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Fakultätsgebäude Texoversum der Hochschule in Reutlingen

Fakultätsgebäude Texoversum der Hochschule in Reutlingen
Textil umhüllt

Am Rande des Reutlinger Hochschulcampus, mit Blick zum nahen Albtrauf, ist ein Bauwerk für den Fachbereich Textil entstanden, das mit seiner ungewöhnlichen Gebäudehülle aus Kohlenstoff- und Glasfasern die Möglichkeiten textilen Bauens zeigt.

Architektur: allmannwappner, Menges Scheffler Architekten, Jan Knippers Ingenieure
Tragwerksplanung: Jan Knippers Ingenieure, bwp Burggraf + Reiminger

Kritik: Petra Ralle
Fotos: Brigida González

Einmal ins Sichtfeld geraten, bleibt der Blick automatisch immer wieder am Neubau für das »Texoversum« hängen: So ungewohnt, so filigran, so abwechslungsreich und doch homogen erscheint die Fassade. Je nach Farbe des Himmels und Lichteinfall wirkt sie mal zart und transparent, mal sehr plastisch und dreidimensional.

Das 3,5-geschossige Gebäude – entworfen und geplant von allmannwappner, Menges Scheffler Architekten und Jan Knippers Ingenieure – ist ein Geschenk von Südwesttextil, dem Wirtschafts- und Arbeitgeberverband der Textilbranche an das Land Baden-Württemberg für den Campus der Hochschule Reutlingen. Hier findet die benachbarte Fakultät Textil zusätzlichen Platz. Außerdem verlagert Südwesttextil sein Ausbildungs- und Weiterbildungszentrum Gatex von Bad Säckingen nach Reutlingen, betreibt es als »Texoversum Experts & Training Hub« und bündelt so am traditionsreichen Standort Wissen und Forschung im textilen Sektor. Der Grund dafür liegt in der Geschichte der Textilwirtschaft Süddeutschlands.

Da das heutige Gebiet von Baden-Württemberg schon immer über wenig Rohstoffe verfügte, setzte sich früh textiles Handwerk in dieser Gegend durch. Zu Beginn verarbeitete man im Wesentlichen regional verfügbare Materialien wie Wolle und Flachs, später dann z. B. auch importierte Baumwolle. Im 19. Jahrhundert bildeten die Textilbetriebe den größten Industriezweig der Stadt Reutlingen. Was lag also näher, als auch eine zentrale Bildungseinrichtung für Textilberufe zu gründen? Das Königreich Württemberg unter Wilhelm I. und die Stadt initiierten dies 1855 mit einer Webschule, aus der das »Staatliche Technikum für Textilindustrie« hervorging. Erste Gebäude siedelten sich zentral in der Innenstadt an, bezogen dann aber zahlreiche Räumlichkeiten auf dem Hochschulgelände.

Mit der Blütezeit der deutschen Textilindustrie entstand auch besondere Architektur für diese Wirtschaftssparte: Im nahen Mössingen baute Manfred Lehmbruck mit Fabrikationshallen, Kesselhaus, Werkstätten und Verwaltungsbau in den 50er Jahren den Firmensitz für die international bekannte Buntweberei und Textildruckerei Pausa. Und in Reutlingen entwickelte sich vor etwa 120 Jahren bereits ein Vorzeigeprojekt im sozialen Wohnungsbau: Die Textilfirma Gminder, bestehend aus Spinnerei, Weberei und Färberei ließ für ihre etwa 2 700 Beschäftigten von Theodor Fischer die Siedlung »Gmindersdorf« planen und ausführen, eine Arbeiterwohnkolonie im Dorfcharakter mit Kinderhort und Gaststätte direkt neben den Fabrikgebäuden. Der Niedergang der deutschen Textilwirtschaft um die Jahrtausendwende stoppte diese Symbiose.

Der Neubau des Lehr- und Forschungsgebäudes Texoversum – die Fakultät Textil benannte sich so nun um – steht nun nicht nur für ein zukunftsorientiertes Wachstum der Branche, seine Fassade steht auch als Signet dafür, was mit textilen Materialien möglich ist.

Eng verwoben

Schon die Grundstruktur des Texoversum spiegelt mit seinen Split-Leveln, der Transparenz und den ineinanderfließenden Räumen wider, was in der Nutzung geschehen soll: Einzelne Fachbereiche, Unternehmen, Investoren, Entwickler:innen, Studierende und Auszubildende sollen miteinander kommunizieren, arbeiten und forschen. Dafür bieten die versetzt zueinander angeordneten Ebenen Platz für Thinktanks, Büros, Werkstätten, Labore und eine einzigartige Textilsammlung. Alle Geschosse sind über ein Atrium miteinander verbunden und bilden ein räumliches Kontinuum, vom UG bis zur Dachterrasse. Das werkstattartige Erscheinungsbild ist geprägt von Sichtbetonoberflächen, Industrieestrich und rundum vollflächiger Verglasung. Der Dreibund bietet zentral eine Versorgungsspange mit Aufzug, Sanitär- und Nebenräumen. Nach Südwesten und Nordosten sind die Geschosse stützenfrei flexibel bespielbar. Ein in der Fassadenebene verlaufender Unterzug ermöglicht es, die Gesamtdicke der Betondecken zu reduzieren, was zu einer wirtschaftlichen und materialschonenden Bauweise beiträgt. In Kombination mit einem Energiekonzept aus Fernwärme, Heiz- und Kühlsegeln und einem Jahresprimärenergiebedarf von 68,5 kWh/(m²a) streben die Planer:innen eine Zertifizierung nach dem Bewertungssystem Nachhaltiges Bauen des Bundes BNB in Silber an.

Fensterflügel in der frei von horizontalen Riegeln gehaltenen Verglasung öffnen nach außen, wodurch Möbel freier gestellt werden können. Die Erschließung erfolgt über zwei Treppenhäuser, die an den Schmalseiten des Baukörpers angeordnet sind.

Zusätzlich führt eine weite, zentrale Treppe mit Sitzstufen aus Holz vom Eingang des Texoversum im EG ins 1. OG und dient als Treffpunkt und Kommunikationsbereich. Der findet seine Fortsetzung in einem etwas weiter westlich in der Mittelspange angeordneten, ebenfalls expressiven Treppenraum, der sich bis zur Dachterrasse erstreckt. Sowohl Wand- als auch Teppichfarben – direkt vor Ort gedruckt – wechseln hier im Verlauf von einem kräftigen Blau-Lila-Ton über Pink und Orange hin zu Gelb im 3. OG. Er soll, so die Planer:innen, sowohl das Potenzial des Textildrucks zeigen als auch auf die Tradition kunstvoll gefertigter Wandteppiche verweisen.

Präzise gewickelt

Vor der Primärfassade der Pfosten-Riegel-Konstruktion mit raumhoher Dreifachverglasung verlaufen über alle Stockwerke schmale, auskragende Revisionsstege, die sowohl einen konstruktiven Wetterschutz bilden als auch die besonderen Elemente der Sekundärfassade tragen.

Nahezu 2 000 m² Fläche wurden mit speziell angefertigten Modulen aus Carbon- und Glasfasern bekleidet. Fünf verschiedene Typen entwickelte man entsprechend ihrer statischen Beanspruchung, mit unterschiedlichen Transparenzgraden von 43-49 % und variierender Position der Blendenöffnung dafür. Je nach Einbauposition erlauben sie sowohl aus sitzender als auch stehender Position der Nutzer:innen ungestörte Ausblicke in die umgebende Landschaft, gleichzeitig sorgen die »Spinnfäden« für ausreichenden Sonnenschutz.

Für die Anfertigung der filigranen Fassadenelemente benötigt man jeweils zwei Wickelrahmen mit außenliegenden Pins – kleine, mit präzise positionierten Schrauben fixierte Aluminiumhülsen –, zwischen die ein Roboter die mit einem Polyurethanharz getränkten Faserstränge wickelt. Dieser Verbundwerkstoff aus Kohle- bzw. Glasfasern und Harz ist besonders langlebig, beständig gegen Witterung, UV-Strahlung und Feuer. Die Geometrie der Wicklung und die Wahl der Faser wird von der Nutzung bestimmt: Carbonstränge – sie bestehen jeweils aus 50 000 Einzelfilamenten – kommen überall dort zum Einsatz, wo hohe Festigkeit benötigt wird, um Lasten aufzunehmen. Die hellen Glasfasern tragen v. a. zur Steifigkeit des Moduls bei und bestimmen den Verschattungsgrad im Gebäude. Nach dem Wickelprozess wird das Bauteil mit Abmessungen von bis zu 4 m und einer Tiefe von 80 cm auf den Rahmen über Nacht im Ofen ausgehärtet und getempert. Dadurch erhält es seine endgültigen mechanischen Eigenschaften. Die Schrauben werden gelöst und die Struktur vom Wickelrahmen genommen, der nun für das nächste Element wieder verwendet wird. Die fertigen Segmente wiegen weniger als 30 kg, weshalb sie einfach mittels Hubsteigern über die eingeschlossenen Aluminiumhülsen an den Revisionsstegen befestigt und miteinander verbunden werden konnten. Sie ergeben diese faszinierende Hülle, die völlig neue Maßstäbe setzt – im Hinblick auf Gestaltung ebenso wie auf eine materialsparende Bauweise.

Mit dem Bau des Texoversums setzen sowohl der Verband Südwesttextil als auch die Planer:innen und die Hochschule Reutlingen ein Zeichen, dass sich die deutsche Textilindustrie in der internationalen Wirtschaft behaupten kann und mit innovativen Entwicklungen auch die Zukunft mitbestimmt.


Redakteurin der db-Metamorphose Petra Ralle konnte die Entstehung des Texoversum mitverfolgen und ist begeistert davon, was Textiles auch sein kann – eine faszinierende Gebäudehülle.


  • Standort: Alteburgstraße 150, 72762 Reutlingen

    Bauherr: Südwesttextil – Verband der Südwestdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie e. V.
    Architektur: allmannwappner, Menges Scheffler Architekten, Jan Knippers Ingenieure
    Mitarbeiter: Team allmannwappner Realisierung: Manfred Sauer (Leitung), Sabrina Bergmann (Leitung), Sebastian Thomas (Projektleitung), Timm Traxler, Juae Kim, Maurizio Maggi, Simon Köppl, Roswitha Allmann; Team allmannwappner Wettbewerb: Philipp Vogeley (Leitung), Valerio Calavetta (Projektleitung), Timm Traxler; Team Menges Scheffler Architekten Realisierung: Moritz Münzenmaier, Jiangpeng Chen, Eva Menges, Achim Menges (Leitung); Team Menges Scheffler Architekten Wettbewerb: Niccolò Dambrosio, Christoph Zechmeister, Achim Menges (Leitung); Team Jan Knippers Ingenieure: Riccardo La Magna
    Tragwerksplanung: Jan Knippers Ingenieure, Stuttgart (Sekundärfassade); bwp Burggraf + Reiminger GmbH, München (Gebäude)
    Energietechnik: Transsolar Energietechnik, München
    Elektroplanung: Müller & Bleher, Filderstadt
    Bauphysik: Müller – BBM, Planegg
    Brandschutzplanung: hhpberlin, München
    Landschaftsarchitektur: Glück Landschaftsarchitektur GmbH, Stuttgart
    BGF: 4 110 m²
    Baukosten: 18,5 Mio. Euro
    Bauzeit: November 2019 bis Juli 2023

Architektur

allmannwappner, München

Menges Scheffler Architekten, Frankfurt am Main

Jan Knippers Ingenieure, Stuttgart


Text: Petra Ralle (-ra)

Studium Architektur und Städtebau an der Universität Stuttgart, 2001 Diplom. 1999-2004 freie Mitarbeit bei der db deutsche bauzeitung. 2004 Gründung der Firma stagedress. Seit 2009 freie Mitarbeit bei frei04 Publizistik, seit 2015 bei db-Metamorphose.

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