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Atelier Kempe Thill: Wohn- und Geschäftshaus in Antwerpen (B)

Haus als Modul
Wohn- und Geschäftshaus in Antwerpen

In einem neuen Viertel entwarfen die Architekten Atelier Kempe Thill ein Haus, das verschiedene Funktionen verbindet und sich auch als Stadtbaustein verstehen ließe. Hinter einer zunächst rational anmutenden Struktur zeigen sich Wohnräume, die städtische und vorstädtische Qualitäten zusammenführen.

Architekten: Atelier Kempe Thill
Tragwerksplanung: VK architects & engineers

Kritik: Olaf Winkler
Fotos: Ulrich Schwarz

Antwerpen erlebt immense Transformationen. Weite, funktional brachliegende Gebiete werden entwickelt, etwa rund um den historischen Hafen oder am einstigen Schlachthaus. Nieuw Zuid, im Süden an der Schelde gelegen, hat dabei eine Sonderstellung, weil kaum mehr von Umbau die Rede sein kann, sondern auf dem geräumten Areal eines einstigen Rangierbahnhofs ein ganz neues Quartier entsteht. Und während sonst meist die stadteigene Entwicklungsgesellschaft AG Vespa führend verantwortlich ist, liegt Nieuw Zuid mit Ausnahme einzelner Bauten in Händen des privaten Developers Triple Living. Bis 2030 soll eine Nachbarschaft mit rund 2000 Wohneinheiten von gehobenen Kaufapartments bis Sozialwohnungen, mit Büros, Schulen, Kindergärten, Läden und einem Studierendenwohnheim heranwachsen. Ein Masterplan der Mailänder Secchi – Viganò von 2012 gibt dafür ein – nun zu rund einem Drittel gefülltes – Streifensystem senkrecht zum Fluss vor, in dem sich Hoch- und Flachbauten, Straßen, Pfade und offene Räume abwechseln.

Es ist dieses Stadtbauen, vor dem die Architekten Atelier Kempe Thill ihr 2019 fertiggestelltes Zuiderplein-Projekt als „städtebauliches Modul und Architektur zugleich“ bezeichnen. Das ist grundsätzlich zu verstehen und betont gleichzeitig die besondere Lage. Über einer gemeinsam mit POLO architects geplanten Tiefgarage bebauten beide Büros, die in der Nähe schon zuvor bei einem Projekt kooperiert hatten, je einen separaten Baublock. Kempe Thill erhielt dabei jene Fläche, die sich dem neuen zentralen Viertelsplatz zuwendet und diesen maßgeblich prägt.

Wohnungen teilweise über Laubengänge erschlossen

Auf einem Umriss von 45 x 45 m entwickelten die aus Deutschland stammenden, seit mehr als 20 Jahren in Rotterdam tätigen Architekten Atelier Kempe Thill rund um einen Innenhof eine Struktur, die kaum rationaler erscheinen könnte. Wie ein Regal aus schlanken Sichtbetonstützen und Balken wendet sich der Bau mit fünf Geschossen dem neuen Platz zu und staffelt sich gen Südosten in zwei Schritten ab. Indem die eigentlichen Fassaden rundum 2,50 m zurückspringen, ergeben sich zweigeschossige Arkaden, die

Ladenlokale im EG und Triple Livings eigene Büros im 1. OG markieren. Darüber folgen insgesamt 38 Eigentumswohnungen, allesamt mit großzügigen, immer gleich bemessenen Loggien ausgestattet. Nur die Eckfelder sind breiter, was der Ansicht zusätzliche Leichtigkeit verleiht. Im Hof wiederholt sich diese Struktur. Auch hier liegt eine vergleichbare Raumschicht vor dem eigentlichen Gebäude, die die Wohnungen teilweise über Laubengänge erschließt. Unterstrichen wird der fast abstrakte Eindruck durch die Materialität und reduzierte Farbigkeit. Zum Beton tritt spanischer Kalkstein, Putz im unteren Bereich des Innenhofs, eloxiertes und poliertes Aluminium sowie Holz für die Terrassen und Pergolalamellen.

Regel und Varianz

Verblüffenderweise gilt dabei zweierlei. Einerseits erlaubte es die rationale Struktur, die verschiedenen Funktionen regelrecht einzusortieren. Das war auch deshalb ein Vorteil, weil zuunterst zunächst ein Supermarkt mit darüber liegender Schauküche vorgesehen war, dessen Fläche dann in kleinere Einheiten umgeplant wurde. Andererseits ist der Entwurf von Atelier Kempe Thill keineswegs formalistisch, sondern abhängig von den Bedürfnissen sowie Veränderungen angepasst und komplexer variiert. Dazu zählt, dass erst mit der Umplanung der Innenhof bis auf EG-Niveau herabgeführt wurde, um dort statt tiefer Nutzflächen mehr Licht zu schaffen. Unterhalb der Dachterrassen reichen die Loggien höher als sonst hinauf, weil sie die Brüstung darüber mitausbilden, und erzeugen so ein bewegteres Bild. Vor allem aber offenbaren die Grundrisse, dass das äußere Raster nicht streng die innere Tragstruktur bestimmt. Deren Stahlbetonschotten weichen zum Teil von der Flucht der Stützen ab. Dies ermöglichte unterschiedliche Wohnungsgrößen; weil die Loggien außen aber gleichmäßig durchlaufen, entstehen notwendigerweise geschlossene Fassadenflächen, wo sich Freiraum und zugehörige Wohnung gegeneinander verschieben. Vor sie lassen sich nun die zweiteiligen Fenstertüren fahren, sodass Wohnraum und Terrasse nahezu bruchlos ineinander übergehen.

Zweckmässige Erschliessung

Die Balance aus Formwillen und Pragmatismus motivierte schließlich auch die Wahl der Laubenganglösung. Voraus ging, wie André Kempe im Gespräch erläutert, die Analyse von Erschließungsvarianten und ihrer Effizienz im spezifischen Gebäudeumriss. So wanderten Treppen und Lifte in die für Wohnnutzung schwierigen Eckzonen. Durch die Laubengänge ließen sich dann zusätzliche mittige Treppen vermeiden, die die kommerziellen Flächen weiter perforiert hätten. Ausschlaggebend war auch, dass auf dem Laubengang maximal eine Wohnung passiert werden muss. Eine Ausnahme bildet lediglich die riesige, gemeinschaftliche Dachterrasse im 3. OG, die

man an zwei Einheiten vorbeigehend erreicht. Die Breite von 2,5 m wandelt die Erschließung zudem zum vollwertigen Aufenthaltsbereich, in dem man von den angrenzenden Schlafzimmerfenstern Abstand halten kann. Dass jene bis zum Boden hinabreichen, wirkt dennoch radikal – oder wiederum pragmatisch, wie Kempe es formuliert: „Es ist einfach eine weitere Option. Verhängen kann man Fenster immer. Sie nachträglich, wenn gewünscht, zu vergrößern, ist viel schwieriger.“

Urbanes Zusammenleben von Atelier Kempe Thill

Damit führt das Gebäude – das mit kompaktem Zuschnitt, Fernwärme, Solarzellen, Wärmetauscher und anderen Maßnahmen Passivhauswerte erreichen soll und Regen- und Grauwasser nutzt – schließlich gar nicht so sehr zur Frage, inwieweit sich der verpönte Laubengangtypus rehabilitieren lässt. Sondern viel grundsätzlicher zu Aspekten des urbanen Zusammenlebens. Für Kempe Thill ging es auch darum, wie sich Qualitäten urbanen und vorstädtischen Wohnens vereinen lassen. Eine wichtige Rolle spielen die Freibereiche, die dieses Projekt in üppigsten Ausmaßen bietet: privat, was den einzelnen Wohnungen trotz unmittelbarer Innenstadtnähe suburbane Atmosphäre verleiht, und (semi-)öffentlich, was die in dieser Hinsicht spannendsten Themen berührt. So stellt sich gerade bei gehobenen Eigentumswohnungen – teils selbstbewohnt, teils vermietet – die Frage des Arrangements untereinander: Welche Nutzungen sind auf den Laubengängen zulässig, welche auf der weiten Dachterrasse? Wie steht es um den Hof, der mit der Absenkung ins EG den unmittelbaren Anschluss an das Wohnen verloren hat? Und vor allem: Welche Regeln sind nötig, wer kümmert sich? So gilt eine Hausordnung, die etwa Barbecues ausschließt. Eine strenge Sperrstunde für die Terrasse gibt es nicht, aber Regelungen zur Lärmbeschränkung. Und vieles muss im

Gebrauch erst verhandelt werden: Derzeit sind nur einige Blumentöpfe, ein paar erste Bistro-Tische auf den Laubengängen zu sehen. Beim journalistischen Besuch dort schließt jemand umgehend das Kippfenster seines Schlafzimmers. Und auf der Dachterrasse stehen bisher nur einige Palettenmöbel. Kempe Thill zeicheten auch eine Variante mit Begrünung, von der der Bauherr absah. Ob dort eine langfristige Möblierung gefunden wird und ob sie nicht doch eine Bepflanzung einschließen sollte, wird in den Eigentümerversammlungen noch erörtert. Zum Austausch untereinander richteten die Bewohner jüngst zudem eine App ein.

Stadt als Option

Die Laubengänge sind in diesem Gesamtgefüge zu sehen. Das Gespräch mit einer Bewohnerin mag stellvertretend für Meinungen sein, wenn sie die Bewegung vor ihrem Fenster nicht als störend empfindet: „Es ist gerade angenehm, den Nachbarn zu begegnen.“ Knapp zwei Jahre nach dem Einzug lerne man sich zunehmend kennen.

Für dieses Miteinander, für Begegnung und Abgrenzung gibt der Bau von Atelier Kempe Thill eine fast generische, kühle Raumstruktur vor, die den Bewohnern erlaubt, sie zu füllen, oder zwingender formuliert: die dies auch fordert. Was Parallelen zum Umraum nahelegt: Wie das neue Viertel langfristig belebt wird, wird sich in ein paar Jahren zeigen. In den noch nicht voll vermieteten Ladenflächen des Zuiderplein-Gebäudes sind bisher ein Fitness-Club, ein kleines Café und ein Restaurant eingezogen. Ähnlich überwiegen rundum Gastronomie und Galerien als klassische Pioniernutzer. Weiteres muss folgen – was den Willen zur Aneignung braucht und Zeit.


Gut zwei Jahre nach einem ersten Besuch während der Bauphase kehrte unser Kritiker Olaf Winkler in den mittlerweile bepflanzten Innenhof des Gebäudes zurück. Auch das weitere Heranwachsen des Stadtteils freute ihn sehr.

  • Standort: Michel de Braeystraat, 2000 Antwerpen
    Bauherr: Triple Living nv, Antwerpen
    Architekten: Atelier Kempe Thill, Rotterdam, Webseite des Büros
    Mitarbeiter: André Kempe, Oliver Thill, Ruud Smeelen, Marc van Bemmel, Anna Speakman, Kento Tanabe
    Tragwerksplanung: VK architects & engineers, Merelbeke
    Architekten Tiefgarage: Atelier Kempe Thill mit POLO architects, Antwerpen
    BGF: 16 035 m²
    BRI: 57 150 m³
    Baukosten: 13,5 Mio. Euro
    Bauzeit: 2017 – 2019

Atelier Kempe Thill


db1121AUTAKT1AndréKempe_(2).jpgAndré Kempe

Architekturstudium an der TU Dresden. Seit 2000 Büro mit Oliver Thill. Lehrauftrag an der TU Delft und Architekturschule in Rotterdam. Gastprofessur an der EPF Lausanne, PSBA Düsseldorf und TU Berlin. 2020 Professur an der Leibniz University Hannover.


Oliver Thill

Architekturstudium an der TU Dresden. Seit 2000 Büro mit André Kempe. Lehrauftrag an der TU Delft, Architekturschule Rotterdam, am Berlage, Delft. Gastprofessur an der EPF Lausanne, PSBA Düsseldorf, Polytechnikum Mailand und TU Berlin. 2020 Professur an der Leibniz University Hannover. Freier Autor Architekturmagazin San Rocco.


Olaf Winkler

Architekturstudium in Aachen und Wien. Seit 1997 Architekturkritiker in Schwerte und Brüssel, Begleitung von Architekten in der Kommunikation sowie Stadt- und Architekturführungen. 2000-12 Mitarbeit bei polis und build als Redakteur. Preisrichtertätigkeit.

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