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Die gute Form trügt

Diskurs
Die gute Form trügt

Das Bahnprojekt »Stuttgart 21« bringt städtebaulich eigentlich eine sogenannte Jahrhundert-Chance mit sich: Auf ehemaligen Gleisflächen können mitten in der Stadt neue Quartiere entstehen. Das Areal »A1« in unmittelbarer Nähe zu Bahnhof und Stadtzentrum ist schon seit geraumer Zeit freigeräumt – hier soll der erste Teil des im Vorfeld so oft beschworenen neuen, lebendigen Stadtteils entstehen. Es geht jedoch nur schleppend voran, und die gut gemeinte Planung scheiterte bislang an der Profit-Orientierung der Verantwortlichen bei Bahn und Stadt.

~Christian Holl

»A1« – kein charmanter Titel für ein Quartier, von dem es schon 1997 im Rahmenplan hieß, es eigne sich »als urbaner, zentraler, bahnhofsnaher und durch Stadtbahnen gut erschlossener Citystandort.« Vermarktet wird das Areal schon seit einiger Zeit unter dem klingenden Namen »Europaviertel«. Und der Name ist Programm: Der Stadtgrundriss entspreche, so in einer Veröffentlichung, die für Stuttgart 21 wirbt, dem »Leitbild der europäischen Stadt«. Europäische Stadt – ein Begriff, der von denen, die ihn verwenden, selten so präzisiert wird, dass man weiß, wie sie ihn verstehen. In Stuttgart ist vermutlich das gemeint, was letztlich den Ausschlag dafür gab, den Rahmen- und den Bebauungsplan nach einem Entwurf von Trojan, Trojan und Neu zu gestalten und zu verabschieden. Der Entwurf des Darmstädter Büros, so die Kritikerin Amber Sayah seinerzeit, böte in großen Teilen »jenes solide, aus der vorhandenen Morphologie der Gebäudehöhen und Straßenräume entwickelte Grundgerüst, in das die Stadt peu à peu hineinwachsen könnte«. In einem Begleitbuch zur Dauerausstellung im Bahnhofsturm heißt es zu diesem Teilgebiet: »Das ausgewogene Nutzungskonzept ermöglicht eine attraktive und lebendige Innenstadt.« Soweit also die Hoffnungen, die geweckt wurden, die Darstellungen, die öffentlich gepflegt werden. Doch von dem, was man sich und anderen davon versprochen hatte, ist bislang nichts zu sehen.
Problem 1: Der Zugang
Nun, 13 Jahre nach der Verabschiedung des Rahmenplans und sechseinhalb Jahre nachdem der Bebauungsplan für das Europaviertel in Kraft gesetzt wurde, darf man fragen, wie die Stadt in das bereitgestellte Grundgerüst hineingewachsen ist. 16 ha ist das Gebiet groß, 465 000 m² Geschossfläche sollen hier insgesamt entstehen – das entspricht einem Dichtewert von fast 3, bezogen auf das Gesamtgebiet einschließlich seiner Freiräume. Dort wo bereits gebaut wurde, ist es tatsächlich schon sehr dicht – von einer gemischt genutzten Stadt ist allerdings nichts zu sehen.
Gebaut wurden bislang nur Büros. Vier Gebäude der Landesbank und ein weiteres einer ihrer Töchter rahmen den Zugang zum Quartier. Dieser führt vom (Park-)Platz vor dem Hauptbahnhof aus zwischen den Gebäuden des bereits Mitte der 90er Jahre fertiggestellten Landesbank-Kolosses hindurch. Bis heute wirkt dieser Zugang eher wie die Erschließung eines Betriebsgeländes – de facto ist er das ja auch. Dass der Fußgänger auch von Norden her auf das Gelände gelangen kann, spielt keine Rolle, denn weder besteht ein direkter Zugang von der nahe gelegenen Straßenbahnhaltestelle, noch ist die Gehwegverbindung attraktiv – sie verbindet keine für Stadtbewohner wichtigen Ziele miteinander und liegt zudem an der viel befahrenen Stadtautobahn Heilbronner Straße. Wer hier Fußgänger trifft, vermutet verirrte Passanten. Die in den Plänen suggerierte Kontinuität zur Stadt auf der anderen Seite der Straße scheitert an der Realität von sechs dicht befahrenen Spuren.
Problem 2: Die Nutzung
Da hilft bislang auch nicht, dass man der Gestaltung des öffentlichen Raums große Bedeutung zumisst: Von Boris Podrecca stammt der Entwurf für den Pariser Platz, auch er entfaltet wenig Charme; zu zugig, offen und beziehungslos ist das Ambiente bislang. Spätestens nach Feierabend ist hier nichts mehr los. Man erhofft sich eine Änderung, sobald die Stadtbücherei Mitte 2011 eröffnet sein wird. Der Kubus von sprödem Charme (Architekt: Eun Young Yi, Köln) wird wahrscheinlich zunächst ein Solitär in der Brachfläche bleiben. Denn Aussagen darüber, wann die geplanten Nachbarbebauungen fertiggestellt sein werden, haben kurze Halbwertszeiten. Viele der bislang kolportierten Termine sind bereits verstrichen oder schon absehbar nicht mehr einzuhalten, denn mit dem Bau begonnen wurde noch in keinem Fall. Entstehen sollen zwei weitere Bürogebäude. Das eine auf einer Grundfläche von 4 200 m² soll Europa-Plaza heißen (Entwurf: JSWD, Köln); hier sollen die Erdgeschosszonen im Gegensatz zum bisherigen Bestand tatsächlich Läden und Gastronomie vorbehalten bleiben. Das andere, die LBBW-Immobilien-Firmenzentrale (Entwurf: KSV Architekten, Berlin), hat 44 000 m² Bruttogeschossfläche, neben Büros sollen hier 6 200 m² dem Wohnen dienen. Dafür, dass beide Gebäude auf Grundstücken liegen, für die in einer offiziellen Veröffentlichung 2005 der Schwerpunkt Wohnnutzung versprochen wurde, ist das erbärmlich wenig. Die Versprechen von 2005 werden allenfalls die »Pariser Höfe« einlösen, hier soll der Wohnanteil 75 % betragen. Das Gelände dafür ist 7 500 m² groß, geplant wird der Bau von den Büros Meier Neuberger sowie KSP Engel und Zimmermann. Zu befürchten sind Firmen- oder Zweitwohnungen oder Nutzer von teuren Wohnungen, die zur Belebung des Viertels wenig beitragen werden. Wie dem auch sei, von dem einmal in Aussicht gestellten, aber nie verbindlich festgelegten Wohnflächenanteil von 20 % ist man so oder so weit entfernt.
Problem 3: Widersprüchliche Interessen
Das Dilemma der bisherigen Planung zeigt sich an der Nordostecke des Quartiers. Hier sollte in diesem Jahr mit dem Bau eines Hotelturms begonnen werden (Entwurf: Grüntuch und Ernst, Berlin). Doch die Umsetzung verzögert sich, weil sie der Tiefgarage wegen an die Bebauung der Nachbargrundstücke gekoppelt ist. 1998 wurde entschieden, hier ein großes Einzelhandelszentrum zu errichten. Inzwischen hat es sich die Stadt aber anders überlegt; angesichts weiterer, neu projektierter Einzelhandelsflächen in der Innenstadt teilen Gemeinderat und Baubürgermeister die Ansicht, 47 500 (!) m² Verkaufsfläche seien zu viel, der zu erwartende Verkehrszuwachs niemandem zumutbar. Nach wie vor gibt es Interessenten für eine »Mall« mit über 25 000 m² – wie es nun weitergeht, bleibt aber zunächst offen. Der Bebauungsplan kann erst im Oktober dieses Jahres geändert werden, will die Stadt keine Regressforderungen riskieren.
Ein lebendiges Stadtquartier ist hinter dem Bahnhof also nicht zu besichtigen, und daran wird sich auch auf absehbare Zeit nichts ändern. Das liegt nicht allein an der fehlenden Nutzungsmischung. Vermarkter der Grundstücke ist, anders als bei den anderen Flächen, die Bahn, die zunächst das eigene, in diesem Fall das finanzielle Interesse in den Vordergrund stellt. Stadt und Bahn sind im Gesamtprojekt zu einer Schicksalsgemeinschaft verbunden und so hat die Stadt wenig Möglichkeiten, die Bahn zu etwas zu zwingen, was die Verkaufserlöse unter die einstmals für das Projekt kalkulierten Werte drücken würde.
Die Konsequenz: Die Gebäude sind teilweise baublockgroß, eine Parzellierung, die dem »Leitbild der europäischen Stadt« entsprechen könnte, erfolgte nie, der Anteil der Wohnnutzung ist verhandelbar. Den Maßstab geben die bereits errichteten Häuser vor. Sie haben eine Geschossfläche von zusammen 85 000 m², das sind 17 000 je Gebäude. Da mag die Architektur noch so sorgfältig geplant sein, noch so ansehnlich wirken, an den großen Einheiten, an der unglücklichen und alles andere als ausgewogenen Nutzungsstruktur ändert sie nichts. Statt vom Leitbild einer europäischen Stadt zu sprechen, muss man ein Scheitern konstatieren. Dieses Scheitern tritt gerade deshalb so deutlich hervor, weil man so sehr bemüht ist, sich wenigstens der Form nach an traditionellen Stadtbildern zu orientieren. Dieses Quartier erzählt von der Unmöglichkeit, das dem Gesamtprojekt geschuldete wirtschaftliche Interesse mit dem Wunsch nach einem lebendigen Stadtteil zu verbinden. Hier wächst kein Stück Stadt, in dem sich Unvorhergesehenes ereignet, keines für den urbanen Menschen, der sich unter Fremdem und Fremden wohlfühlt, kein Quartier, das Ausdruck und Ort einer »liberalen Gesellschaft ökonomisch selbstständiger, politisch gleicher und zivilisierter Individuen« (Walter Siebel) sein könnte. Die gute städtebauliche Form allein reicht eben nicht. In diesem Fall scheint sie eher den Blick auf das zu trüben, was hier tatsächlich geschieht und was mit der »europäischen Stadt« herzlich wenig zu tun hat. •
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