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Kunstvoll überbrückt

Brücke in Oberhausen
Kunstvoll überbrückt

Künstler und Ingenieure denken und arbeiten in unterschiedlichen Sphären, meint man. Doch wenn die Kunst zum Instrument des Strukturwandels wird und ohne Tragwerk nichts hält, kann der eine nicht ohne den anderen. Gegenseitige Zugeständnisse – in diesem Fall eines angesehenen Künstlers und eines ebenso bekannten Tragwerksplaners – sind also unvermeidlich. In Oberhausen wurden die Grenzen der Kompromissbereitschaft ausgereizt, ohne dass es dem geplanten Erscheinungsbild der Fußgänger- und Radfahrerbrücke schadete.

    • Künstlerisches Konzept: Tobias Rehberger Tragwerksplanung: schlaich bergermann und partner

  • Kritik: Uta Winterhager Fotos: Roman Mensing
Was die IBA Emscherpark in den 90er Jahren begonnen hatte, konnte die Europäische Kulturhauptstadt RUHR.2010 dank des erneuten Fördermittelregens vielerorts erfolgreich fortführen. Eines der unter dem Leitmotiv »Kultur durch Wandel – Wandel durch Kultur« durchgeführten Projekte war die EMSCHERKUNST.2010. Der regionale Wasserwirtschaftsverband Emschergenossenschaft, der außer für die Abwasserwirtschaft auch für die Renaturierung der Emscher verantwortlich ist, ließ daher im Frühjahr 2009 rund 40 Künstler Konzepte für Projekte entwickeln, die einen Sommer lang auf der Emscherinsel zwischen Oberhausen und Castrop-Rauxel zu sehen sein sollten.
»Slinky Springs To Fame«
Der Frankfurter Künstler Tobias Rehberger schlug nach einem Ortstermin eine Brückenskulptur vor, die den Kaiserpark und den auf der Insel gelegenen Reformpark verbinden sollte. Überlegungen, an dieser Stelle einen Überweg oder gar ein begehbares Landschaftskunstwerk zu errichten, um eine längst zerstörte Holzbrücke aus den 20er Jahren zu ersetzen, hatte es schon seit Jahrzehnten gegeben, ohne dass die Pläne jemals konkretisiert wurden. Mit der Brückenskulptur, einer bewegten schwarzen Spirale, die ein schmales buntes Band über den Kanal tragen sollte, versprach Rehberger schon im Planungsstadium die vielbeschworene Synergie von Kultur und Stadtentwicklung zu erzeugen.
Rehberger nannte sein Projekt »Slinky Springs To Fame« und zitierte damit die Anzeige, die 1946 für eine von dem amerikanischen Mechaniker Richard James entwickelte Spielzeugspirale warb. Auch wenn der Name hierzulande nicht so geläufig ist, fasziniert »Slinky« Kinder und Erwachsene auch nach über 60 Jahren noch. Wohl jeder hat schon einmal eine solche Spirale in der Hand gehabt, die – sollte es sich um eine hochwertige Ausführung gehandelt haben – aus scheinbar eigenem Antrieb die Treppe hinuntermarschiert.
Mit seiner Brückenskulptur wollte Rehberger aber mehr als nur eine Verbindung über den Kanal schaffen. Er wollte einen gerichteten Blick erzeugen, jedoch ohne die klaustrophobische Situation eines Tunnels. Zunächst als Handskizze, dann als computergenerierte Grafik inszenierte er daher die Dynamik der Spirale, dem, wie er es selbst beschrieb, »konstruktiv Schlechtesten«, das ›
› es gibt. Dass die Vision des Künstlers eine Sache ist, die Umsetzung aber eine ganz andere, musste auch das von der Emschergenossenschaft mit der Konstruktion der Brückenskulptur beauftragte Stuttgarter Ingenieurbüro schlaich bergermann und partner in den folgenden Monaten feststellen. Das von Andreas Keil, Knut Göppert, Sven Plieninger und Mike Schlaich geführte Büro ist mittlerweile auch in Berlin, New York und São Paulo beheimatet und mit der Bearbeitung anspruchsvoller Tragwerke bestens vertraut.
Die Unmöglichkeit der gebogenen Diagonale
Natürlich lag es nahe, dass die Ingenieure mit dem »Material« arbeiteten, das Rehbergers Visualisierungen ihnen bot: eine schwarze Spirale und ein buntes Band. Ihr Ehrgeiz war geweckt, auch konstruktiv etwas Neues zu entwickeln und die Spirale zum Tragwerk zu machen. Doch die Versuche, daraus ein Raumfachwerk zu entwickeln, scheiterten am fehlenden Obergurt und an der Unmöglichkeit der gebogenen Diagonalen. Auch die Idee, zwei Spiralen ineinander zu verschrauben, musste verworfen werden, als die Dimensionen der Bauteile zu groß wurden.
Die Lösung war schließlich eine klassische Spannbandbrücke, die das Band zum tragenden Element macht. Doch durch die filigrane Konstruktion bleibt die Spirale, auch wenn sie nicht tragwerkrelevant ist, das gestaltprägende Element. Ein weiterer positiver Aspekt ist, dass das leichte Schwingen der Spannbandbrücke den bewegten visuellen Eindruck auch physisch erlebbar macht. Die von schlaich bergermann und partner entwickelte Konstruktion spannt zwei 3 cm dicke und 46 cm breite Bänder aus hochfestem Stahl 66 m weit über den Rhein-Herne-Kanal zu geneigten V-Stützen, die die resultierenden Zugkräfte über vertikale Zugstäbe in kräftige Widerlager ableiten. Doch die Spannweite der Brücke ist in diesem Fall nicht die Attraktion, sondern die Fragilität der tragenden Konstruktion. Als Lauffläche dienen 12 cm hohe, aufgeschraubte Betonfertigteile mit einem 4 cm dicken, farbigen Kunststoffbelag. Mit ihrem Eigengewicht stabilisieren sie die nur 2,65 m breite Brücke.
Um die Durchfahrtshöhe des Kanals von 8 m einzuhalten, mussten die Unterkante der Spirale und des Durchhangs der Konstruktion von 1,27 m mit in die Berechnungen einbezogen werden. Bei Spannbandbrücken bestimmt der Durchhang die auf die Stützen wirkenden Zugkräfte: Je geringer der Stich, desto größer die Kräfte – will man jedoch die Widerlager entlasten, wird die Steigung des Spannbandes zu den Stützen hin größer, und die Brücke wäre möglicherweise nicht mehr für Rollstuhlfahrer geeignet. Hier liegt die Steigung am Rand des mittleren Felds der Brücke weit unter den maximal zulässigen Werten, was jedoch mit entsprechenden Zugkräften bezahlt werden musste.
Bei den Berechnungen zeigte sich auch, dass die in den ersten Skizzen von Rehberger gezeichnete Spiralgeometrie mit extrem diversen Radien und Staffelungen in der Praxis nicht umsetzbar war, Brückenhöhe und Baukosten wären ins Unermessliche gestiegen. Schon bei der schließlich realisierten Höhe von 10,30 m über Gelände (am höchsten Punkt über den Stützen) ist die Länge der andienenden Rampen auf beiden Seiten beträchtlich: 170 m im Kaisergarten, 130 m auf der Emscherinsel. Langsam winden sie sich auf Straßenniveau herab, sodass sich von verschiedenen Standorten auf der Brücke interessante Perspektiven ergeben, die der kontrolliert wirkende Lageplan so nicht vermuten lässt.
Spielen mit der Wahrnehmung
Die 496 Spiralbögen aus Aluminiumrechteckprofilen, die aus der Nähe betrachtet recht massiv wirken, wurden aus jeweils drei Einzelteilen vor Ort aneinander und mit zwei Streben an die Unterseite der Betonplatten der fertigen Spannbandbrücke geschraubt. Auch hier sollte die Konstruktion so unsichtbar wie möglich sein, um die Spirale schwebend erscheinen zu lassen. Nicht zuletzt die Krümmung und Neigung der Rampen erforderte an dieser Stelle die Entwicklung von verstellbaren Verbindungselementen, die auf die in unterschiedlichen Winkeln ankommenden Spiralbögen angepasst werden können.
Der vor Ort vergossene, farbig eingefärbte, federnde und tartanähnliche Belag der Lauffläche verstärkt den Eindruck, dass es sich bei »Slinky« tatsächlich um ein dynamisches Objekt handelt, das auf die Masse und Bewegung der › › Passanten reagiert. Wie bei den meisten der an der Schnittstelle von Kunst, Architektur und Design zu lokalisierenden Rehberger-Projekten, darunter auch die mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnete Neugestaltung der Biennale-Cafeteria (2009) in Venedig, spielt der Künstler auch hier mit Farben und Kontrasten und der manipulierten Wahrnehmung des Raums: Dieser scheint sich durch den Rhythmus des 16-farbigen Streifenmusters mit der Bewegung über die Brücke kontinuierlich zu verändern. Und genau dadurch wird die Brücke zum Kunstwerk, wenn plötzlich etwas Ungewöhnliches und Unerwartetes – und sei es nur ein dicker Streifen Lila – auftaucht und nicht nur den unmittelbaren Eindruck, sondern auch den Blick auf die Umgebung völlig verändert.
Vom Bild zum Bauwerk zum Bild
Während des gesamten Entwurfs- und Entwicklungsprozesses haben die Ingenieure und der Künstler eng zusammengearbeitet und dabei immer wieder die Grenzen der Kompromissbereitschaft des anderen getestet. Insbesondere an die Detaillösungen stellte Rehberger hohe Anforderungen. Auch wenn er die Brücke am liebsten ohne Handlauf und Absturzsicherung gesehen hätte, konnte er sich mit der von schlaich bergermann und partner entworfenen »rauen« Erscheinung der Sicherungsmaßnahmen aus verzinkten Rundrohren und Seilnetzen schließlich anfreunden. Konstruktiv wirkt der Maschendraht zusätzlich noch als Dämpfer, der die Bewegungsenergie über die Reibung an den unzähligen Knoten aufnimmt.
Schwierig umzusetzen waren auch die Anforderungen des Künstlers an das Beleuchtungskonzept: Rehberger wollte, dass die Brücke bei Dunkelheit von innen heraus strahlt. Um diesen Effekt zu erzielen, mussten die Planer LEDs wie auch deren Verkabelung im Bauwerk verstecken. Die LED-Lämpchen für die Unterseite wurden in ausgefrästen Öffnungen in den Spiralbögen versenkt, die für die Oberseite im Rundrohr des Handlaufs. Dabei kam den Ingenieuren zugute, dass die Brücke fast nur aus eigens entwickelten Bauteilen besteht, in die auch diese Funktion noch integriert werden konnte.
Zwei strenge Winter, dauergefrorener Boden, der sich bei Gründungsversuchen als sumpfig erwies, nicht dokumentierte Spundwandverankerungen und Kampfmittelfunde aus Kriegszeiten verursachten immer wieder Verzögerungen und Umplanungen, sodass die Brücke erst nach 15-monatiger Bauzeit am 25. Juni 2011 eingeweiht werden konnte. Damit wurde zwar die EMSCHERKUNST.2010 um fast ein Jahr verpasst und die Baukosten nahezu verdoppelt, doch davon einmal abgesehen, entstand ein Projekt mit einem erheblichen künstlerischen, technischen und infrastrukturellen Mehrwert.

Bemerkenswert an der Ingenieurleistung ist, wie viel Sachverstand und Ehrgeiz eingesetzt wurden, um eine Konstruktion maßzuschneidern, die ihre Funktion als Tragwerk optimal erfüllt. Und die sich gleichzeitig in der Erscheinung so zurücknimmt, dass es schließlich, wie in Rehbergers ersten Skizzen, nur noch die schwarze Spirale und das bunte Band sind, die sich dem Betrachter einprägen.


  • Standort: Kaisergarten, Konrad-Adenauer-Allee 48, 46049 Oberhausen

    Bauherr: EMSCHERGENOSSENSCHAFT, Essen, vertreten durch Martina Oldengott Künstlerisches
    Konzept: Tobias Rehberger, Frankfurt a. M.
    Tragwerks-, Ausführungs- und Lichtplanung: schlaich bergermann und partner, sbp, Berlin und Stuttgart
    Projektteam: Mike Schlaich, Mathias Nier, Christiane Sander
    Objektplanung: sbp mit MAKADO, Oberhausen
    Landschaftsarchitekten: Davids | Terfrüchte + Partner, Essen
    Gesamtlänge: 406 m Spannweiten
    Spannbandbrücke: 20 m, 66 m und 20 m
    Spannweite Rampenbrücke: 10 m Überbauhöhe Spannbandbrücke: 12 cm Überbauhöhe Rampenbrücken: 25 cm Baukosten: 5 Mio. Euro
    Bauzeit: Januar 2010 bis Juni 2011
  • Beteiligte Firmen: Bauausführung: ARGE Stahlbau Raulf, Duisburg, und IHT Bochum, www.stahlbau-raulf.de Belagsarbeiten: BSW Berleburger Schaumstoffwerk, Bad Berleburg, www.stahlbau-raulf.de
    LED-Technik: Insta Elektro, Lüdenscheid, www.stahlbau-raulf.de
»Wenn ein Künstler und ein Bauingenieur zusammenarbeiten, müssen sie zuerst einmal eine gemeinsame Sprache finden. Sich einbringen und zuhören können: Wenn das Planungsteam sich versteht, ist es nur ein kleiner Schritt zum guten Entwurf.« Mike Schlaich, sbp
1 Reformpark 2 Rhein-Herne-Kanal 3 Schloss Oberhausen 4 Kaisergarten
Durchmesser der Spirale: 5 m Breite des Geh- und Fahrwegs: 2,67 m
Lichtraumprofil 8 m

Oberhausen (S. 18)

Tobias Rehberger
1966 in Esslingen geboren. Studium an der Hochschule für Bildende Kunst, Frankfurt a. M., lebt in Frankfurt und Berlin.
schlaich bergermann und partner
Mike Schlaich
1960 in Cleveland (USA) geboren. Diplom und Dissertation an der ETH Zürich. Seit 1993 bei schlaich bergermann und partner, seit 1999 als Partner. Seit 2004 Professur an der TU Berlin.
Uta Winterhager
1972 in Bonn geboren. 1992-95 Architekturstudium in Aachen. 1995 Diplom und 1999 Master an der Bartlett School in London. 1997-99 Bürotätigkeit in London, seit 2000 freie Autorin für Architektur und Kinderliteratur.
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