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Neue Briefe

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Neue Briefe

aus Helsinki schreibt uns bis Ende des Jahres Jorma Mukala, Chefredakteur der finnischen Architekturzeitschrift ark. Diesmal berichtet er über einen Zusammenschluss junger Architekten, die mit ihrer unkonventionellen Haltung gegenwärtig die finnische Architekturszene erneuern und dabei den Traditionen ihres Landes dennoch treu bleiben. Anders als Bündnisse früherer Jahre eint sie nicht eine architektonische Haltung, sondern ihr Alter und ihre Vermarktungsstrategie. ~dr

~Jorma Mukala

Helsinki – Madrid – Stockholm
Liebe db,
eine neue Generation hält Einzug in die finnische Gegenwartsarchitektur. Diese Bezeichnung ist eine Verallgemeinerung, denn »neue Generation« steht hier für eine Gruppe, zu der sich neun Architekturbüros zusammengeschlossen haben: »Newly Drawn«. An die Öffentlichkeit traten sie 2009 mit dem gleichnamigen Buch (Verlag Rakennustieto) und einer Ausstellung in Madrid. Damit wollte die Gruppe zeigen, wie interessant junge finnische Architektur ist und das Finnische Architekturmuseum als überkommene Ausstellungsinstitution ausdrücklich umgehen. Das Buch und die Ausstellung präsentieren Projekte und fertige Bauten der Gruppe. Einige Artikel bieten allgemeine Informationen. Außerdem wird jedes Büro mit einem Interview vorgestellt.
Was für eine Architektur entsteht in den Büros? Aus den Arbeiten der neun Mitglieder der Gruppe wähle ich vier Gebäude, die eine Vorstellung von den Trends der finnischen Gegenwartsarchitektur vermitteln.
Der Großraum Helsinki ist attraktives Zuzugsgebiet für viele Menschen aus ganz Finnland. In den vier Städten der Region wurden daher neue Schulen und Kindertagesstätten errichtet, darunter auch architektonisch interessante Objekte.
Mit finnischem Modernismus werden im Allgemeinen weiße abstrakte Flächen im Verbund mit schlichter Gestaltung assoziiert. Die vom Büro AFKS entworfene Kita in Espoo (2009) ist das genaue Gegenteil davon. Das wie zufällig abgewinkelte Gebäude grenzt an einen idyllischen Hof und wurde sorgfältig neben einem felsigen Hügel angeordnet. Mit seinem kräftigen Rot belebt es die in die Jahre gekommene Nachbarschaft, die von Bauten aus klinkerverblendeten Fertigteilen geprägt ist. Die frei angeordneten Fenster sehr unterschiedlicher Formate entsprechen dem seit etwa zehn Jahren in der internationalen Szene vorherrschenden Trend. Tragwerk und Fassadenflächen sind aus Holz.
Seit dem Jahr 2000 sind in Finnland mehrere kleine, aber feine Kirchen gebaut worden. Der schwedische Architekturkritiker Rasmus Waern zeigte sich vor dem Hintergrund der in Skandinavien nicht besonders ausgeprägten religiösen Tradition erstaunt darüber, vor allem aber über die eindrucksvollen Ergebnisse: zeitgenössische, antitraditionelle Formensprache mit hoher architektonischer Relevanz. Er sieht darin eine speziell finnische Erscheinung, denn weder in Schweden noch in anderen europäischen Ländern gebe es etwas Vergleichbares. Das Büro Lassila Hirvilammi hat die neueste Kirche in Jyväskylä (2010) ausgeführt. Die Flächen von Kirchenbau und Glockenturm sind wie in einem Kristall abgeschrägt. Dunkle Schieferplatten unterstreichen die harte Kantigkeit der Form. Umso mehr überrascht der Innenraum. Mit weichen Rundungen ist die Atmosphäre im Kirchensaal von warmer Helligkeit. Mit seinen tragenden Strukturen aus Holz führt der Kirchenbau die lange finnische Holzkirchentradition fort. Der Kontrast zwischen äußerer Form und Innenraum verleiht der Kirche einen starken Charakter und klare Identität. Diese Art einer komplexen skulpturalen Form stellt eine Verbindung zu Alvar Aaltos Architektur her.
Das vom Büro K2S entworfene Gymnasium in Sipoo (2007) ist funktional gegliedert. Die klare Linienführung erstreckt sich bis ins Detail. Der grundlegende Ansatz, vor allem mit seinen Bögen im Grundriss, erinnert an Arbeiten von SANAA, doch verweist der architektonische Ausdruck in seiner Rationalität auf die kühle Architektursprache von Dominique Perrault. So setzt diese Architektur die Tradition des minimalistischen finnischen Rationalismus fort und erneuert sie zugleich durch frische, intelligente Details.
Das monumentalste Werk der neuen Generation ist das im Bau befindliche Theater- und Konzerthaus Kilden (Performing Arts Centre Kilden) im norwegischen Kristiansand: schlicht, aber sehr intensiv. Die finnische Architektengruppe ALAarchitects ging im Jahre 2005 aus einem internationalen Wettbewerb als Sieger hervor. Die grundlegende Idee ist ein nahezu minimalistisches Rechteck, dessen eine Längsseite zu einer Art gigantischen Eingangsüberdachung vorgeneigt ist. Durch diese große Geste entsteht eine stark expressive Wirkung. Die Fertigstellung des Gebäudes ist für 2011 vorgesehen.
Was ist also die verbindende Kraft oder gar die einende Idee dieser Generation? Drei wesentliche Merkmale sind leicht erkennbar. Die deutlichste Gemeinsamkeit ist das Alter: Alle Beteiligten sind unter 40 Jahre alt. Bekanntermaßen hält die Jugendzeit bei Architekten oft lange an – u. U. bis zum 39. Lebensjahr; Sportler sind in diesem Alter meist im Ruhestand, mancher Dichter wiederum bereits in ewiger Ruhe. Zum Vergleich sei erwähnt, dass Alvar Aalto im Alter von 35 Jahren mit dem Sanatorium von Paimio seinen Durchbruch erzielte. Eliel Saarinen war am Anfang des 20. Jahrhunderts 30 Jahre alt, als die ersten Arbeiten von Gesellius-Lindgren-Saarinen wie etwa der Landsitz Hvitträsk gebaut wurden.
Das zweite prägende Merkmal von „»Newly Drawn« sind ihre internationalen Ambitionen. Nach der ersten Ausstellung in Madrid soll nun Stockholm folgen. Das Buch wurde nur in englischer Sprache veröffentlicht, denn es richtet sich an das europäische Fachpublikum und die internationale Architekturszene. »Newly Drawn« dürfte denn auch das erste finnische Architektur-Phänomen seit dem Beitritt Finnlands zur EU 1995 sein. Doch ist die internationale Ausrichtung an und für sich nichts Außergewöhnliches. Als Beispiele wären hier die internationalen Projekte von Alvar Aalto zu nennen, auch wenn er in Finnland an der nordöstlichen Peripherie Europas gearbeitet hat. Seit Aalto lebt die Internationalität als wichtige Dimension in der hiesigen Architektenschaft fort. Während des Kalten Kriegs hatte das Finnische Architekturmuseum mit seinen Ausstellungen überaus wichtige internationale Kontakte zum Westen geknüpft und gepflegt. Auch für Museumsdirektor Juhani Pallasmaa hatten und haben internationale Aktivitäten einen hohen Stellenwert.
Ein drittes Merkmal von »Newly Drawn« ist die bewusste Medienorientierung mit dem Ziel, die eigenen Arbeiten wirksam herauszustellen. Die Grundregel der heutigen, von den Medien beherrschten Kultur lautet ja: Nur wer vorteilhaft im Rampenlicht steht, existiert wirklich. Andererseits lassen sich die Massenmedien nicht steuern, weshalb man nie wissen kann, welches Phänomen oder Produkt zu einem sogenannten Hit wird. Die Architekten von »Newly Drawn« versichern unisono, dass sie keine gemeinsame Auffassung von »Architektur« hätten. Eine Sichtweise oder architektonische Idee vereint sie also nicht, außer eben der Behauptung, keine Gemeinsamkeiten zu haben. Andererseits sehen sie alle in Umweltdenken und nachhaltiger Entwicklung wesentliche Werte unserer Zeit.
Obwohl die Büros von »Newly Drawn« noch nicht lange im Geschäft sind, haben sie das finnische Architekturspektrum bereits verändert: Die Entwurfshaltungen sind freier als zuvor, unterschiedliche architektonische Formen und Ziele können in der zeitgenössischen finnischen Architektur nebeneinander existieren.
»Newly Drawn« ist in der finnischen Tradition insofern ein Sonderfall, als die Architektur hier nur äußerst selten über eine Gruppe erneuert worden ist. Zuletzt war es Anfang der 80er Jahre die »Schule von Oulu«, die die Ergebnisse des damaligen Modernismus kritisierte und die Architekturvorstellungen der Postmoderne nach Finnland transportierte. Zuvor hatte es in den 60er Jahren eine »Konstruktivismus«-Gruppe junger Rationalisten gegeben, die sich gegen die skulpturale und naturbezogene Architekturauffassung von Alvar Aalto wandte, die geometrische, puristische Haltung Ludwig Mies van der Rohe zu ihrem Ideal erhob und über den Rationalismus demokratische Werte fördern wollte.
Jedenfalls galten individuelle und nicht etwa Gruppenleistungen als probates Mittel zur Erneuerung der finnischen Architektur. Deshalb bietet ein Sieg in einem Architekturwettbewerb weiterhin am ehesten die Chance, neue Gedanken umzusetzen. Neben zahlreichen eingeladenen werden jedes Jahr auch einige Konkurrenzen ausgeschrieben, an denen sich alle, Architekten, Ingenieure und Studenten, beteiligen können. Teilgenommen wird unter Chiffren, um die Anonymität zu wahren. Der Durchbruch neuer Ideen gelang in den meisten Fällen gerade über Siege in Wettbewerben. So hatte es zum Beispiel auch für das Sanatorium in Paimio eine Auslobung gegeben, die der funktionalistische Entwurf von Alvar Aalto für sich gewann. Auch die Architekten von »Newly Drawn« nutzen dieses Mittel – einige wichtige Aufträge bekamen sie über Architekturwettbewerbe.
Viele Grüße aus Helsinki,
Jorma Mukala ist seit 2009 Chefredakteur der Zeitschrift Arkkitehti (ark – finnish architectural review). Er studierte Architektur in Tampere und war er als Architekt sowie Lehrer an Kunst- und Architekturschulen tätig. Daneben ist er Herausgeber und Verfasser von Büchern über Architektur.
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