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Steinhaus in Besigheim von Meister + Wittich und Partner

Steinhaus in Besigheim
Gefangenenchor

Je älter ein Denkmal ist, desto mehr Veränderungen werden im Laufe seiner Existenz an ihm vorgenommen. Der vor 200 Jahren erfolgte Umbau des Steinhauses zum Gefängnis kommt der heutigen Nutzung als Musikschule sogar zugute. Die ehemaligen Zellen der Gefangenen bieten den nötigen Schallschutz für die Übungsräume.

The older a building is, the more often alterations are made in the course of its existence. The conversion two hundred years ago of the Stone House to a prison is advantageous for its present use as a school of music. The former prisoner cells provide the necessary sound insulation for practice rooms.

Neue Nutzungen, Anbauten, Veränderungen in der Fassade, den Räumlichkeiten oder dem Tragwerk sind Eingriffe mit denen ein altes Gebäude im Laufe seines langen Lebens rechnen muss. Das fast achthundertjährige Steinhaus im baden-württembergischen Besigheim hat diesbezüglich schon einiges miterlebt und legt so Zeugnis ab von einer bewegten Geschichte des Ortes und seiner Region. Nach vielen Jahren als Provisorium sollte der hoch über dem Ort thronende, einstige Fruchtkasten endlich wieder einer sinnvollen Nutzung zugeführt werden. Nach dem gewonnenen Wettbewerb im Jahre 1999 wurde den Stuttgarter Architekten Meister + Wittich die Aufgabe übertragen, den identifikationsstiftenden Bau für die Gemeinde funktionstüchtig zu machen. Das Büro hat viel Erfahrung im Umgang mit jahrhundertealter Bausubstanz, und doch verlangt jedes Haus eine andere Vorgehensweise, vor allem, wenn es sich um einen so ungewöhnlichen Eingriff wie im Steinhaus handelt.

Eine Verordnung aus dem Jahre 1811 verlangte die gesonderte Unterbringung von Gefangenen mit kurzen Haftstrafen. Da ein Neubau für diesen Zweck nicht in Frage kam, besann man sich des alten, als Lagerhaus genutzten Steinhauses hoch droben am Berg. Die zusätzliche Last von acht aus massiven Hölzern gezimmerten Gefängniszellen im ersten und zweiten Obergeschoss muteten der vorhandenen Konstruktion allerdings einiges zu. Das drohende Nachgeben des hölzernen Mittelunterzuges, von zwei mächtigen Holzstützen abgefangen, wurde durch einen Wald aus zwölf Stützen im Erdgeschoss und zusätzlich eingezogenen Wänden verhindert. Für die Architekten war klar, dass diese Besonderheit trotz schwierigster Tragwerksprobleme erhalten bleiben musste, auch wenn sie dem ursprünglichen Denkmal erst später hinzugefügt wurde. Obwohl das Büro seit über zehn Jahren mit denkmalpflegerischen Aufgaben betraut ist, findet sich in ihrer Arbeit kein ausgesprochen akademischer Ansatz im Umgang mit Denkmalen. Meister + Wittich einigen sich nicht auf einen erhaltungswürdigen Zustand, dem unter Umständen Spuren vorausgegangener oder späterer Jahre geopfert werden müssen, sondern entscheiden nach der Zuträglichkeit für die aktuelle Nutzung. Das klingt im ersten Moment nach allzu großer Freizügigkeit, die einem Denkmal nicht würdig scheint – doch ist diese Vorgehensweise in enger Abstimmung mit der Denkmalbehörde, der Bauforschung und Restauratoren durchaus üblich. Kaum ein Denkmal kann heute aus rein musealen Gründen erhalten bleiben. Im Falle des Steinhauses bedeutete dies, dass unter Erhalt der Gefängniszellen das Erdgeschoss von den nachträglich eingefügten Stützbauten befreit werden musste, zum einen, um die klare Raumordnung des spätmittelalterlichen Hallenbaus wieder sichtbar zu machen, zum anderen aber auch, um der neuen Nutzung funktionstüchtige Räume zur Verfügung zu stellen. Die technische Lösung dieser Aufgabe war für den Tragwerkplaner eine besondere Herausforderung und setzt viel Wissen um alte Konstruktionen und Handwerkstechniken voraus. Das Ingenieurbüro Grau, langjähriger Partner in der Zusammenarbeit mit den Architekten wenn es um schützenswerte Gebäude geht, baute eine zusätzliche stählerne Abfangkonstruktion in der Deckenebene des zweiten Obergeschosses ein, die die Lasten der Zellenwände aufnahm. Über mehrere Quer- und zwei Längsträger werden sie an zwei, den ursprünglichen Innenstützen zugeordneten Stahlstützen gesammelt und zum Fußboden des Erdgeschosses geführt. Dort nehmen zwei Stahlbetonträger, dem Gewölbebogen folgend, die Lasten auf und leiten sie in die Kelleraußenwände. Mit Hilfe dieses entlastenden Zusatztragwerks war der Weg frei für den Einbau zweier (Konzert-)Säle im Erdgeschoss und im ersten Obergeschoss, mit direkter Anbindung an ein kleines Servicegebäude, das als moderner Anbau zugefügt wurde. Zwar musste aus Sicherheitsgründen der Fußboden in den Sälen geebnet werden, die Architekten aber ließen es sich nicht nehmen, an den Stützfüßen die bedrohliche Neigung der alten Böden unter Glas sichtbar zu machen. Ein Lehrbeispiel für unüberlegtes und fast zerstörerisches Handeln in vorhandener Bausubstanz – scheinbar nicht nur ein Phänomen unserer Zeit. Wo immer es möglich war, wird auf Spuren aus der Vergangenheit hingewiesen. Wie Jahresringe erzählen die kleinen und großen Freilegungen die Geschichte des Hauses. Am eindrucksvollsten sind die acht Gefängniszellen im ersten und zweiten Obergeschoss, von denen eine als Außenzelle an die Fassade gehängt wurde. Es ist ein Glücksfall, dass das Steinhaus überwiegend als Musikschule dient. So konnte die Umwidmung der Zellen in Übungsräume deren vollständigen Erhalt sichern. Der damals gebräuchliche Ausbruchschutz, solide beplankte Holzwände mit einer Ausfütterung der Balkenzwischenräume, sorgt heute für den nötigen Schallschutz. Damit die »Gefängnisatmosphäre« nicht zu sehr auf das Gemüt der jungen Musiker drückt, wurden die massiven Türen mit ihren furchterregenden Schlössern festgestellt und durch Glastüren ersetzt, die zusätzlich Tageslicht hereinlassen. Farbige Höhen- und Tiefenabsorber, die vor den rauen Wänden wie moderne Kunst wirken, heitern die Zellen auf.

Man spürt den Spaß der Architekten am »Geschichte erzählen«, so wie sie sich anbietet, ohne sie zu schönen. Moderne Einbauten bleiben moderne Einbauten und werden nicht historisch angepasst. Dem Büro ist das ein wichtiges Planungsziel und dafür wird viel Sorgfalt aufgewendet. Ein besonderes Augenmerk richten Meister + und Wittich auf die Öffnungen eines Hauses. Ob Fenster oder Türen – sie werden alle freigelegt, unabhängig von ihrer Funktionstüchtigkeit. So entsteht ganz nebenbei Kunst am Bau, die nicht weh tut. Einen solch unpreziöser und doch respektvoller Umgang mit Denkmalen wünscht man sich häufiger.


  • Standort:  Pfarrgasse 26, 74354 Besigheim

    Bauherr: Stadt Besigheim
    Architekten: Meister + Wittich und Partner, Stuttgart
    Verantwortlicher Mitarbeiter: Peter Dettling
    Bauleitung: Stehle und Ruppert, Heilbronn
    Tragwerksplanung: Ingenieurbüro Johann Grau, Bietigheim
    Haustechnik: Laux, Kaiser + Partner
    Bauaufnahme und Bauhistorische Untersuchung: Ingenieurbüro für Bauforschung, Burghard Lohrum, Ettenheimmünster Restaurator: Horst Wengerter, Besigheim
    Vermessung: Ingenieurbüro Claus Rittmann, Besigheim
    Geologisches Gutachten: Geotechnik Südwest, Bietigheim-Bissingen
    Wettbewerb: 1999 Planungsbeginn: Mai 2000
    Bauzeit: April 2001 – 2004 Nutzfläche: 720 m²
    Umbauter Raum: 5307 m³ Baukosten: 3 400 000 Euro
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