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Rückbauzertifizierung der DGNB - werterhaltend zerlegen

werterhaltend zerlegen
Rückbauzertifizierung der DGNB

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Betonskelette mit heraushängenden Kabeln, große Bagger und Staub – dem Rückbau sieht man nicht so leicht an, ob er nachhaltig ist oder nicht. Er glänzt nicht mit grünen Fassaden oder innovativen Baumaterialien. Man muss etwas genauer hinschauen, um zu erkennen, was einen bewussten Umgang mit dem Bestand und dem Rückbau ausmacht. Und doch steckt gerade darin das wohl größte Potenzial für Ressourcenschonung und Klimaschutz. Speziell für den nachhaltigen Rückbau hat die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen ein Zertifizierungssystem entwickelt. Zwei Projekte haben es bereits ausprobiert und zeigen, was möglich ist.

Text: Pia Hettinger
Fotos: Groß & Partner, Berlin Hyp

Man kann es überall lesen: Die Baubranche braucht zu viele Ressourcen, die am Ende zu häufig auf der Deponie landen. Im Kontext des nachhaltigen Bauens tut sich seit einigen Jahren ein neuer Begriff auf: das zirkuläre Bauen. Abgeleitet ist er vom Konzept der Kreislaufwirtschaft oder Circular Economy, die wiederum auf der Denkschule »Cradle to Cradle« beruht. Die Idee dahinter: Produkte werden »von der Wiege zur Wiege« geführt und behalten damit ihren Wert in einem Kreislauf der Nutzung. Damit wird der Abbau neuer Rohstoffe auf der einen und die Entstehung von Abfall auf der anderen Seite vermieden. Das führt zu einer völlig neuen Art der Produktentwicklung, die das Lebensende mitbedenkt und zu verlängern versucht. Bereits heute entstehen ganze Gebäude, die als zirkulär gelten und deren Einzelteile in Zukunft wieder herausgenommen und einer weiteren Nutzung zugeführt werden können.

Zirkularität ist jedoch nicht nur die Ausrichtung auf eine fern liegende Zukunft, sondern steht auch für Rückbezüglichkeit. Es heißst also, den Blick auf die Ressourcen zu lenken, die bereits verbaut sind, und ihren Wert zu erkennen. Dieser Denkweise folgend, kann ein in die Jahre gekommenes Gebäude im besten Fall in seiner Gänze erhalten werden. Sollte eine Sanierung ausgeschlossen sein, gilt es, das Bauwerk so zurückzubauen, dass möglichst viele Ressourcen weitergenutzt werden können: Bausysteme, Bauteile, Baustoffe. Was in der Theorie vernünftig klingt, wird in der Praxis jedoch noch nicht so richtig gelebt.

Damit sich das ändert, hat die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen ein Zertifikat speziell für den Rückbau entwickelt. Es soll dabei helfen, die genannte Kreislaufführung von Produkten in die Breite zu bringen. »Unser Zertifikat fordert gleich zu Beginn eine Begründung, warum eine Sanierung ausgeschlossen wird. Das soll zum Nachdenken anregen und zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Bausubstanz«, sagt Dr. Christine Lemaitre, Geschäftsführender Vorstand der DGNB.

zwei Pilote machen es vor

Wie der Rückbau tatsächlich funktioniert, haben zwei Projekte erprobt. Das erste Rückbauzertifikat überhaupt ging im Jahr 2020 an Groß & Partner, Bauherr des Projekts FOUR Frankfurt. Die Berlin Hyp AG erhielt im Sommer 2021 das Vorzertifikat. Beide Projekte befinden sich in Großstädten. Beide Vorhaben kommen vom Neubau her und stehen beispielhaft für eine Tendenz in unseren wachsenden Metropolen: Wer neu bauen will, muss sich erst einmal mit dem Bestand auseinandersetzen: sanieren oder abreißen? Denn Fläche ist begrenzt.

In Frankfurt wurde das ehemalige Deutsche-Bank-Areal zurückgebaut. Bereits in der Entstehung befindet sich hier das Quartier FOUR Frankfurt, ein Hochhausensemble mit vier Türmen, das der Vision der »Vertical City« folgt und die vorherige Blockrandbebauung ersetzt. In Berlin konnten Bewohner in Mitte an der Budapester Straße zuschauen, wie das Bankgebäude der Berlin Hyp Stück für Stück rückgebaut wurde und ebenfalls einem Neubau Platz macht.

Neuer Umgang mit Ressourcen

Zentrales Element des Rückbauzertifikats ist die Dokumentation aller Materialien. »Nur mit einer detaillierten Materialstrombilanz lassen sich die in einem Rückbau schlummernden Materialien aufspüren und die Nachhaltigkeit des Rückbaus messen«, sagt Peter Matteo, Geschäftsführer Groß & Partner. Die konkreten Zahlen machen die Dimensionen deutlich. Knapp 160 000 t Rückbaumaterial fielen auf dem 16 000 m2 großen Gelände in Frankfurt an. Davon fast 150 000 t mineralische Baustoffe und etwa 5 400 t Metalle.

Alle Materialien gilt es, möglichst werterhaltend und ortsnah zu verwerten. »Indem wir die Materialien auf Baustellen und örtlichen Wertstoffhöfen genau aufgetrennt und zu den jeweiligen Verwertungsspezialisten abgeführt haben, konnten wir deren Verwertung gegenüber dem normalen Rückbau maximieren.« Ein Großteil des Bauschutts wurde im nahe gelegenen Offenbach als Baustellen-Füllmaterial verwendet. Damit wurden nicht nur die Deponierung als Abfall, sondern zugleich weite Transportwege vermieden. »Für die Materialtrennung selbst setzten wir spezielle energiesparende Maschinen ein, die zudem Emissionen wie Staub, Lärm und Erschütterungen reduzierten.« Große Teile der Fassade sowie ein ganzes Foyer wurden zudem eingelagert, um originalgetreu wieder aufgebaut zu werden. »Schon

bald werden wir diverse ausgebaute Fenster wieder in das FOUR einbauen«, erzählt Matteo. Auch Jens Völkner, Bereichsleiter für das Neubauvorhaben der Berlin Hyp resümiert: »Die Abbruch-Materialien wurden gründlich geprüft und so weit wie möglich vor Ort getrennt und zerkleinert.« Mobiliar und Technik des Altbaus wurden zudem über eine Auktion versteigert. Die Erlöse und ein Teil des Mobiliars wurden gemeinnützigen Organisationen gespendet.

Rücksicht auf die Menschen

Wer nachhaltig zurückbaut, der verspricht, auf die Menschen im Umfeld Rücksicht zu nehmen. In Frankfurt und Berlin wurde die direkte Nachbarschaft im Vorfeld und im Laufe der gesamten Baumaßnahme über das Vorhaben, die Dauer und die Auswirkungen informiert. Kanäle, die in Frankfurt genutzt wurden: digitale Plattformen, Briefe und eine ständig erreichbare Hotline, um unmittelbar reagieren zu können. »Wir konnten für wichtige Veranstaltungen der Nachbarn spontan die lärmenden Arbeiten über einen gewissen Zeitraum einstellen«, verdeutlicht Matteo.

Viel Kommunikation bedarf es bei so einem Projekt auch im Projektteam selbst. Dass diese regelmäßig zwischen den Verantwortlichen stattfindet und alle wissen, was zu tun ist, gehört ebenfalls zu einer zielführenden Rückbaupraxis. Selbstverständlich sollte zudem gewährleistet sein, dass auf der Baustelle ein Sicherheitskonzept für alle dort Arbeitenden und die Anwohner umgesetzt wird. Dazu gehört auch eine Gefährdungsbeurteilung hinsichtlich möglicher kontaminierter Materialien. Hier sagt das Zertifikat »Kontrolle ist besser« und fordert entsprechende Nachweise.

Rückbauzertifikat vereint Aspekte der Nachhaltigkeit

Insgesamt besteht das Zertifikat aus zwölf Kriterien, die Planenden aufzeigen, auf welche ökologischen, ökonomischen und soziokulturellen Aspekte zu achten ist. Ein Kriterium der ökonomischen Dimension ist die Risikoanalyse und Kostenschätzung, die sämtliche mögliche Unsicherheiten einbezieht und so eine verlässliche Planungsgrundlage bildet. Es schließt sich speziell beim Rückbau die Frage nach den Werten der verbauten Ressourcen an – möglicherweise erlauben diese, Gewinne zu erzielen. Das Dreisäulenmodell der Nachhaltigkeit bildet die Basis für alle Zertifizierungssysteme der DGNB. Zentral für die Funktionsweise des Zertifikats ist zudem die Berücksichtigung des gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes. Probleme werden so nicht in einen nächsten Zyklus verlagert. Dass die Ziele definiert und bewertet werden und nicht einzelne Maßnahmen, ist das dritte Charakteristikum der Zertifizierung – die Performanceorientierung. Neben den drei Säulen der Nachhaltigkeit gibt es auch Hilfsqualitäten. Sie unterstützen beim Rückbau dabei, die Prozesse richtig zu lenken und Technik so einzusetzen, dass die gesteckten Ziele erreicht werden.

Der nachhaltige Rückbau erfordert von allen Beteiligten ein Umdenken und legt die Basis für neue Planungs- und Ausführungsprozesse. »Wir legen mit dem Zertifizierungssystem ambitionierte Ziele fest, die heute noch kein Standard sind. Die Erstanwender zeigen, wie diese heute schon in der Praxis erreicht werden können und wo es noch Optimierungsbedarfe gibt«, sagt Lemaitre. Das Zertifizierungssystem wird von der DGNB deshalb auch als Instrument für die Transformation des Marktes beschrieben. Lemaitre rechnet zukünftig mit einer Wertsteigerung vorhandener Ressourcen und sieht Abbruchunternehmen in einer neuen Rolle als Beratung für Planende. »Sie kennen die Verwertungs- und Entsorgungswege und können beurteilen, wie ein Material beschaffen und verbaut sein muss, damit es nach 100 Jahren Nutzung möglichst werterhaltend verwertet werden kann.« Fest steht für sie, dass alle Expertisen noch viel stärker zusammengeführt werden müssen.

Die Lücke schließt sich

Die neuen Formen der Zusammenarbeit wussten auch die Projektverantwortlichen in Berlin und Frankfurt zu schätzen. »Wir waren sehr froh über unsere Baupartner, die das Vorhaben mit uns gemeinsam umgesetzt haben«, sagt Völkner von der Berlin Hyp. »Insbesondere die Begleitung durch den Auditor war zudem eine große Hilfestellung.“ Und auch Matteo betont: »Das große Interesse aller Beteiligten an einer nachhaltigen Rückführung des Materials und die partnerschaftliche Zusammenarbeit begeisterten uns.«

Noch ist die Lücke zwischen Rückbau und Neubau jedoch nicht geschlossen. Aber das Ziel ist klar und die Zahl der Rückbau-Nachahmer wächst. Sie werden zwar auf ein Neues nach der besten Ressourcenlösung vor Ort suchen, aber können bereits von den gemachten Erfahrungen der Erstanwender und von der stetigen Optimierung der Materialströme profitieren, die mehr und mehr Start-ups als Geschäftsmodell für sich erkennen.


  • Four Frankfurt
    Standort
    : Junghofstraße, Neue Schlesingergasse & Große Gallusstraße, 60311 Frankfurt a. M.
    Bauherr: Groß & Partner Grundstücksentwicklungsgesellschaft mbH
    Rückbauunternehmen: AWRAbbruch GmbH
    BRI: 320 000 m³
    Gesamtfläche Areal: ca. 16 000 m²
    Bauzeit Rückbau: März 2018 bis Januar 2019
    DGNB-Auditorin: Johanna Kübchen, Groß & Partner
  • Architekten/Stadtplaner Neubau: UN Studio, Amsterdam
    Tragwerksplanung Neubau: ARGE Tragwerksplanung (B+G Ingenieure Bollinger und Grohmann GmbH und Werner Sobek AG)
    Bauzeit: 2018 bis 2024
    DGNB-Auditor FOUR Frankfurt: Sebastian Pohl, Life Cycle Engineering Experts GmbH
  • Berlin Hyp
    Standort:
    Budapester Straße 1, 10787 Berlin
    Bauherr: Berlin Hyp AG, Berlin
    Rückbauunternehmen: Ed. Züblin AG – Direktion Nord
    BRI: 48 000 m³
    Areal des Rückbaus: 1 500 m²
    Bauzeit Rückbau: November 2020 bis Dezember 2021
    DGNB Auditor: Thomas Kraubitz, Buro Happold GmbH
  • Architekt Neubau: Møller Architects, Berlin
    Tragwerksplanung Neubau: Ed. Züblin AG – Zentrale Technik, Hamburg
    Bauzeit Neubau: Dezember 2021 bis Juni 2024

Pia Hettinger

Studium der Medienwissenschaften. Mitarbeit in einem Architekturbüro im Bereich Unternehmenskommunikation. Mitarbeit in der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen im Bereich redaktionelle Projekte und Öffentlichkeitsarbeit.

 

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