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Traditionspflege in Sichtbeton | Umbau eines Bauernhauses in München Alt-Riem von Peter Haimerl

Traditionspflege in Sichtbeton
Umbau eines Bauernhauses in München Alt-Riem

Dass Investoren verfallene Bauernhöfe sanieren, um sie anschließend als Wohnungen zu vermieten, kommt nicht alle Tage vor. Im Münchner Stadtteil Alt-Riem hat die Firma Euroboden auf genau diese Weise ein baufälliges Denkmal vor dem Abriss gerettet. Trotz eines neuen Innenlebens aus Beton stellt das umgebaute Haus viele Bezüge zur landwirtschaftlichen Vergangenheit des Orts her.

  • Architekt: peter haimerl . architektur
  • Tragwerksplanung: a.k.a. ingenieure
  • Kritik: Christian Schönwetter
  • Fotos: Edward Beierle
Kein Wort mehr gegen Investorenarchitektur! Wer glaubt, dass professionelle Immobilienentwickler stets gesichtslose Allerweltsbauten planen, sieht sich beim Schusterbauerhaus in München-Riem eines Besseren belehrt. Allerdings gehört der Bauherr, die Firma Euroboden, auch zu den wenigen Ausnahmen in der Branche, die höchst individuelle Wohnprojekte verwirklichen. Zuletzt erregte das Unternehmen mit Apartments in einem umgebauten Münchner Hochbunker Aufsehen.
In Alt-Riem hatte Euroboden ein Bauernhaus aus der Mitte des 18. Jahrhunderts gekauft, das stark heruntergekommen und nur deshalb noch nicht abgebrochen war, weil es unter Denkmalschutz steht. Es gilt als letztes noch erhaltenes Zeugnis, das von der bäuerlichen Baukultur des Orts erzählt. Der Wohnteil war noch leidlich erhalten, auch wenn Teile der Ausstattung, etwa die alten Türen, während des langen Leerstands gestohlen worden waren; vom Stall- und Scheunenteil befanden sich nur noch die Außenwände in einem nutzbaren Zustand. Geschäftsführer Stefan Höglmeier heuerte daher Peter Haimerl als Architekten an, der mit seinem Projekt »Birg mich Cilly« in Viechtach bereits ein ähnlich abrissreifes Bauernhaus gerettet und umgebaut hatte. In Riem ist Haimerl nun mit einer Doppelstrategie ans Werk gegangen: im ehemaligen Wohnteil des Hauses so viel Substanzerhalt wie möglich, im stark zerstörten Stallteil ein beherzter Neuanfang. Dort stabilisiert jetzt ein eingeschriebener Betonkörper die alten Mauern und das Dach.

Kontinuität der Hülle

Das Äußere des Gebäudes bleibt davon weitgehend unberührt; zumindest an der Straßenseite ist sein landwirtschaftlicher Ursprung immer noch deutlich zu erkennen. An der Grundstücksgrenze geht es bereits los: Weil Einfriedungen für die Bauernhöfe im Münchner Umland traditionell unüblich waren, entfernte  Peter Haimerl die Gartenmauer zur Straße. Stattdessen markiert nun ein Belagswechsel von Asphalt zu Kies den Übergang von öffentlichem zu privatem Außenraum. Einen weiteren Beitrag zur Zonierung leistet die große flache hölzerne Multifunktionskiste vor dem Haus. Sie zeichnet den Grundriss des Misthaufens nach, der sich früher genau dort befand, und bietet – passenderweise – Platz für die Mülltonnen. Außerdem verbirgt sie Fahrräder, Gartengeräte und eine Laube, deren Holzdach sich zur Seite schieben lässt.
An den Hausfassaden erzeugt ein von Hand aufgetragener Kalkputz jene unregelmäßige Oberfläche, die für das unprätentiöse ländliche Bauen der Region typisch war. Das Madonnenrelief über der Eingangstür wurde restauriert, die alten Sprossenfenster aufgearbeitet und jeweils mit einem zusätzlichen innenliegenden Isolierglasflügel unauffällig zum Kastenfenster ergänzt. Dämmung findet sich lediglich unterm Dach, weil sie sich nur dort so einbauen ließ, dass das tradierte Aussehen des Gebäudes nicht leidet. Statt Gauben, die zwar mehr Raum für die oberen Geschosse gebracht hätten, aber dem Typus Bauernhaus gänzlich fremd sind, verbessern Dachflächenfenster die Lichtzufuhr. Sie sind deutlich dezenter, zumal sie so eingebaut wurden, dass sie nicht wie üblich aus der Dachhaut hervorstehen, sondern bündig mit ihr abschließen. All dies dürfte das Herz von Denkmalpflegern höher schlagen lassen. Lediglich die Biberschwanzdeckung wirft Fragen auf: Warum wurde hier auf die Möglichkeit verzichtet, unter die neuen Ziegel ein paar alte aus Abbruchhäusern zu mischen? Sie hätten das Dach weniger steril wirken lassen und ihm ein bisschen Patina gegeben.

Originales Interieur

Im Gebäudeinnern finden sich nun zwei Wohnungen von je rund 150 m² – die übliche Größe einer Doppelhaushälfte. Doch von symmetrischem Zwillingswohnen keine Spur: In Loos’scher Raumplan-Manier sind die beiden Einheiten komplex ineinander verschränkt, sodass auch die nördliche Haushälfte Zimmer nach Süden erhalten hat.
Wer den ehemaligen Wohnteil betritt, muss gleich hinter der Haustür zwei Stufen nach unten gehen. Denn um die sehr niedrige Geschosshöhe auszugleichen, wurde der EG-Boden moderat abgesenkt. Man gelangt in den sogenannten »Fletz«, einen Flur, der einmal quer durchs Haus führte. An seinem Ende wurde ein Raum abgetrennt, der von der Rückseite des Gebäudes zugänglich ist und anstelle eines Kellers Platz für die Haustechnik bietet. In den Zimmern linkerhand bedeckt ein heller Dielenbelag die neue Bodenplatte, die Wände tragen weißen Putz. Er verbirgt die Wandheizung, dank der es möglich war, auf Radiatoren zu verzichten, die nicht zu einem bäuerlichen Interieur gepasst hätten. Rechterhand geht es in die Wohnküche, die im ehemaligen Stall eingerichtet wurde. Nacktes Mauerwerk verweist auf die nicht-repräsentative frühere Nutzung. Um für mehr Licht zu sorgen, ließ Haimerl vier Öffnungen in die Gebäuderückseite brechen, durch ihre spielerische Anordnung geben sie sich als nachträglicher Eingriff zu erkennen.
Eine steile knarzende Holztreppe führt vom Fletz ins obere Geschoss. Hier zeigen die Räume das größte Maß an Authentizität. Genauso gedrungen wie vor zwei Jahrhunderten dienen sie als Schlaf- und als Kinderzimmer. Originale Türen mit hoher Schwelle und niedrigem, handgeschnitzten Sturz sind alles andere als barrierefrei und verlangen den Bewohnern besondere Vorsicht ab. Die Dielen des unebenen alten Bodens blieben genauso unbekleidet wie weite Teile der Holzwände, auf denen sich die Farbreste vergangener Jahrhunderte erkennen lassen.

Radikaler Eingriff

Die zweite Wohnung betritt man über das ehemalige Scheunentor. Es wurde durch ein neues ersetzt, die Öffnung dahinter vollflächig verglast. Weil die alten Holzdecken morsch waren, wurde dieser Teil des Gebäudes komplett umstrukturiert. Unter dem Dach mit seiner 45°-Neigung versteckt sich jetzt ein Betonwürfel, der um 45° gekippt auf der Kante steht. Mit seinen Oberseiten zeichnet er das Dach von innen nach, seine geneigten Unterseiten dienen mal als Treppenlauf, mal als Auflagerfläche für eine Sitzbank, mal als schräge Decke.
Ein Split-Level-Raumkontinuum zieht sich vom abgesenkten EG, in dem ein Gästezimmer untergebracht ist, über den Essplatz im helleren Hochparterre bis hinauf unters Dach, wo die Bewohner auf einer Galerie am Kamin sitzend die Weite des Wohnraums und die Lichtfülle der Dachfenster genießen können. Immer wieder wechselt die Laufrichtung, durch die zahllosen Schrägen entsteht eine große räumliche Vielfalt. Um in dem offenen Interieur die Akustik in den Griff zu bekommen, ließ Haimerl einige Wandflächen und Brüstungen mit Nadelfilz bekleiden. In der Küche interpretiert er mit einer schwarzen Herdnische, die in die Wand eingelassen ist, das verrußte »Rauchkucherl« alter Bauernhöfe auf neue Weise. Einzige sichtbare Originalbauteile sind die alten Kehlbalken.
Wie raffiniert die Räume ineinandergreifen, zeigt sich im Bad: Über eine Luke unter dem Waschbecken lässt sich Schmutzwäsche entsorgen, die dann im darunterliegenden Hauswirtschaftsraum landet. Beinahe könnte man in dieser Wohnung vergessen, dass man sich innerhalb einer historischen Hülle bewegt. Bauernhaus-Atmosphäre kommt erst wieder in den etwas schummrigen Schlafzimmern mit ihren alten kleinen Giebelfenstern auf.

Mut zum Unperfekten

Das Ungewöhnlichste an dem Haus ist, dass hier nicht etwa eine Privatperson am Werk war, die für sich selbst ein Liebhaberstück geschaffen hat, sondern ein kommerziell agierender Bauherr, der für unbekannte Nutzer plant. Schön wäre, wenn dieser Umbau auch andere Investoren ermutigen würde, sich bei Denkmalen auf Konzepte mit einer starken architektonischen Aussage einzulassen. Er zeigt, dass sich auch Immobilien an den Mann bringen lassen, die sich nicht an gängigen Standards orientieren. Teils sehr niedrige Räume, wurmstichige Holzbalken, laut knarzende Böden, bei denen man an einer Stelle sogar zwischen den Dielen ins Zimmer darunter blicken kann, aber auch Interieurs mit ruppigem Sichtbeton und Wände, die um 45° aus der Vertikalen gekippt sind – all das ist meilenweit von den Usancen heutigen Mietwohnungsbaus entfernt. Ein Markt dafür ist aber offensichtlich vorhanden: Obwohl die beiden Einheiten mit einer Monatsmiete von rund 3 000 Euro selbst für Münchner Verhältnisse kein Schnäppchen sind, waren sie innerhalb weniger Stunden sofort vergeben. •


  • Standort: Stockerweg 11, München
  • Bauherr: Euroboden, Stefan Höglmaier, München
  • Architekten: peter haimerl . architektur, München
  • Tragwerksplanung: a.k.a. ingenieure, München
  • HLS-Planung: IB CIRTEC, Landshut
  • Wohnfläche: 290 m²
  • Volumen: 1 150 m³
  • Fertigstellung: September 2015
  • Beteiligte Firmen:
  • Kalkputz Außenwand: Hans Schelle & Söhne Bauunternehmung, München, www.schwaiger-schelle-bau.de
  • Beton: Hans Schelle & Söhne Bauunternehmung, München
  • Holzausstattung Fichte: Arredis, Klausen, www.arredis.it
  • Nadelfilz Innenwände: Raumausstattung Senge, München, www.raumausstattung-senge.de
  • Spülbecken: »Andano 340/180-U« und »Andano 400/400-U« von Blanco, Oberderdingen, www.blanco.de
  • Lichtschalter: Serien »1930« und »R.classic« von Berker, Blieskastel, www.berker.de

peter haimerl . architektur


Peter Haimerl

1961 in Eben (Bayerischer Wald) geboren. Architekturstudium, 1987 Diplom an der FH München. 1987-88 Mitarbeit bei Günther Domenig und Raimund Abraham, Wien (A), sowie im Büro Kada, Graz (A). Seit 1991 eigenes Büro in München. 1992-96 Lehrauftrag an der FH München, 2005-06 an der FH Braunschweig.


Über den Autor
Christian Schönwetter (~cs)
Architekturstudium an der Universität Karlsruhe, wiss. Mitarbeit. Volontariat bei der AIT, Redakteur beim design report, Gründer und Chefredakteur der Zeitschrift Metamorphose – Bauen im Bestand.Seit 2013 Redakteur der db-Metamorphose, freier Journalist, Kritiker.
 
 
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