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Berühren erwünscht

Erweiterung Schulanlage Steinmürli in Dietikon (CH)
Berühren erwünscht

Fast überall außerhalb Skandinaviens gab es einen PISA-Schock, so auch in der Schweiz. Das Land, in dessen Selbstbild Perfektion und Pragmatismus eine einzigartige Verbindung eingehen, musste erstaunt feststellen, dass sein Schulsystem nicht mehr über alle Zweifel erhaben ist. Vereinzelte Schulreformen waren schon Ende der achtziger Jahre in die Wege geleitet worden, unter anderem in Basel, wo in der Folge ein bemerkenswerter Schulhaus-Bauboom ausgelöst wurde. In den meisten anderen Kantonen gewann die pädagogische und mit ihr die architektonische Erneuerungswelle aber erst Ende der neunziger Jahre an Fahrt. So auch in der Zürcher Vorortgemeinde Dietikon, in der das gelungene neue Schulhaus eine innovative Raumdisposition zur Verfügung stellt.

    • Architekten: Enzmann + Fischer Architekten Tragwerksplanung: HMK Kuhn

  • Kritik: Caspar Schärer Fotos: Roger Frei
Gruppenzimmer und Cluster
Vor zehn Jahren tauchte ein neuer Begriff in den Raumprogrammen der Wettbewerbsunterlagen für Schulhausbauten auf: das Gruppenzimmer. Anfänglich fehlte es noch an einer scharfen Definition, während alles andere klar geregelt war. Zwar ist das Gruppenzimmer in der Schweiz seit den fünfziger Jahren bekannt – in der Stadt Zürich wurde 1957 zum Beispiel eine Schulanlage nach dänischem Vorbild mit ihnen ausgerüstet. Das Konzept stieß aber in der Praxis auf wenig Echo, weshalb der Gruppenraum für mehrere Jahrzehnte in der Versenkung verschwand. Es brauchte die Erkenntnis seitens der Pädagogen, dass der Klassenverband im konventionellen Schulzimmer den spezifischen Stärken oder Schwächen der Schülerinnen und Schüler nicht mehr gerecht wird. Im Gruppenraum werden Kinder gezielt gefördert, ob sie nun lernschwach oder überdurchschnittlich begabt sind. Längerfristige Projektarbeiten können hier in wechselnden Gruppenzusammensetzungen stattfinden, abgekoppelt vom Unterricht und doch unter Aufsicht der Lehrpersonen. Die Weiterentwicklung des Gruppenzimmers ist der Cluster: Mehrere Schulzimmer und Gruppenräume werden bei Bedarf zusammen mit dem Erschließungsraum verbunden, der in diesem Fall gar keiner mehr ist, sondern eine flexibel möblierbare Zone. Wie das Gruppenzimmer befindet sich auch der Cluster noch in der evolutionären Entwicklung; je nach Projekt und vor allem Auftraggeber sind die Konzepte mehr oder weniger konsequent umgesetzt worden. In der Zürcher Vorortgemeinde Dietikon haben Gruppenzimmer und Cluster im Erweiterungsbau der Grundschule Steinmürli ›
› eine stimmige architektonische Übersetzung gefunden, auch wenn das Schulhaus später vermutlich »nur« als Zwischenschritt in einem längeren Prozess betrachtet wird. Doch bereits jetzt lässt sich bei einzelnen neuen Schulbauten eine kontinuierliche Vergrößerung des Gruppenraums beobachten. Eine Entwicklung ist in Gang gekommen, die langfristig auf ein Schulhaus mit vielen, untereinander vernetzten Räumen mit gleichwertigen Hierarchien hinauslaufen wird.
Das Architekturbüro Enzmann + Fischer konnte im Wettbewerb auf die Erfahrungen eines anderen Studienauftrags zurückgreifen, bei dem sie vier Klassenzimmer und ebenso viele Gruppenräume zu »Jahrgangseinheiten« mit maximaler Flexibilität zusammenfassten. Das Projekt wurde nie ausgeführt, in Dietikon bot sich den Architekten dann die Gelegenheit, einen kleineren Zweier-Cluster mit Gruppenraum zu realisieren. Konstituierendes und strukturierendes Element des Neubaus mit der beachtlichen Gebäudetiefe von 23 Metern sind die vier verglasten, nicht begehbaren Lichthöfe, die sowohl horizontal als auch vertikal für Transparenz und Helligkeit sorgen. Die Lichthöfe belichten nicht nur die innere Erschließungszone und sind das räumliche Zentrum der Cluster, sie schaffen zudem Durchblicke durch das ganze Gebäude hindurch.
Ein Gruppenraum ist zwischen zwei Klassenzimmer geschaltet; mittels großer Schiebewände hat eines der Zimmer direkten Zugriff darauf, während das andere Zimmer bloß über eine Tür mit dem Gruppenraum verbunden ist. Theoretisch könnten demnach zum Beispiel lernstarke Schüler aus der vierten Klasse an einzelnen Lektionen der fünften Klasse teilnehmen, indem sie einfach durch den Gruppenraum marschieren. In der Praxis wurde dieser Transfer auf der Ebene der Grundstufe jedoch (noch) nicht oft erprobt. Die Raumdisposition dazu wäre aber jetzt vorhanden.
Noppen und Kreise
Neben der räumlichen Innovation mit den Lichthöfen fällt am Schulhaus Steinmürli vor allem der Umgang der Architekten mit Sichtbeton auf. Die durchgehend vorfabrizierten Fassadenelemente des in Massivbauweise errichteten Gebäudes sind mit Kalkbestandteilen weiß eingefärbt und mit einem weißen Kunststoffanstrich versehen, der die Oberfläche noch zusätzlich verfremdet. Spezielle Schalungsmatten modellierten die Elemente, so dass sie nicht schwer und steinern wirken, sondern eher an eine dünne Tapete erinnern. Lauter kleine Noppen wachsen aus dem ›
› Beton und fordern die Berührung geradezu heraus. Umgekehrt geprägt ist die Fassade der ebenfalls neu erbauten Turnhalle: Dort werden die Noppen zu Vertiefungen, ähnlich der Oberfläche eines Golfballs. Von den runden Noppen ist es gedanklich nur noch ein kleiner Schritt zu den mit runden Löchern durchsetzten Brise-Soleil-Elementen vor den Lüftungsflügeln der Fenster. Die schlichten und doch auffälligen Elemente rhythmisieren die Fassade; sie unterbrechen die Bänder der großen, nicht weiter unterteilten Gläser. Gefasst sind die großformatigen Fenster mit gelb eloxierten Aluminiumrahmen – dem einzigen Farbtupfer an dem ansonsten monolithisch weißen Baukörper. Die Kombination ist die sinnige Weiterführung eines ähnlichen Farbkonzepts an den Altbauten von Jacob Padrutt aus dem Jahre 1956: auch dort bilden dünne, gelbe Streifen im Fensterbereich den Akzent. Generell fügen sich die beiden Neubauten – ein Schulhaus mit elf Klassenzimmern sowie eine Turnhalle – nahtlos in die bestehende Schulanlage mit ihrem zentralen Hof und den flankierenden Gebäudetrakten ein. Das neue Schulhaus schließt die letzte offene Seite des Hofs, ohne jedoch das Areal nach außen hin abzuschotten. Durch leichte Verschiebungen der Gebäudevolumen und das Offenlassen der Ecken bleiben die wichtigen Fußwegverbindungen durch das Areal erhalten.
Im Inneren setzen Enzmann + Fischer das Thema des Kreises auf spielerische Weise fort. Es taucht in unterschiedlichen Maßstäben immer wieder auf: an den mächtigen Schiebewänden zwischen Klassen- und Gruppenzimmer, bei den Oberlichtern der Lichthöfe, an den Akustikelementen der Decke und selbst bei den runden, abgehängten Pendelleuchten. Die Rundungen stehen im Kontrast zur rigiden Grundrissfigur, deren klare Ordnung von einem über fünf Meter breiten Hallenraum im Zentrum bestimmt wird. Einen Schulhauskorridor im herkömmlichen Sinn gibt es hier nicht mehr, eher einen vielfältig nutzbaren Raum mit Blickbeziehungen in alle Richtungen. Der räumlichen Verschmelzung mit fließenden Übergängen zwischen Halle, Lichthöfen, Gruppenräumen und Klassenzimmern begegnen die Architekten mit einem Material- und Farbwechsel der Bodenbeläge. Und wieder sind es – wie schon an der Fassade – nur zwei Farben, mit denen sie operieren. Weißer Terrazzo mit dunklen Einschlüssen markiert Foyer und Halle, während in den Schulzimmern ein fugenlos verlegter, ›
› satt gelb-grüner Gussboden den unübersehbaren farblichen Akzent setzt. Der starke Farbauftritt täuscht vielleicht darüber hinweg, dass die Innenräume der Schule eigentlich eher neutral gehalten sind. Kinder bringen mit ihren bunten Kleidern und Zeichnungen reichlich Farbe in ein Schulhaus, das seine eigene Präsenz deshalb ruhig zurücknehmen kann.
Mit der Erweiterung der Schulanlage Steinmürli ist Evelyn Enzmann und Philipp Fischer ein bedeutender Beitrag im Schulhausbau gelungen. Gerade in einer mehrheitlich zersiedelten Agglomerationsgemeinde wie Dietikon ragt ihr Gebäude architektonisch heraus, ohne jedoch aufzutrumpfen. Die subtile, fast zärtliche Behandlung des Betons zeugt von einer Sensibilität gegenüber dem kleinteiligen Kontext, in dem ein großes Sichtbetonvolumen vermutlich auf wenig Resonanz gestoßen wäre. Schließlich stellt der Grundriss mit den Klassenzimmer-Clustern ein Angebot der Architektur an die Lehrerschaft dar, die nun aktiv die permanente Weiterentwicklung der Schule vorantreiben kann. •
  • Bauherr: Stadt Dietikon Architekten: Enzmann + Fischer AG Architekt/innen BSA SIA, Zürich Projektleiter: Philipp Fischer, Andi Zimmermann Bauingenieur: HMK Kuhn AG, Dietikon Bauleitung: Bosshard+Partner Architektur- büro, Zürich Landschaftsarchitekten: Koepfli Partner GmbH Landschaftsarchitekt BSLA, Luzern HLKS-Planung: 3-Plan Haustechnik AG, Winterthur Bauphysiker: Martinelli+Menti, Meggen Gebäudevolumen: 14 000 m² Bausumme: 6,9 Mio. Euro inkl. Turnhalle Fertigstellung: Ende 2006
  • Beteiligte Firmen: Betonelemente: Sulser AG, Trübbach; Noe-Schaltechnik, Aarau
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