lage weiter verschlimmert.

Das Architekturbüro Zanderroth stellte diesen Sommer in der Architekturgalerie Berlin eindrücklich dar, dass Deutschland im Durchschnitt alle sechs Minuten eine Sozialwohnung verliert und der Bestand seit 1987 von vier Millionen auf eine Million Wohnungen geschrumpft ist. Und jetzt droht der Wohnungsbau als Ganzes zum Erliegen zu kommen. Laut dem Statistischen Bundesamt sank im Juli die Zahl der Baugenehmigungen für Wohnungen gegenüber dem Vorjahresmonat um über 30 Prozent. Die großen Wohnungsbauziele schmelzen dahin und der Politik scheinen Antworten zu fehlen.
40 Prozent Bauteuerung in den letzten zehn Jahren und eine Vervierfachung der Finanzierungskosten binnen Jahresfrist lassen uns in einer neuen Immobilienwelt aufwachen. Die Aussichten sind sowohl bei den Kosten als auch bei der Verfügbarkeit von Material und Fachkräften unsicher.

Was wir jetzt schmerzhaft erleben, hat eine lange Geschichte. Deren Lehre ist, dass sich Wohnungsbestände in Zyklen entwickeln, die sich nicht mit kurzfristigem wirtschaftlichem Denken und dem Rhythmus von politischen Legislaturen vertragen. Beginnen wir der Einfachheit halber bei der Wiederaufbauzeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Herausforderung wurde mit massiven staatlichen Eingriffen in das Mietrecht und enormen Investitionen in den Wohnungsneubau bewältigt, die in den Großsiedlungen der 60er und 70er Jahre gipfelten. Dies führte zu einer breiten Versorgung der Bevölkerung mit preiswerten Mietwohnungen, einem ausgebauten staatlichen Sozialwohnungssystem und undurchsichtigen Wohnungsbaukonzernen, deren Flaggschiff – die gewerkschaftseigene Neue Heimat – 1986 in einem Skandalsumpf unterging. 1990 schaffte die Bundesregierung die Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau ab. Nach der Wiedervereinigung stellte sich vor allem in Ostdeutschland die Frage, wie mit zu viel Wohnraum umgegangen werden soll. Diese Frage schwappte, befördert durch negative Bevölkerungsprognosen, in die Vorstädte des Westens und führte in einem wirtschaftsliberalen Umfeld zu einer Privatisierung kommunaler und genossenschaftlicher Bestände im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends. Der Zusammenbruch eigentumsorientierter Immobilienmärkte in den USA, Irland und Spanien im Jahr 2008 löste dann die Krise aus, die ein Jahrzehnt massiver staatlicher Intervention an den Finanzmärkten nach sich zog. Geld kostete nichts, fossile Ressourcen waren billig, Klimawandel ein grünes Gespenst. Vielleicht sind jetzt neben den ökologischen auch die ökonomischen planetaren Grenzen erreicht. Dann brauchen wir, um die Transformation in eine postfossile Gesellschaft zu stemmen, eine neue Sparsamkeit. Leider bedeutet Sparsamkeit in einer sozial gestuften Gesellschaft Armut für die unteren Schichten. Die berechtigte Angst vor dem Abstieg ist denn auch einer der größten Treiber der politischen Verwerfungen und populistischen Erfolge. Das Wohnen als existenzielles Bedürfnis und größtes Armutsrisiko spielt dabei eine zentrale Rolle.

Deshalb ist das Rezept »Bauen, bauen, bauen« sowohl unrealistisch als auch falsch. Die noch vorhandenen Mittel bedingen einen klugen Plan, der soziale Härten abmildert und nur da investiert, wo der ökologische Nutzen am größten ist. Neubauten lassen sich nur rechtfertigen, wenn sie umliegende Bestände in die Zukunft führen. Dies kann »Geschwisterlichkeit« in Energienetzen heißen, wie sie Werner Sobek vorgeschlagen hat, v. a. aber soziale Stabilität. Heißt: Adaption an den demografischen Wandel und resiliente Strukturen, die die Grenzen zwischen Arbeit und Wohnen verwischen, die langen Wege der autogerechten Stadt verkürzen und neue Zentralitäten schaffen.

Es fehlen barrierefreie Wohnungen und neue Wohnformen für die vielen Kleinhaushalte einer älter werdenden Gesellschaft, um den Wohnflächenverbrauch wieder auf ein vernünftiges Maß zu senken. An den Knoten des öffentlichen Verkehrs gibt es enorme Verdichtungspotenziale, die als gemischte Nachbarschaften, mit Co-Working-Flächen und Infrastruktur viele Wege überflüssig machen würden – eine Voraussetzung für weniger Individualverkehr. Und in den Gewerbegebieten mit ihren enormen Defiziten und räumlichen Reserven können attraktive Quartiere für eine produktive Wissensgesellschaft entstehen. Nachdem die Moderne für ihre Utopien einen Abriss des Bestehenden verlangte, bauen wir die Stadt der Zukunft als sanfte Reparatur des modernen Erbes und mit seinem Material.

Andreas Hofer ist Intendant und Geschäftsführer der Internationalen Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart GmbH

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