1 Monat GRATIS testen, danach für nur 6,90€/Monat!
Startseite » Allgemein »

Im Spannungsfeld

Technik
Im Spannungsfeld

Membrane und Folien werden als Baumaterial in der Gebäudehülle nach wie vor selten genutzt. Ein Grund könnte auch die Unerfahrenheit im Umgang mit diesem sein. Ein Projektbeispiel erläutert die Vorgehensweise vom Entwurf bis zur Fertigstellung bei einer Überdachung in Mailand. Membranes and sheets are still rarely used as building materials in the building envelope. One reason for this could be inexperience with the material. An example project demonstrates the approach, from inception to completion, to covering a roof in Milan.

Mittags trifft man sich bei »La Vela« im Restaurant oder bei schönem Wetter unter dem Membrandach auf der Piazza davor. Das Ensemble aus Restaurantwürfel und Schattensegel steht im Hof der fünf Büro- und Geschäftshäuser Bodio Uno bis Bodio Cinque im Norden Mailands. Die Anlage mit 67 000 m2 Nutzfläche und 700 Parkplätzen entstand von 2001 bis 2004. Da seitens des Bauherrn und der Mailänder Architekten Aukett + Garretti bereits eine sehr klare Formvorstellung für die Membranüberdachung vorlag, entfiel die sonst übliche Variantenbildung durch die Ingenieure. Die Überdachung dient lediglich als regensichere Restaurant-Vorzone, weitere bauphysikalische Anforderungen mussten nicht erfüllt werden.

Geometrie Die Überdachung ist etwa 33 m lang, 20 m breit, bis zu 17 m hoch und überdeckt 337 m2. Die Membran ist leicht nachspannbar und damit – entgegen dem Trend der auf Fixmaß überspannten Membrane – faltenfrei und nicht »vorgeschädigt« (etwa durch gebrochene Fasern oder eine verletzte Beschichtung). Das sattelförmige Dach besteht aus einer 423 m2 großen Membran mit sechs Hautspitzen, von denen zwei an die beiden 18 m langen, mit Seilen abgespannten Masten anschließen, und einem zwischen die Masten gespannten (Grat-)Seil, über das sich die Membran wie über einen gebogenen First legt. Zwei Hautspitzen schließen bodennah auf dem Platz und zwei auf dem Windfang des Restaurants an.
Brandschutz Bezüglich des Brandschutzes wurden nur Mindestanforderungen vergleichbar B1 nach DIN 4102 gefordert, die vom Membranmaterial, einem PTFE-beschichteten Glasgewebe mit der damaligen Einstufung A2 leicht erreicht wurde. B1 ist von fast allen Membran- und Folienwerkstoffen zu erzielen (z. B. PVC-Polyestergewebe oder ETFE-Folie), A2 hingegen nur von Glasgeweben, deren »brennbare« Kunststoffbeschichtung hinreichend dünn gewählt wird.
Zustimmung im Einzelfall? Stünde »La Vela« in Deutschland, hätte bei der obersten Bauaufsicht des jeweiligen Bundeslandes gemäß LBO ein Antrag auf Zustimmung im Einzelfall (Z.i.E.) gestellt werden müssen, da Membrane und Folien nicht in der Bauregelliste A Teil 1 enthalten sind, also nach wie vor nicht zu den bauaufsichtlich zugelassenen Werkstoffen zählen. Italien kennt keine Z.i.E. Der Konfektionär führte dennoch eine vergleichbare Eigenüberwachung durch.
Formfindung und Krümmung Die Überdachung war stets als mechanisch gespanntes Segel gedacht, bei dem die zweiachsige, gegensinnige Flächenkrümmung (die Mittelpunkte der Hauptkrümmungsradien liegen auf verschiedenen Seiten der Fläche) durch ein Auf und Ab der Randpunkte und Unterstützungslinien »provoziert« wird. Die nötige geometrische Stabilität erhält das Segel durch eine material- und chargenspezifische Kompensation. Damit sich nach dem Spannen die Form und die gewünschte Vorspannung einstellen, werden die Zuschnitte rechnerisch verkleinert. Kompensationsbeeinflussende Faktoren sind insbesondere das unterschiedliche Dehnverhalten in den beiden Geweberichtungen Kette und Schuss (orthotropes Dehnverhalten), die oftmals erheblichen Produktionsstreuungen und das projektspezifische Belastungsprofil. Generell gilt, dass nach der Faustformel »Membranspannung = Flächenlast x (Krümmungs)-Radius« kleine Formradien kleine Membrankräfte und damit auch kleine Verankerungskräft erzeugen; umgekehrt haben sehr flache Membrane große Radien und benötigen große Verankerungskräfte.
Lastannahmen Das Membrandach wurde entsprechend Eurocode mit einer mittleren Windgeschwindigkeit von 25 m/s und der »Gazetta Ufficiale«, einer Tabelle über die Schneelastverteilung in der Lombardei (Schneelastzone 1) berechnet. Bei einer Standorthöhe von 122 m gilt hier eine Regelschneelast von 1,6 kN/m². Die Bauteilnachweise wurden nach DIN 18 800 geführt.
Berechnung und Dimensionen Nachdem die prinzipielle Form bekannt war, wurde die Überdachung aus Seil- und Stabelementen sowie dreieckigen Membranelementen abstrahiert und »formgefunden«. Die Membran wurde samt Seilen und Masten mit Finite Elemente Programmen berechnet. Die gewählten Programme (ms form und ms load) verwenden die Methode der dynamischen Relaxation. Sie berücksichtigen die Eigenschaften von vorgespannten Membranen wie etwa deren orthotropes Verhalten, geometrisch nicht lineares Verhalten (große Verformungen unter Vorspannung und äußeren Lasten) und kommen auch mit Nichtlinearitäten wie dem Ausfall von Zuggliedern und Membranelementen zurecht. Die Schnittgrößenberechnung basiert auf den Lastfällen Vorspannung sowie drei maßgebenden Wind- und Schneelastfällen unter Berücksichtigung der Formbeiwerte und der Flächenneigung der Membran. Der gewählte Vorspannungszustand von 2,0 zu 1,25 kN/m (Kette /Schuss) versetzt das Dach in die Lage, Schnee und Windlasten standzuhalten. Unter Last wird sich die Membran soweit verformen, bis sich ein neues Gleichgewicht aus Gewebespannung und äußerer Last einstellt. Diese zunächst störende Verformung entlastet das Gewebe und trägt wesentlich zur Lebensdauer bei. Die Spannungsermittlung über alle Lastfälle ergab eine maximale Beanspruchung der Membran in Kette von 14 kN/m bei seitlichem Wind und in Schuss von 17 kN/m in einem der Schneelastfälle. Die Festigkeit der gewählten Membran gegen Bruch liegt mit 140/120 kN/m in Kette und Schuss weit höher. Nach Berücksichtung verschiedener Abminderungsfaktoren, etwa für die Alterung oder Schwächung im Fügebereich, verbleibt eine Restsicherheit von 2 bei Dauerbeanspruchung – ein Wert, der sich für PTFE-Glasgewebe bewährt hat.
Materialeigenschaften Die hier verwendete Gewebe- und Beschichtungsmischung ist 0,8 mm dick und besteht aus einem tragenden Gewebekern aus Elektroglas mit 10 Fäden/cm in beide Richtungen, einem Geweberohgewicht von 440 gr/m² und 750 gr/m² PTFE-Beschichtung. Die Fäden wiederum bestehen aus 3 my Fasern (EC3) und sind die dünnsten im Membranbau verwendeten Glasfasern. Üblich sind auch 4 my, 6 my und vereinzelt 9 my Faser, wobei die dünnsten auch gleichzeitig die teuersten Fasern sind, denen die größtmögliche Flexibilität zugeschrieben wird. Die so aufgebaute Membran hat bei 550 nm (sichtbares Licht) 14 % Transluzenz, 76 % Reflektion, einen g-Wert von 18 %, einen U-Wert von 4,95 W/m²K, einen sd-Wert von 5 –10 m und einen Schalldämmwert von 11 dB.
Detaillierung Bei höher beanspruchtem, PTFE-beschichtetem Glasgewebe hat sich als Standard eine mehrstufige Randausbildung durchgesetzt. Im Gegensatz zu PVC-beschichtetem Polyestergewebe, dessen Beschichtung besser auf dem Trägergewebe haftet und dann bis auf wenige Ausnahmen Randtaschen mit eingelegten Randseilen ausreichen, schält die Schweißverbindung bei PTFE-Glasgewebe und Kompositwerkstoffen mit geringerer Haftfestigkeit bei abhebender Belastung leichter ab. Deshalb werden die Ränder meist geklemmt. Dazu werden sie mit kurzen geraden oder etwas längeren gebogenen Klemmleisten (meist 6–10 mm dick) formschlüssig gefasst und über Metallbügel mit dem frei liegenden und sichtbaren Randseil verbunden. In der Randausbildung integriert liegen zylinderförmige Klemmen, die die tangentialen Kräfte aus der Membran in die Randseile übertragen. Trotz des PTFE-Glasgewebes konnte ein sanfter Knick ausgebildet werden, der die Membran abrupt um 50– 80 ° umlenkt. Da das steife Material empfindlich auf solche Wechsel reagiert (die Tragfähigkeit verringert sich lokal, weil einzelne Glasfasern brechen), wurde der Grat mit aufgesattelten runden Blechen mit Biegeradius 80 mm »entschärft«.
Zuschnitt Das Gewebe wurde in Schussrichtung zwischen 5 % und 6,7 % verkleinert, der umlaufenden Rand um 1 % bis 2 % und der Grat um 3 %, damit sich nach der Montage, bei der das Segel auf Sollgröße gedehnt wird, der planmäßige Vorspannzustand und ein faltenfreier »Maßanzug« einstellt. In Kettrichtung wurde das Gewebe nicht kompensiert. Grundlage hierfür waren Tests mit kreuzförmigen Gewebemustern in einer Biaxial-Maschine, zyklische Belastungen, die sich in Dauer und Größe an den künftigen Belastungen orientieren, und die Auswertung der Dehnkurven. Zuvor wurde die im Rechenmodell geplante Dreiecksvermaschung mit geeigneten geodätischen Linien (kürzeste Verbindung auf einer gekrümmten Oberfläche) belegt, so dass quasi-parallele Gewebe-streifen entstanden, die auf die Flächenkrümmung und die verfügbare Materialbreite abgestimmt wurden. Die verwendete Membran wurde vom Weber und Beschichter in 4,70 m Breite hergestellt, in 2,35 m Breite beim Konfektionär angeliefert und auf eine Breite von maximal 2,25 m (+ 80 mm Zugabe für die Nähte) zugeschnitten.
Wartung und Beständigkeit Wie alle fluorhaltigen Werkstoffe, etwa ETFE-Folien (Copolymerfolien aus Etylen und Tetrafluorethylen) oder Gewebe aus PTFE-Fäden (Polytetrafluorethylen), Glasgewebe mit auflaminierte PTFE-Schälfolien, hat auch das hier verwendete Glasgewebe (Verseidag 18089 EC3) mit aufgesintertem PTFE eine »Bratpfannen«-Oberfläche. Diese ist chemisch kaum aktivierbar, Schmutz wird leicht vom Regen mitgenommen. Da die Glasfasern unter Zusatz temperaturempfindlicher Gleitmittel verwoben werden, das beim Trocknen der PTFE-Partikel bei 327 °C »karamelisiert«, ist fabrikneue Ware ockerfarben bis hellbraun. Unter Lichteinwirkung wird die Brauntönung abgebaut, die Membran wird fast weiß und behält die hohen Transmissionswerte zeitlebens bei. G. S.
Architekten: Aukett + Garretti, Mailand (I) Ingenieure: form TL, Radolfzell Beteiligte Firmen: Canobbio S.p.A., Castelnuovo Scrivia (I) (Konfektion und Montage) Verseidag-Indutex GmbH, Krefeld (Weber und Beschichter) Teci S.p.A, Mailand (I) (Seilkonfektionär)
Aktuelles Heft
Titelbild db deutsche bauzeitung 5
Ausgabe
5.2024
LESEN
ABO
MeistgelesenNeueste Artikel

Architektur Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Architektur-Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Medien GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum arcguide Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des arcguide Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de