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Fussgängerverbindung mit Schräglift in Chur (CH) Esch Sintzel Architekten

Fussgängerverbindung mit Schräglift in Chur (CH)
Zwiesprache mit dem Ort

Die Situation war prekär: 1 300 Schüler mussten mehrmals täglich die stark befahrende Bergstraße nach Arosa überwinden, um von einem Klassenraum zum anderen zu gelangen. Von behindertengerechtem Ausbau ganz zu schweigen. Anstatt aber »nur« einen Tunnel in den Berg zu treiben, entschieden sich Esch Sintzel Architekten dazu, den Weg mit grandiosen Ausblicken in Szene zu setzen. So haben die Schüler heute, beim Wechsel von dem einen zu dem anderen Schulgebäude, eine kurze Auszeit an der frischen Luft.

  • Kritik: Barbara Mäurle Fotos: Walter Mair, Barbara Mäurle
Will man die Entstehungsgeschichte der im Frühjahr fertiggestellten Fußgängerverbindung zwischen zwei Schulkomplexen nahe der Churer Altstadt erzählen, ist es unumgänglich, ausführlich auf den städtebaulichen Kontext einzugehen. Vielleicht intensiver als sonst üblich. Denn der Ort besitzt architektonische Besonderheiten, auf die die Treppenanlage, ohne sich unterzuordnen, sensibel eingeht. Beim Einstieg, in der »Plessur-Aue«, wurde zwischen 1962 und 1964 von Andres Liesch das Bündner Lehrerseminar erbaut – ein ›
› wohlproportionierter Sichtbetonbau mit L-förmigem Grundriss, der aufgrund einer umfassenden Sanierung durch den Churer Architekten Pablo Horváth seine ursprüngliche Anmutung gänzlich zurückerhalten hat. Parallel zum Hang angeordnet wird der Bau außerdem seit 1999 durch einen gläsernen Naturwissenschaftstrakt nach Plänen von Bearth & Deplazes städtebaulich ergänzt. Mit weitem Blick ins Rheintal befindet sich am Ausstieg der Anlage, »auf der Halde«, die monumentale Kantonsschule von Max Kasper aus dem Jahr 1965. Auch dieses Gebäude ist – wie das Bündner Lehrerseminar – ein bedeutendes Stück Architekturgeschichte für Schulbauten aus den 60er Jahren. Bei der Kantonsschule Halde ist die Sanierung zwischen 2007 und 2010 durch Jüngling & Hagmann jedoch mit weniger Feingefühl vonstattengegangen als bei seinem Gegenstück im Tal: Die ursprüngliche Cortenstahl-Fassade wurde abgenommen und durch braunes Glas ersetzt. Schade, würde sie heute doch gut mit der rostigen Hülle der neuen Fußgängerverbindung korrespondieren.
Nähert man sich der neuen »Aufstiegshilfe« von Esch Sintzel , die weder Skulptur noch Gebäude ist, vom Tal her, kann der Besucher den Eindruck gewinnen, dass der Weg schnurstracks hinauf zur romanischen Churer Kathedrale mit Friedhof, bischöflichem Weinberg und Priesterseminar führt. Ein Eindruck, der zeigt, wie sensibel alle Baumeister, trotz Monumentalbauten in direkter Nachbarschaft, mit der Kirche im letzten halben Jahrhundert umgegangen sind. Erwähnenswert im städtebaulichen Kontext ist außerdem das Konvikt der Bündner Kantonsschule aus den 60er Jahren von Otto Glaus, Ruedi Lienhard und Sep Marti: Der monolithische Sichtbetonbau in steiler Hanglage ist weiter oben am Berg etwas abseits angesiedelt und besitzt die archaische Ausstrahlung eines tibetischen Klosters. Das Gebäude steht zwar nicht in direktem Zusammenhang mit der Treppenanlage, ist aber – zumindest für die Schüler des Internats – Teil ihres täglichen Schulwegs. Auch dieses denkmalgeschützte Gebäude soll saniert werden – im Moment ist aber noch ungewiss wie, da die monolithischen Betonkonstruktionen aus den 60er Jahren bekanntermaßen große Schwierigkeiten in sich bergen.
Ausgangssituation und Wettbewerb
Aufgrund der Schließung des Lehrerseminars 2005 konnte die aus allen Nähten platzende Kantonsschule auf der Halde den Gebäudekomplex in der Plessur-Aue übernehmen. Dies bedeutete zwar zusätzlichen Raumgewinn, über 1 300 Schüler mussten aber nun mehrmals täglich zwischen Tal und Berg per pedes pendeln. Rund 30 Höhenmeter galt es zu überwinden. Einzige Verbindung stellte die steile, kurvige Straße nach Arosa dar, die zudem von Schwerlastverkehr befahren wird. 2009 suchte die Gemeinde Chur im Rahmen einer eingeladenen Studie nach Lösungen für die durchaus ›
› prekäre Situation für Schüler und Lehrer. Die Züricher Architekten Esch Sintzel konnten mit ihrem Entwurf gegen viel Lokalprominenz überzeugen, da sie nicht, wie erwartet, einen Tunnel in den Berg trieben, sondern den Schulweg als eine dichte Abfolge von Ausblicken auf Kathedrale, Altstadt, Plessur- und Rheintal inszenierten. Des Weiteren sprach für die Idee der Planer, dass ihr Weg für Behinderte und Schüler ohne Handicap an den gleichen Punkten startet und ankommt. Gelungen ist ihnen das durch die Einbindung eines seilgezogenen Schrägaufzugs, um dessen Achse sich die Treppenanlage quasi herumwindet.
Schwerer Sockel, leichte Hülle
Nimmt man es ganz genau, startet die Treppenanlage geschätzte 10 m vor dem Aufzug – sie nimmt »Anlauf« und gräbt sich zuerst einmal unter der Straße nach Arosa durch den Fels. Dann geht es mal parallel, mal orthogonal zum Hang bzw. zum Lift – immer mit wechselnden Ausblicken in die Landschaft und durch die Überdachung mit Cortenstahl gut vor Witterung geschützt – steil den Berg hinauf. Und das zügiger als zu Beginn erwartet. Das letzte Wegstück verläuft wie zu Anfang parallel zum Schrägaufzug. Fußgänger und Liftnutzer erreichen letztendlich exakt am gleichen Punkt ihr Ziel.
Zu keiner Zeit wirkt der Weg dabei dunkel oder gar abweisend. Bei Dunkelheit leuchten unsichtbar unter dem Handlauf angebrachte LEDs Schülern und Lehrern den Weg. Die Beleuchtung wird aber selten angeschaltet, da sich das Tageslicht als ausreichend herausstellte. Für viel Helligkeit sorgt dazu ein weißer Anstrich im Innern, der dem Schiffsbau entlehnt ist sowie die filigrane, nur 12 mm dicke Ummantelung aus wetterfestem Baustahl. Verstärkt wird die Filigranität des Materials durch die wabenförmigen Ausschnitte in den Seitenwänden. Gestalterische Anregungen zur Konzeption der papierhaften Gebäudehülle fanden die Architekten bei zwei völlig unterschiedlichen Gebäuden: zum einen beeindruckte sie hinsichtlich des Materials ein Wohnhaus in Tokio mit 16 mm dicken Cortenstahl-Wänden von Kazuyo Sejima zum anderen ließen sie sich bei der Gebäudeform durch die gedeckten Wallfahrtwege in Oberitalien inspirieren. Genauer gesagt vom Bogengang »Portico di San Luc«, der bei Bologna zum Kloster »Madonna di San Luca« (1674-1793) hinaufführt. Das Bild des überdachten Pilgerwegs passt in diesem Fall besonders gut zur benachbarten Kathedrale und unterstreicht ihre Sonderstellung im baulichen Kontext. Die sechseckigen, wabenförmigen Öffnungen haben wiederum einen anderen Hintergrund: Diese Geometrie entsteht, wenn ein Stahlträger mittig auseinandergeschnitten und um ein Element versetzt wieder zusammengefügt wird. »Die Sprache des Stahlbaus und die Räumlichkeit der Arkade werden damit zusammen gebracht« – so Architekt Esch.
Ein großer Teil des Bauwerks berührt den Fels, ist aus dem Fels gehauen, auf den Fels gestellt oder am Fels »angegossen«. Hier kam Beton zum Einsatz. In den ersten Planungen sollte der Fels im Tunnel sichtbar bleiben, jedoch stellte sich der Hang als zu instabil heraus, um diese Idee Realität werden zu lassen. Die darüber gesetzte Cortenstahl-Hülle ist geschweißt und eine kubistisch geknickte, doppelte Dachkonstruktion verleiht ihr die benötigte Standhaftigkeit.
Ausblick in die nahe Zukunft
Mit einem Hybrid aus Weg und Haus ist es Esch Sintzel Architekten gelungen, dem imposanten Ort einfühlsam den noch fehlenden Zusammenhalt zu geben. Ein wichtiges Verbindungselement zwischen oben und unten, alter und neuer Architekturgeschichte, Berg und Tal. Dabei ist der Bau kein reines, sich unterordnendes Verbindungselement, sondern behauptet sich als selbstständiges Gebilde im bestehenden Kontext. Der ganze Charme der Anlage wird sich jedoch erst entfalten können, wenn in der Plessur-Aue unten im Tal die letzten Holzbaracken abgerissen und durch Neubauten ersetzt sind. Ein Wettbewerb dazu ist bereits durchgeführt. Diesen konnte der St. Gallener Architekt Andy Senn für sich entscheiden. Mit zwei Bauköpern wird er den Schulkomplex vervollständigen und die Treppenanlage städtebaulich näher ins Zentrum des Campus´ rücken. Das architekturgeschichtlich wichtige Schwimmbad von 1922 bleibt erhalten und wird durch die neue städtebauliche Situation aufgewertet. •
    • Standort: Münzweg, 7000 Chur (CH)

      Bauherr: Hochbauamt Graubünden
      Architekten: Esch Sintzel Architekten (Philipp Esch, Stephan Sintzel), Zürich
      Mitarbeiter: Claudia Mühlebach (Projektleitung), Marco Rickenbacher
      Tragwerkplanung: Dr. Lüchinger & Meyer Bauingenieure, Zürich
      Baumanagement: Zoanni Architektur und Baumanagement, Chur (Projektleitung Urs Meng)
      Lichtplanung: Amstein & Walthert, Zürich, Daniel Tschudy / mosersidler. für Lichtplanung, Zürich Landschaftsarchitektur: Luzius Saurer, Bern (Wettbewerb)
      Baukosten: 5 Mio. Schweizer Franken (rund 4,15 Mio. Euro)
      Bauzeit: 2011 bis 2012
    • Beteiligte Firmen:
      Stahlbauarbeiten: Tuchschmid, Frauenfeld Ev.
      Baumeisterarbeiten: Andrea Pitsch, Thusis

Chur (CH) (S. 36)

Esch Sintzel Architekten


Philipp Esch
1968 in Göttingen geboren. 1986-92 Studium in Zürich und Indien. Mitarbeit in mehreren Büros. 1997-2002 Lehrtätigkeit. Seit 1999 eigenes Büro, seit 2008 mit Stephan Sintzel. 2002-04 redaktionelle Tätigkeit.

Stephan Sintzel
1970 in Zürich geboren. Studium in Winterthur und Zürich. Mitarbeit in mehreren Architekturbüros. Seit 2002 eigenes Büro, seit 2008 mit Philipp Esch.
Barbara Mäurle (bm)
1971 in Stuttgart geboren. Architekturstudium, 2001 Diplom. 2001-04 Mitarbeit im Architekturbüro. 2004- 05 redaktionelle Mitarbeit bei AIT und Detail. 2005-10 PR-Beraterin. Seit Februar 2010 in der db-Redaktion.
 
 
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