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Das Dach der Architekten

Dachgeschossausbau in Wien
Das Dach der Architekten

Die Struktur aus Aluminium und Glas beschreiben die Architekten als »Umsetzung der unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Bewohnern und Umfeld«. Die mehrschichtige Hülle, die den Außenraum in die Wohnung zu saugen scheint, setzt auf Tiefenwirkung und Lichteinfall. Schräg verlaufende Brüstungen und eine schwebende Gaube thematisieren die Wechselwirkung von Intimität und Öffentlichkeit. The architects describe the aluminium and glass structure as “a realization of the different pace between inhabitants and environment“. The multi-layered envelope, which seems to draw the external space into the interior, uses the effects of depth and incidence of light. Oblique spandrels and a hovering dormer highlight the interaction of private and public facets.

Text: Jürgen Eicher Fotos: Rupert Steiner

Der Mittersteig, eine Straße in Wiens 5. Gemeindebezirk, ist nicht gerade das, was Touristen anzieht. Sollte sich aber dennoch einer hierhin verirren (und in letzter Zeit sind es zumindest einige der so genannten Architekturtouristen), dann können sie dort, wo sich die Straße zu einem Platz ausweitet und ein riesiger Ahornbaum den Stadtraum füllt, auf einem Bürohaus der 60er Jahre ein ungewöhnliches Wesen entdecken. Einem Flugobjekt gleich hat sich hier der Dachaufbau der Architekten Delugan_Meissl niedergelassen. Nicht irgendein Dachaufbau, sondern ihr ganz persönliches Wohnhaus, benannt nach der Tochter der Architekten, die mit zweitem Vornamen Ray heißt. Lange haben die Delugans »ihren« Dachboden gesucht. Geplant war ein klassischer Ausbau. Wie es aber der Zufall wollte, wurden sie lange nicht fündig, um schließlich bei dem anzukommen, was sie jahrelang von ihrem Büro auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus hatten sehen können: eine leere Dachfläche, ein Flachdach wie eine Zahnlücke zwischen zwei Feuermauern. Auf dieser entstanden 230 luxuriöse Quadratmeter Wohnfläche, individuell zugeschnitten, geplant bis ins sprichwörtlich kleinste Detail. Hier manifestiert sich die Arbeits- und Lebensphilosophie der Architekten, hier materialisiert sich eine Berufseinstellung ohne Kompromisse, hier kann man pure Architektur erleben.
Von außen präsentiert sich der Dachaufbau als überdimensionale Skulptur. Von der Straße nimmt man zum einen einen lang gestreckten, schnittig wirkenden Balken war, der sich über die Breitseite des Bürogebäudes schiebt und die Geschwindigkeit der Straße aufnimmt. Er dient als Sichtschutz für die dahinter liegenden Räume und mutiert im Bereich der Terrasse zusätzlich zur Absturzsicherung. Der Balken fasst zudem die Gebäudekante, definiert die Traufe und nimmt die Dachschräge der Nachbargebäude auf. Zum anderen ragt eine Gaube mutig in den Stadtraum. Keine Gaube mit Fenster, wie man es gewohnt ist, vielmehr eine Alubox, abgeschottet und deutlich zeigend, dass sich in ihr ein intimer Raum befindet: der Sitz- und Leseplatz der Architekten, ein Raum zur Einkehr nach außen aus der Hülle gestülpt. Zudem kragt im Hof eine metallene Kiste sechs Meter über die Hauskante hinaus; der Wohnungseingang als ein inszenierter Weg in luftiger Höhe. Alles befindet sich innerhalb der strengen Wiener Bauordnung, diese ist aber elegant und geschickt ausgenutzt. Ein Beleg dafür, dass Bauvorschriften nicht immer hinderlich sind, sondern auch eine kreative Herausforderung darstellen können.
Weit gespannt Konstruktiv war das Vorhaben natürlich eine besondere Kraftanstrengung. Da die bestehende Dachfläche nicht punktuell belastet werden konnte, mussten alle neuen Lasten mittels einer ungefähr 52 Tonnen schweren und bis zu anderthalb Meter hohen Fachwerkkonstruktion aus Stahl in die beiden seitlichen Feuermauern abgeleitet werden. Die Hauptträger liegen im Bodenbereich, die unterschiedlichen Konstruktionshöhen spiegeln sich in den unterschiedlichen Raumhöhen wider. Aber auch unter der Hülle verbirgt sich eine tragende Stahlkonstruktion, so dass der ganze Dachaufbau ein autarkes statisches System bildet. Theoretisch könnte man ihn als Ganzes auch auf ein anderes Gebäude transferieren.
Es gibt keine Außenwände, keine einheitliche Dachform, bis auf eine einzige Stütze im Inneren, keine sichtbaren tragenden Elemente. Über das Stahlskelett spannt sich eine Haut aus Alucobond, die gleichzeitig Decke und Wand ist, die auch von außen nach innen dringt, die Grenzen verschwimmen lässt.
Weit gefasst Beim Betreten der Privaträume verschlägt es einem den Atem. Über eine Rampe erreicht man durch die Auskragung zum Hof hin die Wohnung, links davon Verglasung bis zum Boden, rechts Einbauschränke, deren Türen sich auffalten wie Kiemen eines Fischs und damit Türgriffe überflüssig machen. Dann, einmal ums Eck: der Blick in den zentralen Wohnraum. Rechts senkt sich eine Küchenzeile von der Decke herab, verläuft dann waagerecht, um schließlich schräg im Boden zu verschwinden. Links die Terrasse mit dem erwähnten Balken. Die raumhohe Verglasung vor der Terrasse öffnet den Raum bis zum Balken und über diesen hinaus. Seine schräge Lage ermöglicht Ausblicke, schützt den Wohnbereich aber gleichzeitig auch vor Einblicken aus den gegenüberliegenden Gebäuden. Zwischen Küche und Terrasse führt eine Rampe zu einer überdimensionalen lederbespannten Liegefläche. Da diese wiederum auf einer tragenden Glaskonstruktion aufsitzt, ergeben sich am Abend spektakuläre Lichteffekte zwischen Innen und Außen. Das ist nur eines der raffinierten Details. Ein anderes ist das hofseitige Wasserbecken, das eine Brüstung ersetzt und einen ungestörten Blick über Wien und im Sommer herrliche Abkühlung ermöglicht.
Auch wenn die Funktionen relativ streng voneinander getrennt sind, fließen die Räume ineinander, verschmelzen Wand und Decke zu einer einzigen schützenden Hülle. Und trotz des Loft-Charakters gibt es abgeschlossene Räume. Neben dem WC mit individueller »Wandbemalung« sind dies das Kinderzimmer mit Hochbett und integriertem Bad und das Schlafzimmer. Hier wächst das Bett förmlich aus der niedrigen Brüstung heraus und schwebt über dem Boden. Seine Ausrichtung mit den Füßen zum Fenster bietet beim Aufwachen einen grandiosen Ausblick. Und Einblick natürlich. Diesen aber scheinen die Architekten in Kauf zu nehmen. Hier wird die Intimität offen nach außen getragen, auch wenn es Jalousien und kein direktes Gegenüber gibt. Neben dem Bett falten sich aus der Gebäudehülle Badewanne und Waschbecken. Alles Teil einer groben Skulptur, keine Fugen, keine Nahtstellen, alles wie aus einem Guss, wie mit einer Haut überzogen, die alles erst materialisiert und zugleich schwerelos macht. Jedes Detail ist überlegt, nichts dem Zufall überlassen. Überall lassen sich Laden herausziehen, Schalter für die ausgeklügelte Technik bedienen, Ablageflächen verschieben oder Stauraum öffnen. Nichts liegt herum, nichts stört das Auge. Die Materialien (Holz und Corian) scheinen miteinander zu verschmelzen, alles ist weiß gestrichen oder lackiert, der geölte Holzboden gibt dem Ganzen eine dunkle Basis.
Einen solchen Entwurf umzusetzen, war sicher für alle Beteiligten eine Herausforderung. Nach einer detailbesessenen Planung war eine detailgenaue Umsetzung notwendig. Und sie ist gelungen. Aber das Eindrucksvollste ist, dass sich daraus ein Haus mit einer unübertrefflichen Komplexität entwickelt hat, ein Haus, das eine fast schon erschreckende Perfektion und Stimmigkeit aufweist. Erschreckend, weil damit die Latte hoch gelegt wurde und sich so mancher Neubau daran wird messen lassen müssen. Und nicht wenige werden diese Prüfung nicht bestehen, denn hier passt wirklich alles. Jürgen Eicher


  • Bauherren und Architeken: Delugan_Meissl
    Mitarbeiter: Anke Goll, Christine Hax, Martin Josst
    Tragwerk: Werkraum Wien
    Haustechnik (HLS): Friedrich Hess Ges.m.b.H.
    Lichtplanung: Delugan_Meissl
    Bebaute Fläche (Flachdach): 340 m²
    Nutzfläche: 230 m²
    Bauzeit: November 2001 bis Juni 2003 (incl. Möbel) 2003 Polydecor-Corian Design Award, 1. Preis 2004 Deutscher Umbaupreis, 1. Preis
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