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Neue Urbanität: traumhaft oder traumatisch?

Diskurs
Neue Urbanität: traumhaft oder traumatisch?

Unsere Ansprüche an den urbanen Raum waren noch nie so groß und so vielfältig wie heute. Wir betrachten die Innenstädte nicht mehr

~Wolfgang Kaschuba

als eher öde Arbeits-, Verkehrs- und Verwaltungszentren, sondern denken sie zunehmend auch als Wohn- und Freizeitwelten und gestalten sie zu attraktiven Lebensräumen um. Wir suchen hier Entspannung, Erholung und Erlebnis, und selbst Kindsein und Familienleben scheinen in der City wieder denkbar und lebbar. Damit wandeln sich Bild und Geist unserer Städte rasant. Jenes traditionelle und »harte« fordistische Ethos von städtischer Arbeit und Hektik weicht vielfach einer neuen und eher »weichen«, hedonistischen Mentalität von Erleben und Erkunden. Dieser Paradigmenwechsel bedeutet tatsächlich eine urbane »Kulturrevolution«.
Genau dies ist aber auch das Problem. Wir alle drängeln uns, gelockt von Urbanität und Kultur, in der Mitte, genießen dort Stadttheater und Strandcafé, Konzert und Party, Thai Cooking und Tai Chi. Und wundern uns dann darüber, dass wir bei unserem Vergnügen – oder: Chill out? – von anderen bedrängt und gestört werden, die dasselbe genießen und erleben wollen – oder eben etwas ganz anderes. Die soziale und kulturelle Vielfalt der Stadt meint insofern Differenz und häufig Konflikt. Denn die einen suchen Party und laute Musik, die für die anderen nur Chaos und Lärm bedeuten. Die einen wollen mit ihren politischen Forderungen vors Rathaus, wo die andern gerade ihre Autos parken wollen. Und was die einen öffentlich tun – Bier trinken, barfuß gehen oder am Stadtstrand liegen –, wollen die anderen in den privaten Raum verbannt sehen. Deshalb wird die Stadtmitte zur kulturellen Kampfzone: Weil es in diesen kleinen Kontroversen und großen Konflikten um Räume und Bühnen geht, um Zeiten und Orte, um Stile und Symboliken, also um soziale Gruppen, lokale Ordnungen und kulturelle Repräsentationen. Und was so exemplarisch in der City oder der Altstadt ausgetragen wird, gilt für die gesamte Stadt. Es geht um die Frage, wer wo agieren darf, wer sich wo und wie präsentieren darf – letztlich um die Grundfrage: »Wem gehört die Stadt?«
Es ist das Ergebnis einer intensiven »Kulturalisierung« der Innenstädte in den letzten Jahrzehnten. Noch in den 60er Jahren waren die Klagen über verödete Innenstädte als gesellschaftliche und kulturelle Friedhöfe laut. 1971 forderte der Deutsche Städtetag: »Rettet unsere Städte – jetzt!«, und 1976 erfand New York sein T-Shirt »I love New York« als Hilferuf einer damals an den Folgen von Industrie, Beton, Verkehr und Kriminalität sterbenden Stadt. Ziviler Druck von unten und politische Programme von oben versuchten seither umzuschalten. Und so haben Musik- und Literaturfestivals, Museen und Ausstellungen, Galerien und Straßencafés, Stadtstrände und Partylocations den urbanen Raum für unterschiedliche Gruppen, Interessen und Praxen neu erschlossen. Und sie haben damit inzwischen einst nur funktionale Stadtzentren in kulturelle Misch- und Kontaktzonen umgewandelt, in offene urbane Räume, in denen sich die verschiedenen sozialen Milieus, Generationen, Geschlechter und Kulturstile (wieder) begegnen.
Diese wachsende Heterogenität der Interessen und Akteure jedoch lässt sich bei gleichzeitiger Vervielfachung der Anlässe und Verdichtung der Veranstaltungen immer schwerer verhandeln. Allewollen möglichst alles überall betreten, betrachten, bereden und bespielen dürfen: Und dann soll sich dieser Raum auch möglichst noch unseren biografischen Veränderungen anpassen: lebendig und laut sein, solange wir jung sind, sicher und ruhiger, wenn wir älter werden. Angesichts solch sozialer Überdehnungen und kultureller Überfrachtungen stoßen sich die Neugierden wie die Neurosen städtischer Öffentlichkeiten immer häufiger im Raum – und entsprechende kommunale wie zivile Verhandlungsversuche allmählich an ihre Grenzen.
Allerdings stellen wir bei genauerem Hinsehen oft fest, dass es gar nicht immer nur »die Anderen« sind, also die Touristen und das Partyvolk, die diese neue Stadtkultur prägen und nutzen. Auch wir selbst bedienen uns oft genug dieser neuen Angebote, spielen zunehmend Touristen in der eigenen Stadt, wenn wir Straßencafés, Musikfeste oder Kunstaktionen frequentieren. So helfen die schematischen Frontbildungen zwischen angeblichen Tätern und Opfern, zwischen Fremden und Einheimischen, zwischen »Denen« und »Uns« nicht weiter. Vielmehr muss noch mehr zugehört, ausgetauscht und verhandelt werden, damit in solchen zivilgesellschaftlichen Prozessen Auswege gesucht und Kompromisse gefunden werden.
Patentrezepte dafür gibt es keine. Doch empfiehlt es sich unbedingt, bei der Frage, ob die neue Urbanität nun »traumhaft« oder »traumatisch« ist, auch immer die Alternative mit zu bedenken: das Bild nämlich einer Altstadt oder Stadtmitte, die als touristisches »Gerontotop« oder als altdeutsche »Nachtwächter-Stadt« daherkommt. Und das muss wirklich nicht wieder sein.
Der Autor ist Kulturwissenschaftler und Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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