1 Monat GRATIS testen, danach für nur 6,90€/Monat!
Startseite » Diskurs »

Wege zur wahren Stadt

Diskurs
Wege zur wahren Stadt

Venedig schrumpft. Immer weniger »echte« Venezianer leben in ihrer Stadt. Immer mehr, vor allem junge Leute, verlassen die Insel und ziehen sich auf das preiswertere Festland zurück. Aber auch nicht ganz so berühmte Städte, wie etwa Quedlinburg, verlieren ebenfalls Einwohner. Rund 17 % seiner Bevölkerung hat das Bundesland Sachsen-Anhalt seit der politischen Wende 1989 eingebüßt. Und weltweit stehen Städte und ganze Regionen vor vergleichbaren Problemen. In einem achtjährigen Stadtumbauprozess im Rahmen der IBA Stadtumbau 2010 fanden die Städte Sachsen-Anhalts modellhafte Ideen und Lösungsansätze im Umgang für Regionen in Transformation, so auch Quedlinburg, von dem Venedig manches lernen könnte.

~Cornelia Heller

Es sind Tage wie dieser, die den Mythos von Venedig speisen: strahlend blauer wolkenloser Himmel, ein leichter Wind, der über die Wellen der smaragdgrünen Lagune streicht. Vaporettos und Gondeln tragen sorglos lachende Menschen über das Wasser entlang der reich verzierten, süßlich verfallenen Palazzi am Canal Grande. Eine perfekte Kulisse, eine trügerische. Denn Venedig hat Probleme; so viele, dass es mittlerweile wohl auch für jedes eine Bürgerinitiative gibt. Von weit über 100 Vereinen spricht eine leidenschaftliche Stadtführerin und Bürgerin Venedigs: »Es gibt diese Vereine zu einem einzigen Zweck: die Qualität des Lebens zu verbessern. Denn alle, die herkommen denken: Was für eine wunderschöne Stadt!« Doch, wer hier wohnt, weiß: »Was für eine schwierige Stadt!« Sie kennt die Zahlen. Auf heute knapp 60 000 Einwohner im historischen Zentrum kommen mittlerweile 20 Mio. Touristen, die jährlich die Lagunenstadt besuchen. Dagegen verliert die Stadt rund 2 000 Einwohner im Jahr. Viele flüchten aufs Festland, u. a. nach Mestre, um den immens hohen Lebenshaltungskosten auf den 118 Inseln, die das historische Venedig, das »centro storico« ausmachen, zu entkommen. »Sie sind dreimal so hoch , das kann keiner aufbringen.« Vor allem das beklagen die zahlreichen Bürgervereine. »Aber Antworten«, so sagt die Stadtführerin, »bekommen sie nicht.« Venedig droht, zur bloßen Kulisse des stetig wachsenden Fremdenverkehrs zu verkommen. Zumal die Regierung die Umwandlung von ohnehin überteuertem Wohneigentum in Touristenunterkünfte per Gesetz erleichtert hat. Gemeindewohnungen für Venezianer gebe es hingegen nur in Mestre, dem Stadtteil auf festem Grund gegenüber der Lagunenstadt, sagt die Venezianerin, wohl wissend, dass sich dazu die alten, die existenziellen Probleme der Stadt gesellen: So verfallen vor den Augen der Welt die einzigartigen, historischen Palazzi der einst so mächtigen und reichen Republik Venedig und versinken zudem im »acqua alta«, im Hochwasser, das inzwischen jedes Jahr früher und öfter die Piazza San Marco überschwemmt.
Gebremster Verfall des Fachwerkidylls
Quedlinburg, die einstige Königspfalz im Harz, gilt mit seinen 1 300 ausnehmend schönen Fachwerkhäusern als einzigartiges Bilderbuch deutscher Fachwerkkunst. Die stolzen Häuser aus Holz und Lehm aller Stil- und Zeitepochen drängen sich auf einem fast komplett erhaltenen frühmittelalterlichen Stadtgrundriss, dem größten Flächendenkmal Deutschlands. In dem spazieren im Jahr weit über 1 Mio. Tagestouristen. Doch Quedlinburg war und ist noch immer, wie andere ostdeutsche Städte nach der politischen Wende in der DDR, vom Zusammenbruch seiner Wirtschaft und hoher Arbeitslosigkeit schwer gezeichnet und verlor rund 20 % seiner Einwohnerschaft. Es fehlen schlichtweg Bewohner. Etwa 250 der wertvollen Fachwerkhäuser stehen darum heute leer und drohen zu verfallen. So riecht auch hier manche Gasse süßlich morbid. Durch Hilfen aus dem »Modellprogramm für städtebauliche Erneuerung«, dem Förderprogramm »Städtebaulicher Denkmalschutz« und durch ungezählte private Initiativen sind zwar seit 1990 rund 50 % der einst desolaten Häuser Stück für Stück gerettet worden. Die andere Hälfte aber „muss angesichts der Größe der Aufgabe beim Weiterbauen am Denkmal nächsten Generationen vorbehalten bleiben«, sagt Oberbürgermeister Eberhard Brecht. Und weiß, ganze Gebäudeensembles sind bedroht. Gehen sie verloren, kann das historisch gewachsene, jetzt noch geschlossene städtebauliche Gefüge brechen – fatal für die Stadt, deren baukulturelles Erbe die Basis für das Prädikat »Weltkulturerbe« ist. Seit 1994 führt die UNESCO die Stadt Quedlinburg auf derselben Liste des Welterbes der Menschheit, auf der (seit 1987) auch Venedig und seine Lagune verzeichnet sind.
Leuchtturmprojekte am Kernproblem vorbeigeplant
In Venedigs Stadtteil Marghera auf dem Festland ist in den vergangenen Jahren auf 200 ha ehemaligen Hafengeländes der Wissenschafts- und Technologiepark VEGA entstanden. 146 Unternehmen haben hier ihren Sitz, 1 800 Menschen fanden einen Arbeitsplatz, 75 % davon sind Hochschulabsolventen. Es ist eines von vielen ambitionierten Projekten, die ein Bild eines modernen Venedigs zeichnen, das dem durchschnittlichen Touristen so nicht gegenwärtig ist. »Venedigs Berufung und Funktion als leistungsfähiges Dienstleistungszentrum und mit Hafenanlagen für den Tourismus und die chemische Industrie speist sich aus dieser exzellenten Lage am Kreuzungspunkt wichtiger Transportachsen zu Wasser und zu Land«, erklärt Giovanni Battista Rudatis, ehemaliger Direktor des Planungsamts, und umreißt weitere Projekte einer »Städtischen Transformation« auf ehemaligen Industriearealen wie z. B. den »Venezia Light Tower« mit Wohnungen, Büros und einem Einkaufszentrum im Herzen Mestres. Es gibt den neu erbauten Terminal für die Abfertigung der Kreuzfahrtschiffe, die neue Brücke am Piazzale Roma von Santiago Calatrava oder das am Flughafen geplante Spielcasino nebst Stadion und Hotel. Und dann ist da auch noch »Mose«, das umstrittene Hochwasserschutz-Großprojekt, das, sofern es denn fertig erbaut und in Betrieb genommen ist, Venedig vor kommenden Fluten schützen soll. Es ist viel und es ist erstaunlich, was die Stadt da alles plant und baut und bewilligt. Doch zur Stadtentwicklung im alten Venedig befragt, zu Strategien zur Erhaltung der historischen Bausubstanz, zu Maßnahmen zur Rückkehr der Venezianer nach Venedig, bleibt es merkwürdig still in der Lagunenstadt: Vor allem anderen diene der Tourismus als Einnahmequelle zur Genesung der Stadt. Da scheint für »echte« Venezianer immer weniger Platz.
Politik der kleinen gemeinsamen Schritte
Der Blick nach Deutschland offenbart Lösungsansätze für Städte und Regionen in Transformation. Die zeigt Sachsen-Anhalt derzeit selbstbewusst im Ergebnis seiner Internationalen Bauausstellung Stadtumbau 2010. 19 Städte suchten in den vergangenen acht Jahren 19 individuelle Wege. Die will das Land als Modellbeispiele für andere Regionen profilieren. So auch die Stadt Quedlinburg, die eine Perspektive in ihrem reichen Welterbe fand. Hier fließt kein Geld für Großprojekte. Die Stadt steht vor leeren Haushaltskassen. Eigenmittel zur Kofinanzierung geförderter Projekte kann sie schon jetzt kaum aufbringen. Und ist trotzdem reich belohnt ›
› mit einer lebhaften Bürgerschaft. Die hatte schon zu DDR-Zeiten den Flächenabriss der nördlichen Altstadt verhindert. Nicht minder aktiv nach 1990 retteten vor allem private Bauherren, Quedlinburger wie Zugezogene, aus eigener Tasche und mit nimmermüdem Mut kleinere Fachwerkhäuser. Diese Vielzahl von baulichem und kulturellem Engagement von Privaten zur Erhaltung ihrer Altstadt ist der Grundstock einer Idee, die sich Quedlinburg als IBA-Stadt zu eigen machte. Aktionsplattformen wurden im Zusammenwirken von Stadt, IBA-Büro und den zahlreichen Initiativen gegründet, das »Denkmalfrühstück« etwa oder das »Forum Bürger für Quedlinburg«. Man bündelt die guten Ideen, bringt Einzelkämpfer zusammen, sammelt Expertisen zu gelungenen und möglichen Haussanierungen oder -sicherungen und fördert den Austausch und die Mitwirkung an der Gestaltung eines UNESCO-Managementplans. In Quedlinburg hat man begriffen, dass Stadtentwicklung nur mit den Bürgern gemeinsam gelingen kann. Und mancher Tourist verliebt sich so sehr in diese Stadt, dass er sich eines dieser leer stehenden Fachwerkhäuser annimmt, es saniert und bleibt. »Jeder Tourist«, sagt Andrea Weye vom Fremdenverkehrsverein Quedlinburg, »ist ein potenzieller Neubürger. Wer als Besucher kommt und merkt, dass er hier Gleichgesinnte findet, kommt manchmal ganz hierher, aus Deutschland, den Niederlanden, Dänemark, sogar aus den USA.« Fremde, auch Betuchte, sind also gern willkommen, sie bringen sich ein und werden Teil der Stadt. Ganz anders in Venedig, wo Immobilien zur Nutzung von nur wenigen Wochen im Jahr zu horrenden Preisen den Besitzer wechseln. Vor einer drohenden Musealisierung braucht sich so heute in Quedlinburg noch niemand zu fürchten. Die Zukunft der Stadt und damit den Zuzug von Bewohnern zurück in die Mitte werden andere Fragen entscheiden: die Vereinbarkeit von Denkmalschutz und Wärmeschutzmaßnahmen an historischen Gebäuden, der Einzug regenerativer Energien oder eine barrierefreie Gestaltung. Und die Einhaltung der von der UNESCO vorgeschriebenen Pufferzone, die das Welterbe vor zu starkem Entwicklungs- und Verkehrsdruck schützen, aber nicht zwangsläufig mögliche Investitionen behindern soll. Gemeinsam mit Denkmalpflegern arbeiten die Bürger und die Stadt von Quedlinburg eng und vertrauensvoll an diesem Prozess und können vor allem in diesem Zusammenwirken für andere Welterbestädte wie Venedig ein Beispiel sein. »Unsere Stadtplanung«, sagte Städtebaudezernent Ezio Micelli in einer Podiumsdiskussion, zu der das Land Sachsen-Anhalt am Rande der 12. Architekturbiennale in Venedig zu »Regionen in Transformation« geladen hatte und sich über die Ergebnisse seines Stadtumbaus mit internationalen Gästen austauschte, »steht vor der Aufgabe, Venedig nicht nur für die Touristen, sondern auch als ›reale Stadt‹ zu erhalten, in der Menschen leben und arbeiten und Aktivität entsteht.« Der Tourismus sei eine sehr wichtige Branche für die Stadt, die wichtigste überhaupt. »Aber erst der Tourismus und ›etwas anderes‹ wird Venedig wieder zu einer ›wahren Stadt‹ machen.« Daran arbeite man, sagte er. Konkreter wurde er nicht. Und so begreift sich Venedig wohl gegenwärtig als Stadt mit zwei Gesichtern: der alten, der durchlauchtigsten auf ihren 118 Inseln, die im Geschäft mit dem Tourismus, mit engem Spielraum für die Einheimischen und im Korsett ihrer Geschichte zu erstarren droht, und der anderen auf dem Festland, die modern, attraktiv und sehr wach ins 21. Jahrhundert zu wachsen scheint. •
Die Autorin ist freie Journalistin in Magdeburg mit den Schwerpunkten Architektur und Baukultur in Sachsen-Anhalt. Sie ist außerdem Autorin des Buchs »Gesichter eines Wandels – Stadtgeschichten« zur IBA Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010, Anderbeck 2008
Tags
Aktuelles Heft
Titelbild db deutsche bauzeitung 4
Ausgabe
4.2024
LESEN
ABO
MeistgelesenNeueste Artikel

Architektur Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Architektur-Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Medien GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum arcguide Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des arcguide Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de