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Phänomenal: Kleine Einfamilienhäuser in Tokio ganz individuell

Japan rückt noch näher zusammen
Einfamilienhäuser in Tokio (JAP)

Japanische Architekten haben eine gewisse Meisterschaft darin entwickelt, kleine Wohnhäuser auf schmalen Grundstücken zu entwerfen. Doch die Häuser sind nicht einfach nur eng: Aktuelle Beispiele zeigen, dass die Entwürfe auf verschiedene kulturelle und gesellschaftliche Faktoren reagieren.

    • Architekten: APOLLO Architects; akihisa hirata architecture office; Satoko Shinohara mit Ayano Uchimura

  • Kritik: Claudia Hildner
    Fotos: Masao Nishikawa, Koichi Torimura, Taro Hirano
Mit einem Auto ist hier kein Durchkommen: In vielen Tokioter Wohngebieten säumen niedrige Wohnhäuser die verwinkelten, schmalen Gassen, die von den Bewohnern als erweiterter Wohnraum genutzt werden. Manche von ihnen wirken wie Dörfer, die die Mega-City irgendwann verschlungen hat. Die Struktur dieser Viertel ist traditionell, doch ihr Erscheinungsbild wandelt sich: Gerade die kleinsten Zellen in den japanischen Großstädten, die Wohnhäuser, verändern sich rasch. Einfamilienhäuser haben dort im Schnitt eine Haltbarkeit von etwa 26 Jahren, danach werden sie durch einen Neubau ersetzt. Wenn Haus und Grundstück an die nachfolgende Generation vererbt werden, verkaufen die Erben nach dem Abriss des bestehenden Hauses oft einen Teil des Grunds, um vom Erlös die hohe Erbschaftssteuer bezahlen zu können. Das neue Gebäude besetzt dann nur noch einen Teil des ursprünglichen Grundstücks. Inzwischen ist diese Entwicklung, die sich v. a. in den Siedlungen der Stadterweiterungen des frühen 20. Jahrhunderts beobachten lässt, mancherorts bereits in der vierten Generation angelangt: Wo früher ein Haus mit Garten stand, stehen heute bis zu vier; gleichzeitig werden die Bauten immer höher.
Auf schmalem Grund
Ein Beispiel für diese Entwicklung könnte das von Nachbarbauten eingekeilte Einfamilienhaus »Lattice« vom Tokioter Büro Apollo Architects sein. Das etwa 3,50 m breite Gebäude steht allerdings in Taito, einer zentralen Gegend von Tokio, die bereits in der Edo-Zeit (1603-1868) dicht und kleinteilig bebaut war. Auch dort sind die Gebäude im Laufe der Jahrzehnte immer stärker in die Höhe gewachsen: Neben den einfachen zweigeschossigen Holzbauten, die diesen Stadtteil immer noch prägen, recken sich viele schlanke Wohntürme gen Himmel. Lattice (dt.: Gitter-, Lattenwerk) musste auf einem besonders schmalen Grundstück Platz finden. Das EG ist zurückgesetzt, damit der Raum davor als überdachter Stellplatz genutzt werden kann. In den beiden Geschossen darüber blendeten die Architekten der Gebäudefront eine Lattung aus dünnen Holzleisten vor, die an traditionelle hölzerne Gittertüren (koshido) erinnert. Einblicke werden dadurch vermieden, und das Licht dringt gefiltert in den Innenraum. An den Flanken ist der Bau komplett geschlossen; die Fassade auf der Rückseite des Hauses ist von eher kleinformatigen, meist oberlichtartigen Fenstern geprägt. Nur im obersten Geschoss dringt das Tageslicht durch eine größere, in ihrem Erscheinungsbild traditionell japanisch anmutende Öffnung in einen dahinter liegenden Tatamiraum. Den Kern des Hauses bildet eine filigrane zweiläufige Stahltreppe mit Trittstufen aus dunklem Holz. Das Bauteil ist in seiner Größe stark minimiert und erscheint durch seine Offenheit als Teil des Wohnraums.
Verglaste Seitenbereiche lassen den Treppenbereich, der als Turm über das Einfamilienhaus hinausragt, als Lichtfalle für das doppelgeschossige Wohnzimmer wirken. Eine großzügige Dachterrasse, die vom Treppenturm aus erschlossen wird, sorgt – anders als die in Japan üblichen kleinen Balkone, die allenfalls als Austritt und Stellplatz für die Klimaanlage dienen – für eine Ausweitung des Wohnens ins Freie.
    • »Lattice«, Taito, Tokio

 

    • Architekten: Satoshi Kurosaki, APOLLO Architects & Associates, Tokio

 

    • Grundstücksfläche: 44,57 m², bebaute Fläche: 34,18 m², Nutzfläche: 101,44 m²

 

    Bauzeit: September 2012 bis März 2013
Nach Recht und Gesetz
Das japanische Baurecht nimmt wesentlichen Einfluss auf die Gestalt der Einfamilienhäuser und damit auch auf die Gestalt der Stadt. Seine Kernelemente sind der Katastrophenschutz und die Abstandregeln, die gewährleisten sollen, dass jedes Haus mehrere Stunden am Tag Sonnenlicht erhält. Da fast alle Grundstücke relativ klein sind und daher meist voll ausgenutzt werden, gibt es für die Platzierung des Gebäudes sowie die Baukörperform i. d. R. wenig Spielraum. Verschiedene Traufhöhen, zurückgesetzte oder abgeschrägte DGs sowie die schmalen Schluchten zwischen den Gebäuden sind die sichtbaren Folgen der baulichen Beschränkungen. Im Innern jedoch – und hier liegt für Europäer der besondere Reiz japanischer Wohnhäuser – sind Architekt und Bauherr relativ frei. Die geringen Erwartungen an Haltbarkeit und Energieeffizienz sorgen dafür, dass die Kosten für den Bau eines Einfamilienhauses in Japan vergleichsweise niedrig sind (im Schnitt kann man mit umgerechnet rund 180 000 Euro rechnen). Das erlaubt Bauherren wie Architekten experimentelle Strukturen, die in Europa undenkbar wären. Ein Beispiel dafür ist Akihisa Hiratas »Coil Spiral House« im Tokioter Stadtteil Itabashi: Der Innenraum des Gebäudes, dessen Breite zwischen 3,00 und 3,70 m variiert, ist komplett als Treppenhaus gestaltet. Da die vertikale Erschließung in derart schmalen, hohen Häusern ohnehin eine wichtige Rolle spielt, entwickelte Hirata eine Treppe, die gleichzeitig als Wohnraum dient – bzw. einen Wohnraum, der auch als Treppe funktioniert. Das Bauteil wendelt um drei Pfeiler, die das Haus in Längsrichtung grob gliedern.
Dort, wo sich die Stufen zu Ebenen ausweiten, platzierte der Tokioter Architekt die Öffnungen – selbst, wenn das bedeutet, dass bis auf Weiteres nur die Wand des Nachbargebäudes betrachtet werden kann. In dem Haus lebt eine Familie mit kleinen Kindern, die gefährlichen Treppenbereiche sind daher mit Netzen gesichert. Ob man in so einem Gebäude auch alt werden kann, ist eine Frage, die sich Japaner eher nicht stellen.
Konzeptionell distanziert sich Hirata mit dem Coil Spiral House von funktionalistischen Idealen. Der Architekt sieht in der heutigen Zeit die »Notwendigkeit, die Architektur aus der anthropozentrischen, utilitaristischen Sichtweise zu befreien«: Der Entwurf soll sich von Restriktionen lösen und sich wie ein Organismus innerhalb der festgelegten Raumgrenzen entwickeln; erst dann kommt die Nutzung ins Spiel, die auf die entstandene Struktur reagiert – »function follows form«. Das Ergebnis ist ein Gebäude, das durch seine räumliche Vielfalt den Alltag der Bewohner bereichert. Sie sollen es sich aneignen wie eine Höhle, v. a. die Zwischenräume, die zu einer kreativen Nutzung einladen. Das Haus ist der gestalterische Ausdruck dafür, dass Menschen in und mit einer anregenden Welt wohnen wollen – statt sie sich mit allen Mitteln unterzuordnen.
Die grundsätzlich offene und fließende Raumstruktur, die Hiratas Wohnhaus prägt, hat auch einen Bezug zu traditionellen japanischen Häusern: Die Tatamimattenräume dort sind grundsätzlich keiner speziellen Nutzung untergeordnet; Möbel werden meist nur temporär eingebracht. Die Stufenstruktur ohne feste Nutzungszuordnung entspricht in gewisser Weise der Tatamifläche, die von den Bewohnern je nach Bedarf genutzt wird – nur Küche und Bad sind fest eingebaut.
    • »Coil Spiral House«, Itabashi, Tokio

 

    • Architekten: akihisa hirata architecture office, Tokio

 

    • Grundstücksfläche: 67,09 m², bebaute Fläche: 35,08 m², Nutzfläche: 85,64 m²

 

    • Höhe: 8 m

 

    Bauzeit: Juli 2010 bis Juli 2011
Gemeinsam wohnen in der Stadt
Die Stadt Tokio wurde lange Zeit als Moloch wahrgenommen, sodass die Abschottung der Wohnhäuser nach außen zu einem wichtigen Thema wurde. Heute lässt sich allerdings eine zunehmende Öffnung zur Umgebung hin beobachten. Hintergrund ist u. a. die demografische Entwicklung: Geburtenrückgang und Überalterung sorgen in Kombination mit einer rigiden Einwanderungspolitik dafür, dass die Gesamtbevölkerung Japans seit 2005 schrumpft – und auch in den nächsten Jahrzehnten weiter abnehmen könnte. Zudem ist das Zusammenleben in klassischen Familienstrukturen nicht mehr unbedingt die Regel: Die Zahl alleinstehender Menschen und kinderloser Paare nimmt zu, das Zusammenleben in »Wohngemeinschaften« findet immer mehr Anhänger. Der Einzelne definiert sich nicht mehr nur über die Familie, sondern über die Beziehungen innerhalb kleinerer Gruppen. Dass Werte wie Solidarität und nachbarschaftlicher Zusammenhalt Konjunktur haben, könnte auch in der Dreifachkatastrophe vom März 2011 begründet liegen, die die Japaner dichter zusammenrücken ließ. Die Öffnung der Häuser, wie sie etwa von Yoshiharu Tsukamoto vom Atelier Bow-Wow propagiert wird, kann in diesem Sinn auch als eine Öffnung hin zur Nachbarschaft, zur Gemeinschaft verstanden werden.
Das Projekt »Share Yaraicho« der Tokioter Architektinnen Satoko Shinohara und Ayano Uchimura ist von außen nicht unbedingt einsehbar – es wird allerdings lediglich von einer transluzenten Zeltplane verschlossen, deren Anmutung auf Reispapier-Schiebeläden (shoji) traditioneller Wohnhäuser Bezug nimmt. Dahinter versteckt sich im EG eine Werkstatt, die von den sieben Bewohnern dieser Wohngemeinschaft gemeinsam genutzt werden kann, ebenso wie das Bad, die Wohnküche und die Dachterrasse mit Kräutergarten. Die privaten Räume verteilten die Architektinnen frei in der Stahlkonstruktion so, dass sich ihre Böden und Decken nicht berühren – was dem Schallschutz zugutekommt, aber die Reinigung etwas erschwert, da die Zwischenräume nur etwa 60 cm messen. Die einzelnen Zimmer grenzen sich mit Polycarbonat- und Lochfassaden zum Außenraum und zu den halböffentlichen Zonen hin ab.
Aufgrund ihrer großen Zahl prägen private Wohnhäuser das Erscheinungsbild der japanischen Großstädte entscheidend mit. In den dichten Metropolen ist das eigene Haus als Rückzugsraum sowie zur Repräsentation eines individuellen Lebensstils ein Luxus, den sich viele Japaner gerne gönnen wollen. Der raffinierte Umgang mit den meist engen Grundstücken und die große Freiheit bei der Gestaltung im Innern haben die Minihäuser zu einem Aushängeschild der japanischen Architektur werden lassen. Auch in Zukunft werden sie wohl eine wichtige Bauaufgabe bleiben, mit der auch junge Architekten erste Duftmarken setzen können. Sinkende Bevölkerungszahlen aufgrund des demografischen Wandels könnten allerdings mancherorts dafür sorgen, dass die Häuser bald wieder etwas weniger dicht stehen müssen – was den Architekten neue gestalterische Spielräume eröffnen wird.
    • »Share Yaraicho«, Shinjuku, Tokio

 

    • Architekten: Satoko Shinohara (Spatial Design Studio) mit Ayano Uchimura (A studio), Tokio

 

    • Grundstücksfläche: 128,60 m², bebaute Fläche: 76,68 m², Nutzfläche: 184,27m ²

 

    Bauzeit: September 2011 bis März 2012

akihisa hirata architecture office
Akihisa Hirata
1971 in Osaka (J) geboren. 1994 Diplom an der Universität Kyoto, 1997 Masterabschluss. Anschließend Mitarbeit bei Toyo Ito & Associates. Seit 2005 eigenes Büro. Lehrauftrag an der Universität Tohoku, Vorlesungen an den Universitäten Kyoto und Tokio.
APOLLO Architects & Associates
Satoshi Kurosaki
1970 in Kanazawa (J) geboren. 1994 Diplom an der Meiji University, Tokio. Anschließend Mitarbeit bei Sekisui House Ltd. und Forme. Seit 2000 Mitarbeit bei APOLLO als Büroleiter, seit 2008 in der Geschäftsführung. Kontaktdozent an der Nihon University, Tokio.
Spatial Design Studio
Satoko Shinohara
1958 in Tokio geboren. 1983 Master in Architektur an der Japan Women’s University. 1983-85 Mitarbeit im Atelier Hisao Kohyama. 1986 Gründung von Design Spatial Studio. Zurzeit Professur an der Japan Women’s University.
A studio
Ayano Uchimura
1967 in Tokio geboren. 1990 Diplom an der Nihon University, Tokio. 1990-98 Mitarbeit im Spatial Design Studio. 1998 Gründung von A studio.

Claudia Hildner
1979 in München geboren. 1999-2005 Architekturstudium an der TU München und der Universität von Tokio. Ab 2007 freie journalistische Tätigkeit in Stuttgart und Tokio, seit 2011 in München. Redaktionelle Mitarbeit bei Baumeister, german-architects.com und Metamorphose. Buchpublikationen »Wand« (mit Simone Hübener) und »Kleine Häuser«.

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