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Wie unterstützt Architektur die Entstehung von Wissen?

Diskurs
Wie unterstützt Architektur die Entstehung von Wissen?

Im architektonischen Kontext zeichnet sich »Wissen« als neuer Leitwert ab: Wissen kann hier in Zukunft eine ähnlich entscheidende Rolle spielen wie das inzwischen allgegenwärtige Thema »Energie«. Die Fähigkeit von Gebäuden, Wissensprozesse wie z. B. Innovation, Forschung oder Lernen aktiv zu unterstützen, bestimmt immer stärker ihren Wert. Um die Wirkung von Räumen, Gebäuden und Städten auf die Wissensarbeit messbar und planbar zu machen, wurden »Architektonische Wissensbilanzen« entwickelt.

~Jörg Rainer Noennig, Sven Richter, Martin Schulze

Paradoxerweise verliert ein Unternehmen an Buchwert, wenn es sich zukunftsfähig machen will und in Ausbildung oder neue Technologien investiert. Die herkömmlichen Bilanzierungsformen wie z. B. Quartals- oder Jahresberichte orientieren sich weitgehend an Sachwerten, die nur rückblickend das in der Vergangenheit Erwirtschaftete (Umsätze, Gewinne, Anlagen) aufrechnen.
Deshalb wurde vor ca. 15 Jahren unter dem Titel »Wissensbilanz« ein betriebswirtschaftliches Verfahren entwickelt, mit dem auch jene Potenziale und Aktivitäten bewertet werden können, die die künftige Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens sichern, z. B. Innovationskraft oder der Erwerb von Know-how. Dieses »Intellektuelle Vermögen« (Intellectual Capital) hatte der Schwede Leif Edvinsson mit der ersten, für eine Versicherung erstellten Wissensbilanz aufgezeigt und damit einen ökonomisch bislang schlecht fassbaren Wert messbar gemacht: Wissen.
Als betriebswirtschaftliches Verfahren inzwischen auch in Deutschland etabliert (www. ak-wissensbilanz.org), wird die Wissensbilanz-Methode weltweit in den unterschiedlichsten Kontexten angewendet: Es existieren bereits Wissensbilanzen für Universitäten (Leoben), Metropolen (Boston, Shenzhen, Melbourne) oder sogar Nationalstaaten (Israel).
ARCHITEKTONISCHE WISSENSBILANZEN
In der Praxis wie auch in der Forschung ist das Verhältnis von Architektur und Wissensprozessen noch weitgehend ungeklärt. Dabei bietet die Analyse der Wissenspotenziale und -aktivitäten in Organisationen hervorragende Ansatzpunkte für die architektonische Planung. »Architektonische Wissensbilanzen« wie sie u. a. das TU Dresden Center of Knowledge Architecture durchführt und erforscht, sind ein Versuch, die grundsätzlichen Zusammenhänge zu zeigen und anwendbar zu machen.
Dabei erhält der Mensch – die entscheidende Wissensressource – wieder stärkeres Gewicht, die Beziehung Mensch-Architektur rückt in den Vordergrund: Wann immer Menschen Werte schöpfen, machen sie aktiv von Architektur Gebrauch und werden durch diese beeinflusst. Das betrifft die Positionierung der Mitarbeiter im Unternehmen, die Lenkung ihrer Bewegungen, ihre Beeinflussung durch Raumatmosphäre und technische Ausstattung wie auch die Ermöglichung von Kommunikation zwischen ihnen.
Die »Architektonische Wissensbilanz« zeigt, welche Möglichkeiten es gibt, mit solchen architektonischen »Stellhebeln« die Wertschöpfung positiv zu beeinflussen. Sie setzt die vom Unternehmen definierten Ziel- und Einflussgrößen in einen systematischen Zusammenhang mit einer Vielzahl aktiver und passiver Wirkfaktoren, zu denen auch der architektonische Raum zählt.
Der Vorteil: Indem die Zukunftsorientierung des Unternehmens – seine »Bewegung« – durch die Wissensbilanz sichtbar gemacht wird, lassen sich Planungskonzepte, die üblicherweise nur auf aktuelle Unternehmensprobleme reagieren, mit den zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten zusammenbringen.
Bislang wurden drei Ansätze an Fallbeispielen getestet: eine »klassische«, eine »strukturelle« und eine auf Potenziale ausgerichtete Wissensbilanz. Die Methoden unterscheiden sich hinsichtlich des Aufwands und der inhaltlichen »Tiefenschärfe« der Untersuchung – vor allem jedoch in dem Maß, wie weit architektonische Faktoren zur Bestimmung von Wissensprozessen einbezogen werden. Gilt Architektur bei der »klassischen« Methode noch als ein Einflussfaktor unter vielen, wird im Potenzialmodell die räumliche Anordnung der Mitarbeiter zum entscheidenden Faktor. Dabei empfiehlt sich das »klassische« Verfahren, wenn das Unternehmen bzw. die zu untersuchende Organisation bereits besteht und in seiner Gesamtheit eruiert werden kann. Das »strukturell« ausgerichtete Verfahren unterstützt die Konzeption von Gebäuden und Organisationen, bei denen betriebliche Abläufe und Vorgaben detailliert untersucht werden können und die Datenlage sich auf Planungsunterlagen beschränkt. Das Potenzialmodell wiederum ist dort von Vorteil, wo betriebliche Prozesse bereits in der Planungsphase im Detail analysiert und gestaltet werden können.
BEISPIEL 1 BESTANDSGEBÄUDE (INDUSTRIEBAU)
Der Komplex eines im Raum Dresden ansässigen Stahlbau-Unternehmens (Produktionshallen, Verwaltungsgebäude sowie Konstruktions- und Entwicklungsabteilung) sollte einer Wissensbilanzierung unterzogen werden, um betriebliche Mängel hinsichtlich Kosten-, Personal- und Materialaufwand baulich zu beheben.
Hauptbestandteil dieser »klassisch« durchgeführten Untersuchung war – in Analogie zur konventionellen Wissensbilanz – eine Reihe moderierter Workshops, bei denen die Mitarbeiter zur Ausrichtung, den Zielen und Werten (»Vision«) des Unternehmens Stellung nahmen und ihr Verständnis der Geschäftserfolge und Geschäftsprozesse darlegten. Daraus ließen sich konkrete Indikatoren ermitteln, die das Erreichen bzw. Nichterreichen der genannten Ziele ablesbar machen. Zu eruieren waren dann die Einflussmöglichkeiten auf diese Indikatoren durch eine Vielzahl von Faktoren (darunter die »starken« architektonischen Eingriffe), deren Relevanz und gegenseitiger Einfluss gewichtet und in einer Wirkungsmatrix zusammengefasst wurde.
Obwohl nicht für alle Indikatoren architektonische Beeinflussungen festzustellen waren, eröffneten sich jedoch für die Aspekte »Kommunikation«, »Zusammenarbeit« und »Wissenstransfer« konkrete Interventionsmöglichkeiten: Minimierung von Weglängen und Kommunikationsdistanzen durch Verlegung von Abteilungen (Konstruktion näher an Produktionsbereiche, Durchmischung von Akquise- und Managementbereichen); die Schaffung direkter Sichtbeziehungen durch Öffnung bzw. Herausnahme von Wänden (visueller Kontakt zwischen Produktion und Management); Neukonfiguration der Bürobereiche in thematische Gruppen (»Projektinseln«). Darüber hinaus offenbarte die Wissensbilanz einen grundlegenden, bislang nicht wahrgenommenen Konflikt in der Unternehmensstrategie mit weit reichenden architektonischen Implikationen: Im begrenzten Rahmen der gegebenen Ressourcen muss künftig die Optimierung des bisherigen Produkts mit der Entwicklung neuer Geschäftsfelder parallel betrieben werden.
BEISPIEL 2 NEUPLANUNG (FORSCHUNGSINSTITUT)
Bei der »Strukturellen Wissensbilanz« für ein bereits in Planung befindliches Forschungsgebäude im Hong Kong Science and Technology Park galt es, mit Blick auf den beabsichtigten Forschungsbetrieb die Wirksamkeit der vorgelegten planerischen Maßnahmen (Raumkonfiguration, Ausstattung, technische Infrastruktur) zu untersuchen und gegebenenfalls zu revidieren.
Architektonische Strukturen lassen sich im Rahmen der Wissensbilanz unter Ausblendung anderer Faktoren als »Strukturelles Kapital« beschreiben: Dieses umfasst alles, was im Unternehmen verbleibt, wenn die Mitarbeiter nach Hause gegangen sind. Ist das architektonische »Strukturkapital« bestimmt, können Wechselwirkungen mit den übrigen Kapitalarten, dem Human- und Beziehungskapital bzw. deren Indikatoren modelliert werden.
Die für das Forschungsgebäude formulierten Ziele (Erhöhung der Forschungsleistung, Bildung effizienter Technologie-Cluster, Ausgründung von Unternehmen) wurden anhand der Planungsunterlagen auf ihre strukturellen Faktoren hin ausgewertet (urbane Infrastruktur, Baukonstruktion, technische Ausstattung etc.). Insbesondere wurden die mit dem Anspruch eines »grünen Gebäudes« verbundenen bauökologischen und bautechnischen Maßnahmen als strukturelle Komponenten bestimmt. Aus diesen Strukturen konnte ein Bewertungsmodell erstellt werden, das die Auswirkungen des »Strukturkapitals« auf andere Kapitalarten sowie Geschäftsprozesse darstellt. Maßgebliche Boni für das »Beziehungskapital« entstanden beispielsweise durch halboffene Grundrissstrukturen (Bildung von Clustern), die Anbindung an eine zentrale Parkanlage (»informeller Wissenstransfer«) sowie die exponierte Uferlage (»Symbolwert«, »Erreichbarkeit«). Einschränkungen beim »Beziehungskapital« zeigten sich dagegen durch die ungünstige Position auf dem Campus, die schlechte infrastrukturelle Anbindung sowie die fehlende Vernetzung mit anderen Campus-Clustern. Positiv auf das »Humankapital« wiederum wirken o. g. Faktoren durch Indikatoren wie »Prestige«, »Erholung« oder »Freizeitwert«.
Für die vorgelegte Planung ergab sich eine weitgehend positive Bilanz, in der die räumliche Fokussierung der Abteilungen wie auch die aktive Einplanung von Kommunikations- und Austauschzonen entscheidendes Gewicht erlangten. Überraschenderweise hat die aufwendige Gebäudetechnik nur geringen Einfluss auf die Forschungsleistung des Institutes. Weiterhin legte die Wissensbilanz nahe, das Gebäude im Rahmen der Campus-Infrastruktur enger an thematisch benachbarte Institute und Cluster anzubinden.
Den Wissensfluss gestalten
Noch in der Entwicklung befindet sich eine dritte, und im Vergleich zu o. g. Verfahren weit umfassendere Bilanzierungsform, die den dynamischen Austausch und Transfer (»Knowledge Flow«) zwischen verschiedenen Wissensträgern abbildet: das so genannte Potenzialmodell. Aus der Verbindung von Kommunikations- und Raumkartierungen können hierbei Konfigurationen für Gebäude- und Organisationsstrukturen abgeleitet werden, die aktiv bei der Generierung neuen Wissens »mitarbeiten«. Das Modell beruht auf der Annahme, dass Wissensentstehung eine thematische, räumliche und organisatorische Koordination erfordert, die in sich selbst bereits eine komplexe, »wissensstrategische Architektur« trägt, die dynamisch zu gestalten ist.
Bei Wissensbilanzen geht es immer um »System Dynamics«, um die Modellierung komplexer Systeme. Um in einer sich immer schneller verändernden Umwelt zu bestehen, ist die Schöpfung neuen Wissens unabdingbar. Dabei erweist sich die Fähigkeit zur Wissensgenese wie auch zur bewussten Gestaltung von Wissensprozessen als entscheidender Faktor für die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen und Organisationen.
So wie die »klassische« Wissensbilanz als ökonomisches Instrument für eine sich allmählich ausprägende Wissensgesellschaft etabliert wurde, geben die »Architektonischen Wissensbilanzen« den Planern jetzt Instrumente an die Hand, um den neuen Leitwert »Wissen« auch architektonisch zu gestalten: Bauökonomie des Wissens – Wissensökonomie des Bauens. •
Die Autoren erforschen die »Architektonische Wissensbilanz« am TU Dresden Center of Knowledge Architecture.
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