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Manifeste der Kontinuität

Rückblick auf die Rubrik »… in die Jahre gekommen«
Manifeste der Kontinuität

Bei der Beurteilung aktueller Architektur tut sich zumeist eine gewichtige Fehlstelle auf: Das Prozesshafte von Entwurf, Bau, Nutzung und schließlich Alterung eines Gebäudes lässt sich schwer erfassen. Erst die Betrachtung über die Zeit hinweg lässt ermessen, inwiefern ein Gebäude die an die Bauaufgabe geknüpften Erwartungen erfüllt. Aus dieser Überlegung heraus entstand die bei den Lesern außerordentlich beliebte Rubrik »… in die Jahre gekommen«, die untersucht, wie gut Gebäude und Konzepte durch die Zeit kommen. Im Jubiläumsjahr 2016 hat die db sie ein wenig modifiziert: Den Wiederbetrachtungen der Gebäude sind die db-Artikel aus der Entstehungszeit gegenübergestellt und lassen so auch unterschiedliche Betrachtungsweisen damals und heute deutlich werden.

Text: Ursula Baus
Die Idee zu den Wiederbesuchen von Bauwerken stammt aus England. 1985 war Wilfried Dechau Gastredakteur bei architect’s journal in London gewesen, und im gleichen Verlagshaus leitete damals Peter Davey die Architectural Review. In der Review erschienen gelegentlich Beiträge über Bauten, die etwa 25 Jahre alt waren, um Lehren aus ihren Alterungsprozessen zu ziehen. Das Urteil »it weathers good« kam dabei einem Ritterschlag gleich, den Bauhistoriker zur Kenntnis nehmen mussten. Bei der db brauchten wir noch drei Jahre, um aus dieser Wiederbesuchsidee ein tragfähiges Konzept für eine entsprechende Rubrik zu entwickeln, die in aller Bescheidenheit »… in die Jahre gekommen« getauft wurde. 1988 ging es los. Schon damals griff eine Unart um sich, die uns heute mehr und mehr zu schaffen macht: der Abriss des jüngst Gebauten. Die Metastadt Wulfen, Mitte der 70er Jahre gebaut und von der internationalen Kritik hochgelobt, war bereits ab 1987 abgerissen worden. Die Sanierung wurde als zu teuer erachtet. Von Grauer Energie redete noch niemand.
Ein Doyen der Architekturgeschichtsschreibung, der zugleich die Gegenwartsarchitektur anerkennend und kritisch begleitete, konnte für den Aufschlag der Rubrik gewonnen werden: Wolfgang Pehnt, der sich einen eigenen Beitrag vorknöpfte, sein Buch »Neue deutsche Architektur« von 1970. Pehnts Kommentare zu seinen eigenen Thesen konnten in der db 1/1988 durchgängig in einer anderen Farbe als dem leidigen Schwarz gedruckt werden, was damals noch publizistischer Luxus war. So ließ sich Pehnts Beitrag leicht, amüsant und erkenntnisträchtig lesen – u. a. aufgrund von Hinweisen, die er mit »Merke!« einleitete: »Nicht nur Architektur ist zeitverhaftet, die Architekturkritik ist es auch.« Oder: »Funktionen ändern sich ebenso rasch wie Formen«, und: »Auch Individualität ist eine Konvention«. Er sprach den fiktiven Charakter von Stadtöffentlichkeit an, revidierte aus zeitgeschichtlichen Entwicklungen heraus, relativierte das eigene Urteil – »Marburg erschien mir damals als großes Vorbild. Habe es mir vorsichtshalber nicht wieder angesehen«. In seiner pointierten Selbstkritik klangen fast alle Vorgaben an, mit der sich die Rubrik »… in die Jahre gekommen« bis heute befasst.
So nahmen wir uns Ikonen wie die Oper von Sidney, die fragwürdig konstruiert, aber fantastisch gepflegt worden war (db 9/96) genauso vor wie Fundstücke, beispielsweise die Kirche Maria Regina von Klaus Franz in Fellbach (db 10/91). Wir untersuchten Sanierungsmethoden (Stuttgarter Liederhalle von Gutbrod und Abel, db 5/1989) und staunten über Architekten, die trotz zauberhafter Bauten Opfer unaufmerksamer Bauhistoriker zu werden drohten (Heinz Bienefeld mit seiner Kirche Sankt Willibrord im saarländischen Waldweiler, db 3/2008). In der Rubrik wurde landläufigem Misstrauen gegen Massenwohnungsbau entgegengetreten (Stuttgart-Asemwald, db 11/2009) und höchste Not für Meilensteine der Architekturgeschichte antizipiert (Frei Ottos Multihalle in Mannheim, db 9/2015).
Der db trug dieses einzigartige publizistische Engagement 1995 immerhin eine Trophäe ein: die »Silberne Halbkugel« des Deutschen Komitees für Denkmalschutz.
1988 hatten wir angekündigt, »Gebrauchsspuren zu deuten«. Dahinter steckte auch ein Misstrauen gegenüber den Disziplinen, die Deutungshoheiten in der Architekturbewertung beanspruchen: Kritik, Baugeschichtsschreibung, Denkmalpflege. Letztere hat sich in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger selbst entmachten lassen. Baugeschichtsschreibung und Architekturkritik nahmen wir in ihrer Genese und Methodik separat auf und beauftragten Klaus Jan Philipp mit Essayreihen, die genauso wie einige »…in die Jahre gekommen«-Beiträge auch in einer kleinen Buchreihe aufgenommen wurden.
Architekten darf man durchaus vorhalten, dass sie sich um die Geschichte ihrer eigenen Berufe primär kümmern, wenn sie Brauchbares suchen. So driftet ein Teil der Architektenschaft in die populäre Rekonstruktion ab, weil sie nicht begreift, dass uns gerade in Deutschland die Kontinuität als Baukulturaspekt fehlt. In der Rubrik »…in die Jahre gekommen« kreuzten sich unterschiedliche Zeitspuren, die es überall und immer im Auge zu behalten gilt. Wir wollten mit der Rubrik explizit zur Kontinuität in den Architekturdiskursen beitragen, um aus unnützen, falschen Gegensätzen wie »alt und neu« oder »modern und traditionell« herauszukommen.

Ursula Baus war von 1989 bis 2004 Redakteurin der db. Ihr war die Rubrik »… in die Jahre gekommen« eine Herzensangelegenheit, denn allzu oft musste sie feststellen, dass, wer seine Wurzeln nur unzureichend kennt, auch kaum etwas überzeugendes Neues zustande bringt. So kümmert sie sich seither als freie Journalistin v. a. im Internet verstärkt um die bedrohte Nachkriegsmoderne.
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