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"Vagelos Education Center" der Columbia University, NYC

»Roy and Diana Vagelos Education Center« der Medizinfakultät an der Columbia University in New York (USA)
Luftige Kommunikation

Wo, wenn nicht in New York, sollte das Prinzip eines vertikalen Campus zur Anwendung kommen? Lehrräume und Labore verteilen sich im Norden Manhattans auf 14 Geschosse und sind durch ausnehmend luftige Kommunikationszonen untereinander verbunden. Kristallin geformte Auskragungen aus Glasfaserbeton schaffen eine auffällige Adresse, die dem Sponsor zur Ehre gereicht und Transparenz in den andernorts zumeist abgeschotteten medizinischen Lehrbetrieb bringt.

Architekten: Diller Scofidio + Renfro
Tragwerksplanung: LERA

Kritik: Claudia SteinbergFotos: Iwan Baan
Nur ein paar Schritte westlich von der U-Bahn-Station an der geschäftigen Kreuzung von Broadway und 168. Straße wird es plötzlich beinahe still. Auf der schmalen Haven Avenue, die in einer leichten Biegung dem hohen Norden Manhattans entgegensteigt, dämpft das ferne Rauschen unablässigen Verkehrs auf der nahen George Washington Bridge die Sirenen der Krankenwagen auf dem Weg zu den vielen Krankenhäusern der Umgebung. Überraschend taucht das neue medizinische Lehrgebäude der Columbia Universität zwischen bescheidenen Mietshäusern aus den 20er Jahren auf: Der gläserne »Fremdkörper« will mit seiner dramatischen Südseite und deren exponierten Treppenaufgängen gesehen werden. Kommt man aus der entgegengesetzten Richtung den Hügel herab, könnte man das nördlich an die Zeile fünfstöckiger Klinkerbauten angeschlossene Minihochhaus beinah übersehen, würde nicht eine Freitreppe mit großer Geste auf eine Anhöhe mit Blick auf den Hudson River verweisen. Hier ist ein unvermuteter Freiraum in dem sonst dicht vermauerten Umfeld entstanden, über dessen Himmel bisher drei gesichtslose Studentenwohnheime in gelbem Backstein regierten.
 
Die Treppe an sich ist der Schlüssel zum Entwurf des vertikalen Campus, den Diller, Scofidio + Renfro (DS+R) für ein wahrhaft winziges Grundstück konzipierten – sie ist sowohl das Organisationsprinzip für das komplexe, mit insgesamt 9 300 m² extrem knapp ausgestattete Programm des Roy and Diana Vagelos Education Centers, als auch das ästhetische Leitmotiv. Die langen, fensterlosen Korridore, die das Innenleben der meisten medizinischen und pädagogischen Einrichtungen kennzeichnen, waren an dem gegebenen Standort weder möglich noch erwünscht. Und so fährt die wie von einem Erdbeben zerdrückte Serpentine, die als dynamische, kantige Linie die Südfassade hinabjagt, nicht nur als Blitz in das historische Einwandererviertel, sondern sie exponiert auch einen Großteil des Interieurs: Als »Study Cascade« bezeichnen die Architekten das kontinuierliche Auf und Ab der Stufen, der überdimensionalen Treppenabsätze und Terrassen, die ›
› sie als einen einzigen, fließenden, in das Gesicht des Gebäudes geschriebenen Raum begreifen. Neben den Zugeständnissen an die städtische Bauordnung, die an dieser Stelle die Verjüngung der oberen Stockwerke sowie überwiegende Transparenz verlangte, lässt sich die Zickzack-Signatur als Referenz auf die Nachbarschaft lesen, deren spärlich bevölkerte Wohnstraßen ihre New Yorker Identität v. a. aus den omnipräsenten Feuerleitern beziehen.
 
Zu ebener Erde muss man ein Drehkreuz passieren, um die nach einem Columbia-Alumnus und seiner Frau benannte Lehranstalt zu betreten. Obwohl das von drei Seiten verglaste Foyer mit auseinanderstrebenden Diagonalen die Enge der Grundfläche zu sprengen versucht, kann es weder der lichtarmen Tristesse der Haven Avenue noch dem üblichen unpersönlichen Flair eines Durchgangsraums entrinnen – Studenten sitzen isoliert vor ihren Laptops an langen Tischen, und von der »produktiven Ineffizienz«, mit der die Architekten ihren luftigen Elfenbeinturm durchdrungen wissen wollen, ist nichts zu spüren. Erst mit dem Aufstieg in die oberen Geschosse erobert man sich die lichte Freiheit, die die Fassade verspricht: Die 275 Sitze des holzgetäfelten Auditoriums im ersten Stock sind auf die Fensterfront mit dem spektakulären Panorama des Hudson, der Felsenwand von New Jersey und der George Washington Bridge ausgerichtet, und der Raum expandiert nahtlos auf die Terrasse, zu der auch die Freitreppe von der Straße heraufführt. Ein in die Planken eingelassenes, mit hohen, blonden Gräsern bewachsenes Beet ruft Assoziationen an die Landschaftsgestaltung der Highline wach, die dem Architektenteam internationalen Ruhm verschaffte (s. db 9/2008, S. 30-36). Statt eines Zauns stellt sich erfreulicherweise nur eine nahezu durchsichtige Wand vor den Abgrund über dem Fluss. Sie besteht aus dem gleichen, mit Nadelstreifen aus eingebackener Keramik gefritteten Glas, das den knapp 70 m hohen Turm mit Ausnahme der Südseite milchig und energiesparend umhüllt.

In Bewegung

»Uns interessieren die organischen Eigenschaften von Gebäuden, und dazu gehört auch die Zirkulation«, erklärte Elizabeth Diller. Zugunsten der räumlichen Fluidität haben sich DS+R in der »Kaskade« einer reduzierten, warmen Palette bedient: orangefarbene Terrazzodetails, Fußböden aus Hirnholz und Paneele aus rostrot gebeizter Douglastanne, die in der Nachmittagssonne das Gebäudeinnere zum Glühen bringt. Der Orientierung mag die homogene Farbgestaltung wenig förderlich sein, doch ganz im Sinne des extrovertierten Ansatzes hilft die Außenwelt beim Navigieren über die Etagen: Ab dem achten Stock gerät z. B. auch die aus dieser Perspektive unvertraute Skyline von Midtown ins Blickfeld. In die Anordnung der senkrecht gestapelten »akademischen Nachbarschaften«, wie die Architekten zusammengehörige Raumkomplexe nennen, war ein zwanzigköpfiges Studentengremium entscheidend involviert. Mit Blick auf den dringlich geäußerten Wunsch, sich ›
› gelegentlich aus den öffentlichen Zonen in semi-private Nischen zurückziehen zu können, propagierte das Team im Namen der Studentenschaft intimere Aufenthaltsräume für kleine Gruppen mit Zugang zum offenen Gemeinschaftsraum eine Etage tiefer – ohne dabei mit dem Grundgedanken der Porosität zu brechen.
 
Die jenseits der Kaskade gelegenen Büros und Klassenräume bleiben hinter dem opaken Glas für Nachbarn und Passanten verborgen. Innen aber fällt das Tageslicht durch den Schleier auf einen Schauplatz, der normalerweise in geflieste Keller verbannt ist: Die hellen, mit futuristisch anmutender Technologie ausgestatteten Obduktionsräume bieten den Studenten ein ideales Umfeld für die Autopsie – per definitionem »die Untersuchung eines Gegenstands mit eigenen Augen«. Letztere mögen auch gelegentlich Trost im Anblick des großen Stroms, der ewig unter dem Fenster vorbeifließt, suchen.
 
Nachdem Amerikas älteste medizinische Universität ihre Verwalter, Fakultätsmitglieder und das Entwurfsteam zur Bestandsaufnahme an ebenbürtige Institutionen entsandt hatte, wurde die Unentbehrlichkeit eines perfekt ausgerüsteten Simulationszentrums klar: So wie Astronauten auf der Erde für die Schwerelosigkeit trainieren, üben Studenten an computergesteuerten Puppen eine Geburt oder die Reaktion auf einen Herzinfarkt. Für eine solche Einrichtung fehlten im Bebauungsplan jedoch die erforderlichen 1 000 m², und so verfielen die DS+R-Partner Gensler Architects auf die raffinierte Idee, die mechanischen Systeme nicht nur so weit wie möglich im eigenen Keller und Penthouse unterzubringen, sondern sie darüber hinaus auf die drei Columbia-eigenen Wohnheime zu verteilen und zudem die Klassenräume so effizient auszulasten, dass der entsprechende Platz gespart werden konnte.
 
In der Ausschreibung des Wettbewerbs im Jahr 2010 wurden Architekten gesucht, die neue Methoden medizinischer Lehre in ein Gebäude mit erheblichen Restriktionen umsetzen konnten. Die DS+R Strategie, den klinischen Bereichen zwar einerseits ihre Sterilität zu nehmen, sie aber andererseits von den sozialen Räumen zu separieren und ein Schwergewicht auf Kommunikation zu legen, entsprach Columbias pädagogischer Vision einer modernen Heilkunst, und nicht umsonst listen DS+R ihren urbanen Campus unter der Kategorie »Kultur«. Tatsächlich griffen die Architekten mit der Kaskade die Idee eines vertikalen Bands auf, das sie 2004 erstmals in dem unrealisierten Entwurf für das Eyebeam Museum for Art and Technology in New York entwickelt hatten. Über die Jahre hat das Konzept wohl an Neuigkeitswert, aber kaum an kinetischer Energie eingebüßt, und in seiner aktuellen Inkarnation als »Entdeckungspfad« steht es im Einklang mit dem Lehrprogramm der Universität. Dass man jedoch auf der obersten Stufe der von der Straße aus so einladenden Freitreppe vor eine verriegelte Glastür prallt ist weder mit der Designethik noch mit dem Nachbarschaftsgedanken einer progressiven Institution zu vereinbaren.
 

  • Standort: 104 Haven Avenue, USA-10032 New York

    Bauherr: Columbia University, vertreten durch Group PMX, New York
    Architekten: Diller Scofidio + Renfro, New York
    Mitarbeiter: projektleitende Partnerin: Elizabeth Diller; Leitung Entwurf: Ricardo Scofidio, Charles Renfro, Benjamin Gilmartin; Projektleitung: Anthony Saby; Projektarchitekt: Chris Hillyard;
    Team: Chris Andreacola, David Chacon, Christopher Kupski, Barak Pliskin, Kevin Rice, Gerard Sullivan, Mary Broaddus, Charles Curran, Robert Donnelly, Amber Foo, Yoon-Young Hur, Joshua Jow, Andreas Kostopoulos, Joseph Dart Messick, Patrick Ngo, Matt Ostrow, Stefano
    Bauleitung: Gensler, New York, Madeline Burke-Vigeland, Kristian Gregerson
    Tragwerksplanung: LERA, Leslie E. Robertson Associates, New York
    HLS-Planung; Sicherheit und IT: JB&B, Jaros Baum & Bolles, New York
    Beratung Gebäudeoptimierung/Nachhaltigkeit: Vidaris, New York
    Beratung Vorhangfassade: Buro Happold Consulting Engineers
    Beratung Licht: Tillotson Design Associates, New York
    Beratung Akustik/Medien: Cerami & Associates, New York
    Freiraumgestaltung: SCAPE/Landscape Architecture, New York
    Generalunternehmer: FJ Sciame Construction, New York
    BGF: ca. 10 220 m²
    Gebäudehöhe: 67 m
    Baukosten: keine Angabe
    Bauzeit: September 2013 bis August 2016 (Eröffnung)
    Beteiligte Firmen:
    Gläser mit keramischen Fritten: BGT Bischoff Glastechnik, Bretten, www.bgt-bretten.de
    Fassade: Josef Gartner, Gundelfingen, http://josef-gartner.permasteelisagroup.co
    glasfaserverstärkte Betonteile: David Kucera, Gardiner, www.davidkucerainc.com

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Unsere in New York ansässige Kritikerin Claudia Steinberg konnte mit dem Fahrrad anreisen. Vor Ort machte sie gleich eine typische Erfahrung mit dem internationalen Flair der Studentenschaft: Zur Fotoaufnahme vor beeindruckender Architektur fand sich eine japanische Medizinstudentin bereit.

New York (S. 50)

Diller Scofidio + Renfro


Elizabeth Diller
Architekturstudium an der Cooper Union, New York. Seit 1979 gemeinsames Büro mit Ricardo Scofidio. Professur an der Princeton University.
Ricardo Scofidio
Architekturstudium an der Cooper Union, Abschluss an der Columbia University, New York. Seit 1979 gemeinsames Büro mit Elizabeth Diller. Emeritierter Professor der Cooper Union.
Charles Renfro
Architekturstudium an der Rice University, Houston/Texas, Master an der Columbia University. Seit 1997 Mitarbeit bei Diller Scofidio, seit 2004 als Partner. Professur an der School of Visual Arts, New York.
Benjamin Gilmartin
Architekturstudium an der University of California, Berkeley, Master an der Harvard University. Seit 2004 Mitarbeit bei DS+R, seit 2015 als Partner. Zwischenzeitlich Lehrauftrag an der Cornell University, Ithaca/New York.
Claudia Steinberg
1980 Übersiedlung nach New York. Seit 1999 USA-Korrespondentin für Architektur & Wohnen, Beiträge zu Architektur, Design und Kunst u. a. für die New York Times, Die Zeit, Cicero und die FAZ. 2012 Dokumentarfilm über die New York Waterfront für Arte.
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