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Innere Einkehr Komplexe Einfachheit

Unteres Gästehaus, Kartause Ittingen (CH)
Innere Einkehr Komplexe Einfachheit

Das ehemaligen Kloster dient heute als Ort der Begegnung und als Seminarhotel. Die sehr reduzierte Gestaltung der Hotelzimmer atmet den Geist von Mönchszellen. Ein besinnlicher Ort, um der Hektik des Alltags zu entfliehen.

    • Architekten: Regula Harder und Jürg Spreyermann Tragwerksplanung: Ingenieurbüro Wälli

  • Text: Judit Solt Fotos: Walter Mair
Die Kartause Ittingen zählt zu den wichtigsten Kulturdenkmälern im Thurgau: Die Gründung durch die Augustiner geht auf das Jahr 1150 zurück. 1461 wurde die Anlage an den Kartäuserorden verkauft, dem sie fast vier Jahrhunderte lang als Kloster diente. Die ehrwürdige Bausubstanz – Mönchsklausen, Refektorium, Kapitelsaal, Sakristei und Klosterkirche – ist bis heute weitgehend erhalten geblieben, obwohl die Kartause 1848 säkularisiert und später als privater Landwirtschafts-, Weinbau- und Weinhandelsbetrieb genutzt wurde. In den letzten zwei Jahrzehnten hat das ehemalige Kloster als Seminarzentrum neue Bekanntheit erlangt; zurzeit umfasst der Betrieb zwei Hotels mit insgesamt 67 Betten, ein Restaurant und 21 Räume für Workshops und Kongresse. Weiterhin gibt es ein landwirtschaftliches Gut mit Käserei und Weinbau, einen Laden, ein Heim und einen Werkbetrieb für psychisch und geistig Behinderte, ein evangelisches Begegnungs- und Bildungszentrum sowie zwei Museen im inneren Klosterbezirk.
Verantwortlich für den ungewöhnlichen Nutzungsmix ist die Stiftung Kartause Ittingen, welche das Kloster 1977 gekauft und in den folgenden Jahren restauriert hat. Das Betriebskonzept beruft sich auf die »an diesem Ort gelebten klösterlichen Werte wie Fürsorge, Bildung und Begegnung, Besinnung, Spiritualität und Naturverbundenheit«. Damit hat die Stiftung insbesondere in Bezug auf den Seminarbetrieb ökonomische Weitsicht bewiesen. Schließlich ist die Kartause Ittingen keineswegs das einzige Seminarzentrum der Ostschweiz, die Region ist reich an ebenso idyllisch gelegenen Konkurrenten: Auf diesem gesättigten Markt stellt Geschichte ein nicht zu vernachlässigendes Verkaufsargument dar. Mit viel Sorgfalt widmet sich die Stiftung deshalb der Erhaltung und Aufwertung der historischen Bausubstanz; dass diese nicht – wie es nur allzu oft geschieht – zur kommerziellen Kulisse verkommt, sondern mit viel Sensibilität gepflegt wird, kann den Verantwortlichen nicht hoch genug angerechnet werden.
Ein Ganzes aus alt und neu
Jüngstes Beispiel dieses baukulturellen Engagements ist der Umbau des Unteren Gästehauses. Das Ökonomiegebäude aus dem 18. Jahrhundert ist seit seiner Entstehungszeit laufend den neuesten Bedürfnissen der Landwirtschaft angepasst worden. Zwischen 1977 und 82 erfolgte die Umnutzung zu einer einfachen Herberge mit Mehrbett-Zimmern, Etagenbädern und Seminarräumen; Projektarchitekten waren damals ›
› Esther und Rudolf Guyer, die im Auftrag der Stiftung während 25 Jahren für die baulichen Interventionen in der Kartause verantwortlich zeichneten. Mit der Zeit ging die Nachfrage nach bescheidenen Unterkünften indes kontinuierlich zurück. Es erfolgte der Beschluss, die Herberge in ein Seminarhotel neuesten Standards zu transformieren. Ausschlaggebend waren neben gestiegenen Komfortansprüchen auch betriebliche Überlegungen: Durch den Umbau sollte ein gleichwertiges Pendant zum Oberen Gästehaus entstehen, das bereits als Seminarhotel diente. Es galt, die beiden Hotels zu einem einzigen Betrieb zusammenzufassen und dank einheitlicher Übernachtungspreise mehr Flexibilität bei der Auslastung zu erzielen. Den 2001 unter drei Architekturbüros ausgeschriebenen Studienauftrag – Esther und Rudolf Guyer gingen damals in Pension – konnten Harder und Spreyermann für sich entscheiden.
Heute präsentiert sich das Untere Gästehaus, das eine markante Ecke der Klosteranlage bildet, als kraftvolles Volumen mit schwerem Dach. Den Architekten ist es gelungen, die nach vielen Umbauten etwas chaotische Erscheinung des Gebäudes zu vereinheitlichen. Die Erker aus den achtziger Jahren, die das Dach durchstießen und die Fassade dominierten, wurden entfernt und neue Öffnungen hinzugefügt. Dabei vermieden Harder und Spreyermann jede kontrastierende Gegenüberstellung von Alt und Neu. So ist etwa das kleine Fenster unter dem Quergiebel kaum als neu zu identifizieren; und obschon das Schiebefenster im Foyer oder das Panoramafenster im Dachgeschoss unverkennbar aus unserer Zeit stammen, zeigen sie die gleichen massiven Laibungen wie auch die im Original erhaltenen Tore und Fenster. Trotz teilweise sehr unterschiedlicher Formate bilden alte und neue Öffnungen eine harmonische Komposition, die den muralen Charakter des Gebäudes unterstreicht.
Luxuriöse Kargheit
Auch im Inneren werden längst vergessene Qualitäten des Altbaus wieder spürbar. Die Dimension des ursprünglich zusammenhängenden Raumvolumens, das durch spätere Einbauten in funktional unabhängige Teile getrennt worden ist, wird durch einen haushohen ›
› Treppenturm wirkungsvoll inszeniert. Wie eine riesige Skulptur nimmt der Turm die Mitte des Hauses ein: Im Erdgeschoss öffnet er sich zum Foyer, in den beiden Obergeschossen erweitert er sich zu verschiedenen Aufenthaltsbereichen, im Dachgeschoss kulminiert er in einer großen Halle unter dem Quergiebel, die wiederum zur bestehenden Kaskadentreppe der Aula führt. Der Treppenturm leistet indes mehr als die Herstellung räumlicher Zusammenhänge: Dank den künstlerischen Interventionen von Harald F. Müller und Ernst Thoma fungiert er zugleich auch als Zentrum eines Farb- und Klangraumes, in dem sich die Geschichte der Kartause in abstrahierter Form niederschlägt. Harald F. Müller hat zwei Wände des Gästehauses auf der Basis einer Farbanalyse der historischen Gebäude gestaltet. Die Stirnwand des Foyers ist türkisblau, während die über drei Geschosse aufragende Wandscheibe des Treppenturms in einem kräftigen Rot leuchtet, dessen Reflexionen die weiß gekalkten Betonoberflächen in wechselnde Farbschattierungen tauchen. Die Klanginstallation von Ernst Thoma wiederum zeichnet mit kurzen, unvermittelt durch die Räume hallenden Klangstücken den Tagesrhythmus der Mönche nach. Selbst die zurückhaltenden Beschriftungen des Grafikers Urs Stuber sind von strenger Schlichtheit.
Die moderne Interpretation klösterlicher Motive prägt auch die Gästezimmer. Die Räume sind von der Einsamkeit, Konzentration und Kargheit der Kartäuserzellen inspiriert: Weiße Wände, Böden aus beige-grauem Hartbeton, als Möbel gibt es lediglich ein Bett und einen Stuhl aus massivem Holz. Dennoch wirken die Zimmer nicht unterkühlt: Die ungewohnte Leere lässt die Sinnlichkeit der Materialien umso deutlicher hervortreten. In aller Ruhe gleitet der Blick, einmal nicht durch unzählige Alltagsgegenstände abgelenkt, über die ausgewogenen Linien des Raums und der Möbel. Manchen Gast mag die Ordnung des Zimmers zu einer Ordnung der eigenen Gedanken inspirieren. Auf jeden Fall steht die heitere, fast meditative Ruhe der »Zellen« in erholsamem Kontrast zu dem, was die meisten wohl vom Reisen oder womöglich auch von zu Hause kennen: Reizübersättigung und Chaos. Dennoch verfügen die Zimmer über alle Annehmlichkeiten eines Seminarhotels. Ein frei im Raum stehender Holzkubus verbirgt Garderobe, Dusche, WC, Waschbecken, Ablagen und Minibar; ein Flatscreen-Fernseher und eine Tischplatte können herausgeklappt werden. ›
› So einfach der minimalistische Block auf den ersten Blick wirkt, so kunstvoll ist die Infrastruktur darin integriert. Dies mag als Widerspruch zur scheinbar mönchischen Einfachheit der Zimmer gelesen werden – viel eher aber als Brückenschlag in vergangene Jahrhunderte: Mit ebenso pragmatischer Virtuosität waren die hölzernen Bettnischen in den Klausen der Kartäuser verborgen.

Die Architektursprache von Harder und Spreyermann ist präzise und vielschichtig, selbstbewusst und rücksichtsvoll. Über 800 Jahre Kulturgeschichte sind ein wertvolles USP für ein Seminarhotel – und eine hohe Messlatte für bauliche Interventionen. Diesbezüglich ist das Untere Gästehaus der Kartause Ittingen ein Glücksfall: Alt und Neu ergänzen sich harmonisch, der Bezug auf klösterliche Motive wirkt raffiniert und selbstverständlich.


  • Standort:

    Bauherr: Stiftung Kartause Ittingen (CH)
    Architekten: Regula Harder und Jürg Spreyermann, Zürich
    Mitarbeiter: Serge Schoemaker (Studienauftrag), Samuel Sieber (Projekt- und Bauleitung), Benjamin Schmücking, Douwe Wieërs, Daniel Frei
    Kunst am Bau: Harald F. Müller, Oehningen; Ernst Thoma, Stein am Rhein (CH)
    Grafik: Urs Stuber, Frauenfeld (CH)
    Tragwerksplanung: Ingenieurbüro Wälli AG, St. Gallen (CH)
    Elektroplanung: H. Möller Ing. HTL AG, Frauenfeld Lichtplanung: Vogt & Partner, Winterthur (CH)
    HLS-Planung: 3-Plan Haustechnik Raimann & Diener AG, Winterthur
    Bauphysik: Zehnder & Kälin, Winterthur Beratung
    Baurealisation: Bosshard & Partner Baurealisation AG, Zürich
    Hauptnutzfläche: 815 m²
    Baukosten: 637 Mio sFr
  • Beteiligte Firmen: Holzbau: Sommerhalder Holzbau AG, Märstetten (CH), holzbau-sommerhalder.ch Lüftungsanlagen: Axima AG, Winterthur (CH) www.axima.ch
    Hartbetonboden: Walo Bertschinger AG, Zürich, www.axima.ch
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