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Über die Architektur hinaus
Der Turner Prize wurde 1984 ins Leben gerufen, um die öffentliche Diskussion neuer Entwicklungen in der zeitgenössischen britischen Kunst zu fördern. Dieses Jahr wurde erstmals ein architektonisches Projekt nominiert. Es handelt sich um zehn Häuser in der Granby Street im Liverpooler Stadtteil Toxteth, der nach Unruhen im Jahr 1981 von der Stadtverwaltung systematisch ignoriert wurde und sich zu einer No-Go-Area wandelte. Heute behaupten sich hier rund 70 Menschen in einem Gebiet mit 200 Häusern, die größtenteils verrammelt sind. Vor etwa fünf Jahren begannen sie, sich zu vernetzen, ihre Nachbarschaft aufzuräumen, Gärten anzulegen und einen monatlichen Markt abzuhalten. Ein sozialer Investor von der Kanalinsel Jersey wurde auf sie aufmerksam und brachte Assemble ins Spiel, ein Londoner Kollektiv u. a. aus fast fertig studierten Architekten, Designern und Handwerkern, das mit direkter aber feinsinniger Herangehensweise Probleme anpackt und löst. Kennzeichnend dafür ist das Gespräch mit den Bewohnern und das Arbeiten mit dem, was da ist: Wenn eine Geschossdecke fehlt, warum nicht den doppelt hohen Raum inszenieren und nutzen, wie er jetzt ist? Warum sollte man die Dinge, die die Bewohner für sich passend entwickelt und eingebaut haben, wieder entfernen und ihnen stattdessen 08/15-Ware aufzwingen – wie es landauf, landab in staatlichen Revitalisierungsprojekten geschieht? Die Ideen reichen bis zur Umwandlung einer Ruine ohne Decken, Treppen und Dach in einen Wintergarten für die gesamte Nachbarschaft. Nicht zuletzt werden bei der Wiederbelebung der Häuser auch Lehrlinge ausgebildet.
Diese Verbindung aus Materialbezogenheit und kollektivem Prozess sind es, die aus dem Projekt mehr als Architektur machen und es für den Preis als »Kunst« qualifizieren. Am 7. Dezember wird die Tate Britain die Preisträger bekanntgeben. Alle vier nominierten Werke sind bis zum 16. Januar im Glasgower Ausstellungsraum The Tramway zu sehen. ~dr
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