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Arbeit am Mythos

Fehlplanung oder lebendiger Stadtraum: Ein Jahrzehnt Potsdamer Platz
Arbeit am Mythos

In den 20er Jahren galt der Potsdamer Platz als Synonym für automobile Bewegung, für hektische Menschenmassen, für hemmungsloses Vergnügen, er war der großstädtischste Ort Berlins. Doch was ist er heute? Ist es gelungen, den verwehten Mythos wiederzubeleben und ein lebendiges Stück Stadt zu schaffen, gar eine neue Mitte für das traditionell polyzentrische Berlin?

~Jürgen Tietz

Nie war der Potsdamer Platz so eindrucksvoll wie im Moment seiner Wiedergeburt: »Ich wollte das Hotel Esplanade noch einmal sehen, weil mich sentimentale Erinnerungen damit verbinden, doch ich konnte es nicht mehr finden. Ich war aus dem S-Bahnhof Potsdamer Platz heraufgekommen und befand mich inmitten eines Pandämoniums. Ich stand auf einer, wie es schien, provisorischen Brücke, die unter schweren Lastwagen erzitterte, und wusste nicht wohin ich schauen sollte. Tief unter mir werkelten Schwärme von Arbeitern an den Fundamenten für den Turm von Babel oder, weiß der Himmel, für einen riesigen Tunnel nach Moskau, hier war anscheinend alles möglich.« Berlin, Ende der 90er Jahre, über dem Potsdamer Platz tanzen die Kräne, Taucher legen Fundamente, ein Stück Stadt entsteht aus dem Nichts. Bildkräftig schildert der niederländische Schriftsteller Cees Noteboom in seinen Berliner Aufzeichnungen die Baustelle am Potsdamer Platz und spielt dabei auch mit dem Mythos der 20er Jahre. »Europas größte Baustelle«, einst von der roten Infobox aus zu beobachten, ist heute eine ebenso ferne Erinnerung wie die 20er Jahre oder die Grenzbrache der Nachkriegszeit. Im Schatten der Mauer verschwanden damals auch noch die wenigen Ruinenreste, die den Zweiten Weltkrieg überdauert hatten, der Messelsche Wertheimkomplex am angrenzenden Leipziger Platz, Haus Vaterland und das Columbushaus, mit dem Erich Mendelsohn die architektonische Moderne hierher gebracht hatte. So war der Potsdamer Platz 1990 ein Ort mit vielen Erinnerungen aber ohne Form. Statt diese Freiheit zu nutzen, fiel in der beschleunigten Nachwendeeuphorie 1991 die Entscheidung für den städtebaulichen Entwurf von Heinz Hilmer und Christoph Sattler. Er trat anstelle des »weltweit verwendeten amerikanischen Stadtmodells der Hochhausagglomeration« für die »Vorstellung von der komplexen, europäischen Stadt« ein. Allerdings konnten sie sich mit ihrer retrospektiven Stadtvision im Gewirr der widerstreitenden Interessen von Investoren, Stadtplanung und Politik nicht vollständig durchsetzen. Auf Grundlage eines im Realisierungswettbewerb von 1992 siegreichen Entwurfs von Renzo Piano und Christoph Kohlbecker für das Daimler-Areal entstand ein städtebaulicher Zwitter. Wer sich heute auf den schmalen Gassen zwischen den baguette-gelben und rosa-violetten Hochhäusern Renzo Pianos und Arata Isozakis verliert, fragt sich, ob hier tatsächlich die erwünschte großstädtische Komplexität entstanden ist oder doch eine Stadtattrappe. Ihre verkehrsberuhigte Leblosigkeit verschränkt sich mit einer verschlossenen Sockelzone, die kaum Einblicke gewährt und noch weniger Zugang. So entsteht eine permanente Hinterhofatmosphäre. Wer sollte sich hier aufhalten, außer einigen Büroangestellten, die sich neben Notausgängen und Anschlüssen für technische Leitungen während ihrer Zigarettenpause in eine Ecke drücken? Es ist die Bürowelt einer Überallarchitektur ohne Ortsspezifika, wie der Blick ins italienische Lodi zeigt, wo Piano mit dem Hauptquartier der Banca Popolare den austauschbaren Bruder seines Gebäudes am Potsdamer Platz verwirklicht hat. Stünde das eine hier und das andere dort – wer würde es bemerken?
Insel in der Stadt
Und auch die Verzahnung mit der angrenzenden Stadt verweigert das Daimler Areal bis heute, entlang des Landwehrkanals ebenso wie an den schräg stehenden Rasenflächen des Tilla-Durieux-Parks von DS landschapsarchitecten aus Amsterdam oder am Marlene-Dietrich-Platz, auf den die baumgesäumte Alte Potsdamer Straße mündet. Der torartige Durchblick zwischen Berlinale-Palast und Spielbank auf den Scharounbau der Staatsbibliothek trennt mehr, als dass er verbindet. Doch wem ist das anzulasten? Den Architekten, die es nicht besser konnten, der Stadtplanung, die es nicht verstanden hat, ein vorausschauend vernetzendes Stadtkonzept zu verwirklichen, oder den Investoren, die das Areal mit ihren Nutzungsansprüchen überfrachtet haben? Kann mit über 50 % Büronutzung und lediglich 19 % Wohnen überhaupt die gewünschte urbane Durchmischung entstehen? Wären andererseits unter dem Druck des Vereinigungsrausches andere Konzepte überhaupt durchsetzbar gewesen?
Richard Rogers‘ Idee einer strahlenförmig ausgreifenden, autofreien Stadtfigur, die im Auftrag der Investoren als Alternativentwurf 1991 entstand, war es jedenfalls nicht. Alternativen zu einer nach innen gewandten Shopping-Mall wie den »Potsdamer Platz Arkaden« hätte es aber allemal gegeben. Dann wäre die Alte Potsdamer Straße mit ihren Löschwassereinspeisungen und zugeklebten Türen nicht zum Hinterhof degradiert worden.
Der Potsdamer Platz selbst, der sich an das noch immer nicht vervollständigte Oktogon des Leipziger Platzes anschließt, bleibt was er immer war – ein Platz ohne Form. Mit seinen ebenso großformatigen wie winddurchfegten Zu- und Abgängen zum Regionalbahnhof zu beiden Seiten der Potsdamer Straße ist er schnell durchschritten. Immerhin fügt sich von der Leipziger Straße aus die Hochhaustrias aus Piano, Kollhoff und Jahn, in Terracotta-, Ziegel- und Glaskleid zu einer medial wirksamen Postkartenschönheit des »neuen Berlins«. Zwischen ihnen schiebt sich die Straße hindurch, mit einigen Film-Sternchen-Sternen im Pflaster des Mittelstreifens, die sie jedoch deshalb noch lange nicht in einen wirklichen Boulevard verwandeln. Stattdessen flüchtet man lieber unter das gewaltige Zeltdach des Sony Centers von Helmut Jahn. Und tatsächlich: Hier ist nicht alles gut – aber doch manches besser. Als »kaltes Kunstherz« geschmäht, bietet Jahns Stahl-Glas-Architektur für die Touristen mit dem Schaueffekt der Dachkonstruktion offenbar den richtigen Mix aus Erlebnis und Gastronomie. Offen und öffentlich präsentiert sich das Sony Center, auch wenn es eben ein privater und kein öffentlicher Raum ist. Der Platz ist beliebt – trotz mancher Fragwürdigkeiten, wie dem glasverpackten Kaisersaal aus dem einstigen Hotel Esplanade, der als Denkmal in Aspik überdauert. Und die abweisend schmuddelige Fassade des introvertierten Filmhauses zur Potsdamer Straße gehört zu den architektonischen Tiefpunkten der Stadt. Mehr als 100 000 Besucher zöge das Daimler Areal an manchen Tagen an, heißt es bei der Potsdamer Platz Management GmbH, einer Tochter der ECE. Seit Februar 2008 gehört das ehemalige Daimler Quartier zum Bestand des »Offenen Immobilienfonds SEB ImmoInvest«, während der »National Pension Service of Korea« Besitzer des Sony Centers ist. Die Investoren kommen und gehen. 2013 wird Daimler den Potsdamer Platz ganz verlassen und mit der Investitionskarawane zur Media Spree weiterpilgern. Was bleibt, sind die baulichen Relikte. Auch wenn die Daimler-Tochter debis bereits heute schon Geschichte ist, erinnert der grüne Würfel auf dem Hochhaus von Renzo Piano noch immer an sie. Ganz so, als wolle er hartnäckig darauf hinweisen, dass Stadt eben in ganz anderen zeitlichen Dimensionen zu denken ist als nur in der Kategorie Abschreibung. Gleichwohl: Bereiche des Potsdamer Platzes funktionieren, auch wenn Optimierungsbedarf besteht, das Kompositionsprinzip Bürofläche plus Schaueffekt für Touristen und für Berliner, plus abendlichem Vergnügen und Allerwelts-Shopping geht auf. Doch der Platz ist ein Trabant, der um sich selber kreist, als Blaupause für die Konzeption von komplexen Stadtstrukturen taugt er nicht. Wie und für wen Quartiere definiert werden, ist ebenso eine baukulturelle wie eine ökonomische Frage. Doch für sie bedarf es gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, eine Frage nach Öffentlichkeit und öffentlichen Räumen, die mehr sein sollten als begrünte Randzonen. So ist der Potsdamer Platz v. a. Zeugnis seiner selbst und für den Umbruch Berlins nach 1990. In ein paar Jahren werden seine ersten Bausteine ausgetauscht. Dann darf sich die Denkmalpflege Gedanken über seinen Denkmalwert machen. Dabei wird sie nicht nur über architektonische Qualitäten zu urteilen haben, sondern auch über das Modell einer investorengerechten Stadt, für die das Konzept Potsdamer Platz steht. •
Der Autor studierte Kunstgeschichte und arbeitet als Architekturkritiker und Buchautor in Berlin.
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