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Bezahlbarer Wohnraum in Zürich von gus wüstemann architects

Mehr Mut zum Kontrast
Bezahlbarer Wohnraum Langgrütstraße in Zürich

Die Wohnungen, die Gus Wüstemann im reduzierten Standard eines veredelten Rohbaus realisiert hat, profitieren von räumlicher Gegensätzlichkeit: offen versus geschlossen, kleinteilig versus großzügig, innen versus außen. Sie sind mit gezielter Investition in Licht und Raum ein Statement gegen die nivellierende Konvention im Wohnungsbau – und das, im Zürcher Vergleich, zu relativ niedrigen Mietpreisen.

Architekten: gus wüstemann architects
Tragwerksplanung: Born Partner

Kritik: Hubertus Adam
Fotos: Bruno Helbling

Große Teile des im Westen der Stadt gelegenen Quartiers Albisrieden, das seit 1934 zu Zürich gehört, wurden in den 50er- und 60er Jahren mit schlichten sattelgedeckten Wohnhäusern bebaut. Gemäß der seinerzeit gültigen Idee der gartenstadtähnlich aufgelockerten Stadtlandschaft bilden diese mal offene Hofkonfigurationen, mal parallele oder aufgefächerte Zeilenstrukturen.

Bei vielen dieser Gebäude handelt es sich um Genossenschaftsbauten, andere gehören privaten Bauherrschaften. Den Teil einer Zeile südlich der Langgrütstraße hatte vor vielen Jahren der Grafiker und Maler Balz Baechi erworben – zusammen mit einer benachbarten Parkplatz- und Garagenfläche. Gemeinsam mit seiner inwischen verstorbenen Frau Isabel hat Baechi 2002 die I+B Baechi Foundation to protect Wallpaintings gegründet. Die jährlichen Beiträge zur Restaurierung von historischen Wandgemälden aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen – das Spektrum reicht von Neros Domus Aurea in Rom über Tempel in West-Tibet und barocke Kirchen bis hin zur Sanierung der Züricher Tonhalle – stammen aus den Mieterlösen von Immobilien, die Baechi mithilfe des väterlichen Erbes sowie eigener Einkünfte erworben und saniert oder erstellt hat.

Da die Parzelle in Albisrieden eine höhere Ausnutzung erlaubte, entschied sich Baechi für einen Neubau an Stelle des früheren Parkplatzes. Ein Architekt im Stiftungsrat vermittelte ihm den in Zürich und Barcelona tätigen Architekten Gus Wüstemann, der vor Ort besonders durch das vor fünf Jahren fertiggestellte Wohnprojekt »Stone H« am Zürichberg bekannt geworden ist: Zwei Spangen mit kleinen, kojenartigen Schlafzimmern umfassen dort die großzügigen Wohnflächen, deren Verglasungen sich öffnen lassen, und die dadurch fast wie Außenräume wirken. Dieses Prinzip hat Wüstemann nun bei seinem Wohngebäude in Albisrieden aufgegriffen. Die Rahmenbedingungen indes waren hier andere. Denn Baechi wünschte sich kostengünstigen Wohnraum.

Wider die Konventionen

Gus Wüstemann, der nach seinem Studium an der ETH Zürich in Australien, Indien, den USA und Großbritannien gearbeitet hat, zählt zu den Architekten, die sich kritisch mit den Konventionen des schweizerischen Wohnungsbaus und auch mit dessen Überregulierung durch ständig neue Vorschriften auseinandersetzen. Tatsächlich hat sich in Zürich, von einigen löblichen Ausnahmen in Bezug auf unkonventionelle Grundrisse abgesehen, ein Mainstream etabliert, der wenig Überraschendes bereithält. Auch wenn sich die Lebensgewohnheiten längst geändert haben, variieren die Bauträger immer noch die herkömmlichen Familienwohnungen – ob aus Fantasielosigkeit oder aus der Furcht heraus, der Wert speziell konzipierter Wohnungen könnte in Zukunft sinken.

Wüstemanns Projekte kann man als Kampfansage an die Standardisierung des nutzungsneutralen Wohnungsbaus verstehen. Das beginnt bei der Materialität. Zweischaliger Beton gilt gemeinhin als kostentreibender Faktor. Doch Wüstemann hat schon beim Stone H nachweisen können, dass diese Behauptung nicht zutrifft – zumindest nicht dann, wenn man so vorgeht wie er. Denn die doppelschalige Betonkonstruktion erlaubt es, die Anzahl der Gewerke auf der Baustelle zu reduzieren. Das Gebäude wird vom Rohbauer erstellt; da Decken und Wände betonsichtig belassen bleiben, kann auf Stuckateure und Spengler weitgehend verzichtet werden.

Die Außenfassaden des kräftig und skulptural wirkenden Volumens wurden mit OSB-Platten verschalt, um ein lebendigeres, fast organisch anmutendes Fassadenbild zu gewinnen, ansonsten fand Beton der einfachsten Verarbeitungsklasse Verwendung. Die legendäre Präzision der Schweizer Betonverarbeitung war hier also gerade nicht erwünscht. Überdies verzichtete man auf die sonst übliche technische Hochrüstung. Also gibt es keine kontrollierte Lüftung – die Bewohner werden hier noch als handelnde Individuen angesehen, die fähig sind, mit Fenstern, Schiebetüren und Sonnenschutz aus Holzlamellen umzugehen. Deshalb verzichtet man auf alle überflüssigen Leitungsführungen – pro Zimmer gibt es nur eine Steckdose und einen Leuchtenanschluss. Also wurde die technische Ausstattung auf das Minimum reduziert – keine Einbauküchen, sondern mobile Herde, die man nach Lust und Laune auch auf dem Balkon aufstellen kann.

Kojen und Halle

Beschränkung, so zeigen die Konzepte von Gus Wüstemann, ist eine Tugend, weil sie an anderer Stelle Freiheiten ermöglicht. Und das ist deutlich spannender als nivellierendes Mittelmaß. Im Haus in Albisrieden gilt das insbesondere für die Grundrissorganisation. Wie schon beim Stone H komprimierte er die Schlafräume und Nasszellen in mural geprägten, mit Lochfenstern versehenen Spangen, welche die seitlichen Gebäudestirnen bilden. Zu diesen tritt ein mittiges Volumen mit der Erschließung und den Küchennischen – aufgrund des Grundrisses eines unregelmäßigen Vierecks liegen auf der Nordseite 4 ½-Zimmer-Wohnungen mit 95 m² und auf der Südseite 3 ½-Zimmer-Wohnungen mit 60 m².

Zwischen Erschließungskern und den schmalen Spangen mit den privateren Räumen sind große west-östlich orientierte Wohnplattformen eingespannt – bei den größeren Wohnungen streifenförmig und mit zwei Balkons, bei den kleineren trichterförmig und mit einem Balkon auf der Westseite. Mehrteilige Schiebetüren erlauben es, die Verglasungen vollflächig zu öffnen, sodass der Innenraum zu einem Außenraum wird. Im Sommer ist das, so versteht es Gus Wüstemann, eigentlich der Normalzustand. Lassen die Grundrisse eine schlauchartige Wirkung befürchten, so vermittelt sich vor Ort der Eindruck großzügiger Flächen und Freiräume.

Unterstützt wird dieses Konzept durch die Schalung der Wände, die hier mit der OSB-Struktur jener der äußeren Fassaden entspricht. Die Wohnungen leben somit durch den Kontrast: Relativ kleine Schlafzimmer, orientiert nach Norden und Süden mit Lochfenstern, WC und Dusche ebenfalls auf das Minimum reduziert und räumlich getrennt – und dazu die große, freie, nach Westen und Osten ausgerichtete Wohnfläche, lichtdurchflutet und mit Balkons ausgestattet.

Aussehen und Haptik des Sichtbetons prägen diese Wohnhallen, bis hin zu betonierten, langgestreckten Ablagen neben dem Eingang, die auch als Sitzgelegenheiten dienen. Dazu gesellt sich Holz, in Form einfacher Platten für Einbau- und Schiebelemente sowie als Lamellen für die handwerklich gefertigten und aus Barcelona importierten Sonnenschutzstores, die mit Schnüren entrollt und händisch über die Balkonbrüstungen gelegt werden. Das dritte wirkungsbestimmende Material ist Metall, bzw. Stahl: für die einfachen, mit Maschendraht versehenen Geländer, für die Küchenabdeckung und für die Kleiderstangen in Form von Vierkantprofilen, die direkt in die Betonwände gedübelt wurden.

Der Kontrast zwischen offen und geschlossen, kleinteilig und großzügig, hell und dunkel lässt auch die im Verhältnis kleineren Wohnungen erstaunlich luxuriös erscheinen. Zudem profitieren auch diese von einer allen Mietern offenstehenden Dachterrasse, die einen grandiosen Blick über den Westen Zürichs und auf die Hänge des Uetlibergs bietet. Auf dieser Ebene findet sich überdies eine neunte Wohnung mit gut 50 m² Grundfläche.

Die Abstimmung mit der Stiftung als Bauherrschaft sei erstaunlich reibungslos verlaufen, erklärt Gus Wüstemann, und so seien von der Auftragsvergabe bis zur Fertigstellung nur zweieinhalb Jahre vergangen. V. a. aber wurde das Ziel, kostengünstig zu bauen, tatsächlich erreicht. Die Monatsmiete der kleineren Wohnungen liegt bei 1 500, die der größeren bei 2 000-2 200 CHF. Angesichts eines durchschnittlichen Quadratmetermietpreises von 33 CHF ist das für einen Neubau ein mehr als akzeptables Ergebnis.

Grundriss DG: gus wüstemann architects, Zürich/Barcelona
Grundriss EG: gus wüstemann architects, Zürich/Barcelona
Grundriss 1.-3. OG: gus wüstemann architects, Zürich/Barcelona
Lageplan: gus wüstemann architects, Zürich/Barcelona
Schnitt: gus wüstemann architects, Zürich/Barcelona

  • Standort: Langgrütstraße 107, CH-8047 Zürich

    Bauherr: I.+B.Baechi Foundation, Zollikon
    Architekten: gus wüstemann architects, Zürich/Barcelona
    Mitarbeiter: Bianca Kilian (Projektleitung), Daniel Pelach, Panagiota Sarantinoudi, Valentin Kokudev, Architect
    Tragwerksplanung: Born Partner, Kilchberg
    HLSK-Planung: Frei + Partner, Baden
    Bauphysik: Gatemann Engineering, Zürich
    BGF: 988,3 m²
    BRI: 3 242,6 m³
    Baukosten: 3,6 Mio CHF (rund 3,15 Mio. Euro)
    Bauzeit: September 2017 bis Januar 2019

Zum Besuch unseres Kritikers Hubertus Adam in Albisrieden hatte der bevorstehende Sommer extra die Nebelmaschine angeworfen, um das Haus in geheimnisvollen Dunst zu hüllen – ganz und gar passend zu Fragen wie der nach stofflicher Durchdringung oder jener, ob in einer Stadt wie Zürich ernsthaft bezahlbarer Wohnraum entstehen kann.

Hubertus Adam
1965 in Hannover geboren. Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Philosophie in Heidelberg. 1996-98 Redakteur der Bauwelt, 1998-2012 der archithese. Freier Architekturkritiker v. a. für die NZZ. 2010-15 Künstlerischer Leiter des S AM in Basel.

gus wüstemann architects


Gus Wüstemann

Architekturstudium an der ETH Zürich, Berufstätigkeit in Australien, Indien, England und den USA. Seit 1997 eigenes Büro in Zürich, seit 2004 auch in Barcelona. Mitbegründung und Kuratierung der Plattform Catalan-Architects. Vortragstätigkeit, Forschungsworkshops.


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