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Rathaus und Kulturzentrum Bocholt von Gottfried Böhm

Rathaus und Kulturzentrum in Bocholt, 1970-77
… in die Jahre gekommen – Rathaus

Die Altstadt von Bocholt und die westlichen Ansiedlungen waren von jeher durch die Aa getrennt. Das Bürgerzentrum sollte nach den massiven Zerstörungen des Krieges helfen, zwischen den beiden Stadtteilen zu vermitteln. Deshalb wurde das Bauwerk auf einer angelegten Insel im erweiterten Wasserlauf geplant und über Brücken mit beiden Uferseiten verbunden.

The historical centre of Bocholt and its western suburbs have always been seperated by the river Aa. Following the massive destruction of war a community centre was to help combine the two town quarters. The building was therefore planned on an artificial island in a widened water-course and connected by bridges with both banks.


Architekt: Gottfried Böhm, Köln
Mitarbeiter: Günther Frings, Arnold Kirchner, Dieter Kokula, Federico Valda, Gerhard Wagner

Text: Manuel Cuadra
Fotos: Manuel Cuadra, Architekturbüro Böhm

Die alte, über Jahrhunderte gewachsene westfälische Stadt Bocholt wurde gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zu neunzig Prozent zerstört. In nur wenigen Stunden ging das historische Stadtbild nahezu vollständig verloren. Übrig blieben der Grundriss der Stadt und mit ihm die Ruinen einiger weniger steinerner Monumentalbauten wie die der gotischen Pfarrkirche und des Renaissance-Rathauses, die zwar bald wiederaufgebaut wurden, aber bis heute ziemlich verloren dastehen. Auch alles andere, was danach entstanden ist, will nicht so recht zur Kleinmaßstäblichkeit des verwinkelt gewachsenen Ortes passen.
Um wie viel trostloser muss sich die Situation Anfang der siebziger Jahre gestellt haben, als Gottfried Böhm nach Bocholt kam, um sich der Planung des neuen Rathauses und des Kulturzentrums anzunehmen. So ist sein Entwurf auch als Beitrag zu begreifen, die schwer verwundete Stadt zu heilen. Dass der Neubau die stark technisch ausgerichtete Architekturauffassung der Zeit zu reflektieren hatte, erschien im Zeichen des »Wirtschaftswunders« selbstverständlich. Wie sich »so viel Anfang« mit den schwierigen Fragen nach Geschichte und Identität vereinbaren ließ, das gehörte zu den Herausforderungen, denen sich Böhm zu stellen hatte.
Der erste Eindruck vor Ort heute ist der einer konventionellen, tendenziell simplen Lösung im Sinne der Moderne. Was die rationale Skelettkonstruktion des Rathausese aus mit Blech verkleideten Stahlbetonfertigteilen vermittelt, verflüchtigt sich erst bei näherer Betrachtung. Wer will erkennt dann die hier eher subtil wirkende expressionistische Seite Böhms. Doch zunächst steht anderes im Vordergrund.
Besonders beim Rathaus folgt außen wie innen alles der strengen Logik des Skelettbaus, dessen Freiheiten zugleich bei der Bildung zusammenhängender Räume ausgiebig genutzt wurden. Das Bemühen, alle tragenden wie raumabschließenden Elemente in ihrer technischen und materiellen Beschaffenheit darzustellen, wird durch die offene Führung aller Leitungen unterstrichen. In funktionaler Hinsicht entschied man sich für die damals als modern geltenden Großraumbüros. Ursprünglich wurde der Raum in relativ große Bereiche unterteilt, später aus Gründen der Akustik und Intimität, kleinteiliger gegliedert.
Spannend wird der Entwurf aber erst jenseits der Standards, dort, wo Böhm die eigentlichen, die grundsätzlichen, die existentiellen Fragen dieser Jahre zu beantworten versuchte. Da geht es hauptsächlich um Integration, um die Einordnung des Neubaus in das landschaftliche und städtebauliche, aber auch in das historische und gesellschaftliche Gefüge Bocholts. Ziel war, der durch den Krieg auseinander gesprengten städtischen Gemeinschaft Möglichkeiten zu eröffnen, sich in physischer wie gesellschaftlicher und geistiger Hinsicht neu zu erleben und zu konstituieren.
Akuter Handlungsbedarf bestand in landschaftlicher und städtebaulicher Hinsicht schon wegen der geplanten, zunächst äußerst ungünstigen Lage unmittelbar am Fluss, im einst von Überflutungen bedrohten Uferbereich der Aa. Was heute absolut natürlich, ja idyllisch wirkt, war historisch ein Un-Ort im Rücken der eigentlichen Stadt. Böhm machte aus der Not eine Tugend und schuf durch den Aushub eines Nebenarms eine längliche Insel, auf die er das Rathaus platzierte. Die notwendigen Brücken, vor allem aber das Wasser selbst mit den von Schilf auf der einen und Bäumen auf der anderen Seite umfassten Uferwegen sind seitdem ein fester Bestandteil des Bildes, das die Bürger mit ihrem neuen Rathaus verbinden.
Für die Lage am äußersten Rand der Innenstadt hatte man sich vor allem wegen der besseren Erschließung entschieden. Als Kompensation für den Mangel an Zentralität erfand Böhm ein kleines Wegenetz, das von der Innenstadt über Brücken durch das Rathausgebäude hindurch und weiter in die neuen Wohngebiete im Westen führt. Um die Kontinuität der neuen Wege hervorzuheben und ihnen Prägnanz zu verleihen, stattete er sie mit kugelförmigen Straßenlaternen aus, die sich auch innerhalb des Rathauses im zur »Bürgerhalle« deklarierten Erdgeschoss wieder finden. So erhielt das Erdgeschoss den Charakter eines überdachten Platzes, der die Funktion eines Rathausplatzes übernimmt. Dazu trug auch die Anordnung einer Gaststätte mit Blick auf den Fluss und die Nutzung als Foyer des angrenzenden Kulturzentrums bei. Den öffentlichen Charakter der Bürgerhalle unterstreicht die Gestaltung der Böden mit dem für die Region typischen Backstein.
Mit diesem Material kehrt ein Thema ein, dessen Bedeutung sich nur allmählich erschließt, obwohl es präsent ist. Ist man erst einmal auf den Backsteinboden aufmerksam geworden, fallen einem auch die aus dem Boden wachsenden Mulden mit den zur Gaststätte gehörenden Sitzecken auf und wie der Boden langsam von der Horizontalen in die Vertikale übergeht und zur Fassade des Kulturzentrums wird. Bei der Gestaltung aller dieser Teile zeigt sich Böhm darum bemüht, die Besonderheiten des Materials hervorzuheben, seine handwerkliche Verarbeitung, seine Kleinteiligkeit, seine Massivität. Durch die unmittelbare Gegenüberstellung mit der großmaßstäblichen Tragkonstruktion kommt es zwangsläufig zu einer Art Konfrontation, die von Gottfried Böhm bewusst inszeniert wurde und bei der es offensichtlich um mehr als nur um Materialgerechtigkeit geht. Was hier stattfindet, ist ein Spiel mit Symbolen und Bedeutungen.
Dabei repräsentiert der Skelettbau die Gegenwart und die Industrie, der Backstein dagegen die Geschichte, den Ort und seine Kultur. So gesehen lässt sich die Architektur als Dialog zwischen Geschichte und Gegenwart lesen. Wenn es also an den entsprechenden Berührungspunkten in den Fassaden zu einem komplexen Ineinanderfließen der Körper und Flächen kommt, dann ist dies als Metapher zu verstehen – und damit als Aufforderung, sich mit dem Ort und seiner Geschichte zu beschäftigen. Dazu bietet das Rathausgebäude als Ganzes Gelegenheit, wenn es sich als moderner Skelettbau präsentiert aber auf einem steinernen Boden ruht. Das Kulturzentrum wiederum, den die Fassaden als »traditionellen« Backsteinbau darstellen, erweist sich im Inneren als weit gespannte Spannbetonkonstruktion neuester Art.
Ist man erst einmal auf dieses Spiel mit Assoziationen gekommen, erhalten auch vermeintlich willkürliche Details wie die Fassadenmalereien am Haupteingang des Rathauses mit bildlichen Motiven und Zitaten aus der Geschichte Bocholts sowie die vor Ort nie verstandene Farbgestaltung einen tieferen Sinn. So zwingt die in der Tat erst einmal seltsam anmutende Kombination verschiedener Rot- und Grüntöne mit Violett den Betrachter dazu, die im Grunde ja banalen Konstruktions- und Ausbauelemente mit anderen Augen zu betrachten, in ihnen die Protagonisten eines Dramas zu sehen, in dem es letztendlich um den Ort und seine Geschichte geht.
Das alles kann man, wie gesagt, so sehen, muss es aber sicherlich nicht. Angesichts des in technischer Hinsicht guten Erhaltungszustands möchte man meinen, dass sich die Menschen vor Ort gut mit ihrem neuen Rathaus verstehen. Die Veränderungen an den Laternen, der Farbgestaltung und den Eingängen verraten jedoch, dass die subtile Poesie des Hauses und die in dieser Poesie enthaltenen Chancen nicht in vollem Umfang erkannt worden sind. Die irgendwann einmal anstehende Renovierung des Gebäudes wird hoffentlich die Chance nicht ungenutzt lassen, die in dieser Architektur steckenden Kräfte neu zu mobilisieren.
M. C.

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