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Vorwärts, nicht zurück

Diskurs
Vorwärts, nicht zurück

Am 13. November 2005 hatte Peter Sloterdijk im ZDF Gunnar Heinsohn zu Gast, der in entwaffnender Sachlichkeit feststellte, dass wir gegenwärtig in Europa die höchste Vergreisungsgeschwindigkeit der Menschheitsgeschichte erleben und dies den Verlust von Innovations- und Erfinderkraft bedeute, da technischer Fortschritt im Wesentlichen von jungen Leuten zwischen 18 und 35 Jahren gemacht werde. Am 15. November hat dann Dieter Bartetzko im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Art Plädoyer für den »Wiederaufbau« der Frankfurter Altstadt an der Stelle des zum Abriss vorgesehenen Technischen Rathauses gehalten. Bartetzko schreibt: »Wenn wir mit behutsamem Bauen im Bestand, mit kleinteiliger neuer Architektur unter Verwendung traditioneller Materialien und aller historischen Reste ein Raumgefüge schaffen, in dem das Gewesene zur geschichtsbewussten Gegenwart wird, dann könnte eine neue Stadtmitte entstehen, die vom ersten Tag an historisch aussehen wird. Im Sinne des recht verstandenen Begriffs der Altstadt, der keine chronologische Angabe enthält, sondern den Bezirk bezeichnet, in dem seit ältester Zeit Bürger gesiedelt haben und, aller Sehnsucht nach der großen weiten, hohen, neuen Welt zum Trotz, bleiben wollen.« Es verwirrt und enttäuscht zu sehen, wie sich viele vor allem um Konservieren, Restaurieren und Rekonstruieren, Wiederaufbau und Nachempfindung kümmern. Es ist schließlich nicht nur die allseits bewunderte Frauenkirche, es wird mit dem Neumarkt und dem Taschenbergpalais die halbe Dresdener Innenstadt zur Puppenwerkstadt; es geht um das Braunschweiger Schloss, Schinkels Bauakademie, die Kommandantur Unter den Linden und nicht zuletzt um den Plan, das Berliner Stadtschloss wieder aufzubauen! Doch wäre nicht vielmehr eine Art Entfesselung notwendig? Stattdessen entzaubert sich das Land selbst und gefällt sich darin, Schlösser, Burgen und Fachwerkromantik wiederherzustellen. Seit 15 Jahren wird versucht, unsere kreative Kraft und Intelligenz in einer fruchtlosen, vergangenheitsseligen, nostalgiebesoffenen Stildebatte zu binden. Einer Debatte, die längst aus den Anfängen von »Stein oder Glas« zu einer unverhohlenen Forderung nach Stuck und Ornament, detailgetreuer Rekonstruktion und unverschämter Nachempfindung übergegangen ist. – In jeder anderen Kunst wäre dies Betrug, man würde von Plagiaten sprechen. In der Baukunst jedoch nicht, die Rückwärtsgewandtheit spiegelt den hohen Altersdurchschnitt der Bevölkerung wider: Die ältere Generation sehnt sich nach der »guten alten Zeit« zurück und dies zeigt sich in der vorherrschenden Architekturauffassung. Wir werden die Zukunft aber nicht mit der Heraufbeschwörung der Vergangenheit gewinnen, und wir haben es auch nicht nötig. – Wir werden auch die Käufer unserer neuen Autos nicht damit überzeugen, dass wir im eigenen Land nur Oldtimer fahren. – Die Emerging Economies werden noch eine Menge Flughäfen, Bahnhöfe und Schnellbahnsysteme brauchen, Stadtentwicklungen, Hotels und Hochschulen; dichte Ballungszentren werden intelligente Lösungen für eine vernetzte kommunikationssüchtige Bevölkerung erfordern. Dafür können wir die Blaupausen liefern, und wir können noch mehr: Wenn Öl und andere fossile Energiequellen eine geringer werdende Rolle spielen müssen und die überall auf der Welt verfügbaren Energiequellen wie Sonne und Wind die geopolitischen Machtstrukturen zunehmend obsolet machen, dann können wir die Architektur dieser solaren Weltwirtschaft konzipieren. Nur eines werden wir hoffentlich nicht tun, den Kopf in den Sand der Nostalgie stecken und aus Angst vor der Zukunft, dem Risiko des Machens und Wagens, die schale Rekonstruktion des vermeintlich Verlorenen vorziehen. Warum können wir das Nichtmehrvorhandene nicht verschwunden sein lassen, und warum sind so Wenige bereit, auch für die heutige Generation, das Recht einzufordern, ganz eigene Lösungsvorschläge zu machen, neue Wege zu gehen, eigene Experimente und Fehler zu wagen? Architektur ist ein Abenteuer, jedes Projekt eine Chance, eine Herausforderung, etwas Neues, Unbekanntes, Besseres, Leichteres, Schöneres zu erfinden. Sie ist die Chance zum Experiment, sie ist eine Möglichkeit, die man nutzen oder vertun kann. Wir können Häuser konstruieren, die mehr Energie produzieren als sie verbrauchen, für eine nachfossile, solare und andere regenerative Energien nutzende Epoche. Wir werden Lösungen finden müssen für Trabantenstädte und Vorstadtgettos, nicht nur in Frankreich, für das steigende Bedürfnis nach Mobilität, für effizientere Verkehrssysteme aber auch für Museen und Konzerthäuser, für städtisches Wohnen und für bessere Krankenhäuser. Und wir werden in diesem Zuge sicher auch unsere Altbauten verändern müssen, adaptieren an zukünftige Möglichkeiten und Notwendigkeiten, und es wird uns eine Freude sein! Christoph Ingenhoven

Der Kommentar basiert auf einem Vortrag, den der Architekt Christoph Ingenhoven bei der Preisverleihung des Renault Traffic Awards im November 2005 in Berlin hielt.
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