1 Monat GRATIS testen, danach für nur 6,90€/Monat!
Startseite » Allgemein »

Samuel Johnson schrieb 1758

Allgemein
Samuel Johnson schrieb 1758

~Alex Haw

unerbittlich grau
Samuel Johnson schrieb 1758: »Wenn sich zwei Engländer treffen, werden sie als erstes übers Wetter reden.« Unsere Nation ist besessen vom Wetter. Nur über eins sprechen wir noch häufiger, und das ist der Zustand der Straßen – denn auch er verändert sich mit dem Wetter, ist einem eigenen unauslotbaren Klimasystem mit Chaos und Verstopfung unterworfen. Sogar unsere (ehemals) so unerschütterliche Eisenbahn ficht das Wetter an: Berühmt ist der lächerliche, schlitternde Halt, zu dem es 1991 durch »die falsche Art Schnee« kam, wie es British Rail allen Ernstes bezeichnete.
Wir leben auf einer Insel, die von zwei Ozeanen umgeben ist – die nassen Meere und Kanäle unter uns und die nassen, sich verdunkelnden Himmel über uns – wie ein Spaßvogel einst anmerkte: »Weather forecast« sei ein Anagramm von »hectares of water«. Diese Ozeane bestimmen Fahr- und Zeitpläne, wir werden vom monotonen Seewetterbericht im Radio in den Schlaf gewiegt, der die »Wettergebiete« um die britischen Inseln und darüber hinaus – von den Gewässern vor der Südostküste Islands bis zur Deutschen Bucht und zur Biscaya – beschreibt.
Wie die charakteristischen grünen Hügel, die einen Großteil der englischen Landschaft ausmachen, ist auch unser Wetter sanft und nur leicht bewegt, feucht und gemäßigt, weil die kalten Ausläufer des Atlantiks vom Golfstrom erwärmt werden. Und wie das Meer reflektieren wir das Wetter, und das Wetter spiegelt uns; milde, düster und – wie die vorherrschende Farbpalette in unserer Architektur – unerbittlich grau. Wie unser Wetter ist auch der Brite klassisch gemäßigt – im Temperament ausgeglichen und ausgewogen in Verhalten und Ausdruck.
Ein großer Teil britischer Architektur zeichnet sich durch diskreten, zurückhaltenden modernen Minimalismus à la Loos aus (Abb.: Wakering Road Foyer, Architekten: Jestico and Whiles). Unsere wenigen Rebellen betonen nur die Dominanz des Status quo und erinnern uns daran, dass der Brite auch eine laute Seite hat, die den Kontrapunkt zu unserem milderen Normalzustand darstellt. Wir haben als erste die wissenschaftliche Klassifizierung der Wolken betrieben – Luke Howard, ein britischer Chemiker mit dem Spitznamen »Vater der Meteorologie«, veröffentlichte 1802/03 seinen »Essay on the Modification of Clouds« und etablierte anschließend Studien in »Urbanem Klima«. Damit schrieb er die ewige Annahme fest, die Stadt sei ein Klimasystem und Architektur eine Folge aus dem städtischen Klima. Seine Arbeiten inspirierten Shelley, Goethe, Caspar David Friedrich und John Constable, deren Wolkengemälde so lebendig die britische Landschaft sowohl über als auch unter dem Horizont einfingen. In der Folge war der Raum zwischen den Außenwänden ebenso wichtig wie der im Innern – und das Experiment der Moderne hatte begonnen; Raum und Licht bekamen die gleiche Bedeutung wie die Komposition von Volumina.
Während Constable natürliche Wolken abbildete, fing Turner auch die psychedelischen atmosphärischen Effekte jener künstlichen Wolken ein, die durch die industrielle Verschmutzung (Abb.: George Robertson: Eisenwerk in Wales, 1788) entstanden waren. Seine epischen Himmelslandschaften standen beispielhaft für eine extreme spätromantische Sinnlichkeit, quasi-modern und gleichzeitig klassisch in der Inspiration, in denen die Wunder der Industrialisierung von antiken Figuren bevölkert sind. Und genauso produzierte die Architektur dieses Zeitalters – die großen Kathedralen aus Stahl und Glas, die Bahnhöfe, Gewächshäuser und Kristallpaläste – riesige neue Räume, die einen Bogen zwischen Vergangenheit und Zukunft schlugen, monumenthaft verankert in Boden, Nation und Geschichte und dennoch eine befreiende neue Transparenz versprechend, eine Architektur, die in den Wolken und Abgasen ihrer Zeit wuchs und sich wieder auflöste.
Das Organische dieser neuen Architektur fiel nach und nach der Maschine zum Opfer, ihre ornamentalen Wachstums-Motive verschwanden in dem Maße wie ihre Nutzung immer dynamischer wurde: Im Gewächshaus beispielsweise wurden Pflanzen durch Menschenmassen und Motoren ersetzt (Abb.: Paddington Station, Heathrow-Express-Terminal, Grimshaw Architects). Das Erbe dieser sparsam geschmückten Hallen wurde zur allgegenwärtigen Flughafenarchitektur von heute – die sich auch in Bürobauten und Wohnhäusern (Abb.: Manchester Civil Justice Centre, Architekten: Denton Corker Marshall) überall wiederfindet. Endlose vom Ort unabhängige Vorhangfassaden ohne jede Atmosphäre, Angriffen ausgesetzt durch Wetter und giftige Gase draußen, vom Innenraum gerade einmal durch eine Glasfläche getrennt.
Trotz immer wiederkehrender Rückschwünge und der zunehmenden Dominanz traditionalistischer Mauerwerkskonstruktionen ist der Flughafen nach wie vor unsere Musterarchitektur, die der einzigartig britischen Freizeitbeschäftigung postromantischer Träumerei einen schützenden Raum gibt: dem Wolkenbeobachten. Die britische »Cloud Appreciation Society« fordert ihre Mitglieder auf: »Lebt das Leben mit dem Kopf in den Wolken!« und verspricht »banales Schönwetterdenken zu bekämpfen«. Das allgegenwärtige, pulverbeschichtete britische Fassadenpaneel ist unser nationaler Anorak, unsere praktische Universalkleidung, die für alle Arten von Wetter geeignet ist, aber keine besonders zelebriert (Abb.: Sainsburys Superstore Camden, Grimshaw Architects).
Die Architektengruppe Archigram steht beispielhaft für die britischen Widersprüchlichkeiten zwischen Tradition und Moderne: Ihre Himmel waren voller Zeppeline und sonstiger Errungenschaften des Raumfahrtzeitalters, doch waren ihre Türme überwuchert mit den üppigen Gewächsen einer präromantischen Vergangenheit und ihre fortschrittlichen Maschinen armselige Gartengeräte, die in einen kleinen ländlichen Cottagegarten besser gepasst hätten. Ein sichtbares Erbe davon war diese »Hightech«-Flughafenarchitektur – ein anderes zeigte sich im sehr britischen Rückzug auf Worte, Bilder, Gedichte, die sich in den Elfenbeinwolken von Gelehrsamkeit und Geschichte auflösten.
Die klimatischen Manipulationen, die wir Briten uns erlauben, sind ziemlich genau das Gegenteil dessen, was unsere amerikanischen Cousins jenseits des Teichs tun. Die US-Regierung impft schon seit Ewigkeiten die Wolken, schwächt tropische Wirbelstürme und legt sogenannte Chemtrails (angeblich mit Chemikalien angereicherte Kondensstreifen ~red); ihre wettertechnischen Spielereien reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Ihre Wissenschaftler und Meteorologen haben seit Langem der Atmosphäre den Krieg erklärt – sei es nun durch eine ständige Bombardierung der Arktis mit Millionen von Tonnen hoch reflektierender Sulfat-Treibgase, die sie mit Kalkstaub sättigen, die Umlenkung von Orkanen durch den Beschuss mit Mikrowellen von Satellitenbasen aus oder die Besetzung des Himmels mit einer ganzen Flotte von Orbitalspiegeln, die die Sonnenstrahlung ablenken sollen. HAARP, ein höchst umstrittener Komplex aus Funksendern in Alaska, kann angeblich über 3 Gigawatt in die Ionosphäre schleudern – zum alleinigen Zweck, das Wetter massiv zu verändern. Uns Briten fehlen solch militärisch-klimatische Ambitionen und der faustische Ehrgeiz der Amerikaner, die Atmosphäre aufzurüsten; wir tolerieren höflich, wenn auch widerwillig, was die Vereinigten Staaten, Russland und China mit ihren beängstigenden Ingenieurstücken verändern wollen. Es könnte sogar sein, dass sie damit die Zukunft unserer Profession bedrohen, denn durch radikal verändertes Wetter müsste möglicherweise weniger gebaut werden – und damit ginge die traditionelle Aufgabe des Architekten verloren, für Schutz und Wärme zu sorgen.
Alex Haw arbeitet als Architekt und Künstler an der Schnittstelle von Design, Forschung und Städtebau. Er leitet atmos, ein experimentelles Gemeinschaftsbüro, das Häuser, Installationen und Landschaften entwirft. Er war Entwurfsbetreuer an der Architectural Association in London, an der TU Wien und in Cambridge.
Aktuelles Heft
Titelbild db deutsche bauzeitung 4
Ausgabe
4.2024
LESEN
ABO
MeistgelesenNeueste Artikel

Architektur Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Architektur-Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Medien GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum arcguide Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des arcguide Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de