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Von Abfall bis Verkehr

Bericht von der 15. Architekturbiennale in Venedig
Von Abfall bis Verkehr

Markig ist das Leitthema der diesjährigen Architektur-Biennale von Venedig, »Reporting from the Front«, das der Künstlerische Leiter Alejandro Aravena ausgegeben hatte. Tatsächlich ist seine Zentralausstellung sehr pragmatisch auf die Alltagsprobleme des Bauens bezogen, auf Material, Handwerk, Arbeitskraft. Die Architektur kommt dabei arg kurz, ebenso wie in vielen nationalen Pavillons. Der deutsche Beitrag beschränkt sich darauf, die Thesen der »Ankunftsstadt« plakativ vorzuführen: Wie können Migranten heimisch werden? Architektur spielt dafür offenbar keine große Rolle.

~Bernhard Schulz

Von Abfall bis Verkehr
Etliche Beobachter hatten darauf gesetzt, dass die Biennale unter dem vielsagenden Titel »Berichte von der Front« ganz auf die Flüchtlingsproblematik fokussiert sein würde und demzufolge für die Auszeichnung mit dem Goldenen Löwen nur einer der Beiträge zum Thema Flüchtlingsunterkünfte infrage käme. Stattdessen aber Spanien: das Land mit der geplatzten Immobilienblase? Ganz genau. Denn was der spanische Pavillon beziehungsweise die beiden Kuratoren Iñaqui Carnicero und Carlos Quintans als eine Folge des Zusammenbruchs des Baubooms zeigen, ist eine überwältigende Fülle von zumeist kleinen, teils nicht einmal vollendeten Projekten; daher der Pavillon-Titel »Unvollendet«. Da ist so viel Kreativität zu sehen, bisweilen in Orten, die man als gewöhnlicher Spanien-Besucher nicht einmal vom Hörensagen kennt, dass man von Krise gar nicht mehr reden mag, es sei denn der Krise des Spekulantentums. Nicht aber der Architektur.
Hoffnungen auf den Goldlöwen gehegt hatten die Macher des deutschen Pavillons, Peter Cachola Schmal, Oliver Elser und Anna Scheuermann vom Deutschen Architekturmuseum Frankfurt am Main (s. Interview in db 5/2016, S. 14-16). Sie haben in die Wände des Pavillons vier Öffnungen, vier Portale ohne Türen gebrochen, nach draußen, ins Freie. Eine besonders starken Eindruck macht das in der Apsis des dreischiffigen Gebäudes, von wo man nun ungehindert auf die Lagune mit ihrem regen Boots- und Schiffsverkehr blickt.
Abgesehen von diesem Eingriff verkünden sie als Thema »Making Heimat. Germany, Arrival Country«, was auf eine Nahezu-Eins-zu-eins-Reproduktion des vielzitierten Buchs »Arrival City« des kanadischen Journalisten Doug Saunders hinausläuft. Acht Thesen sind in grellbunten Farben als Foto-Typo-Tapeten an die Wände geklebt, der Pavillon ist ja rund um die Uhr geöffnet, also können keine beweglichen Objekte gezeigt werden. Stattdessen Statistiken über eine Reihe von Stadtbezirken mit besonders hohem Ausländeranteil, an der Spitze Offenbach am Main, das Schmuddelkind mainaufwärts vom Bankenzentrum Frankfurt. Dass man in der »Ankunftsstadt« fünfe gerade sein lassen soll, damit Neuankömmlinge auch halblegale Arbeit finden können, dass ansonsten leer stehende Ladenlokale von Immigranten nach den Bedürfnissen ihrer Schicksalsgenossen bewirtschaftet werden, dass vermeintliche Gettobildung tatsächlich Netzwerk bedeutet – diese plakativen Erkenntnisse Saunders’ werden ebenso plakativ weitergegeben. Man fühlt sich in den kurzen (Spät-)Sommer der Willkommens-Anarchie zurückversetzt, während dem das Konzept gereift sein dürfte. Dem Katalog scheint nicht zufällig das berühmte Selfie-Foto von Kanzlerin Merkel mit einem irakischen Flüchtling vorangestellt zu sein.
Schade nur, dass so wenig Architektur gezeigt wird, von einigen Beispielen für Modularbauten abgesehen. Auch der österreichische Beitrag, mit »Orte für Menschen« überschrieben, präsentiert ein buntes Allerlei von Informationen und Fotos zur Migration nach Österreich, in dem sich einige Sofortmaßnahmen für Flüchtlinge in Wiener Wohnbezirken verbergen. Italien immerhin zeigt in seinem Domizil unter dem Titel »Bauen für das Gemeinwohl« Projekte, die sich an alle Einwohner richten, v. a. in der Peripherie, die nach dem Zweiten Weltkrieg Hunderttausende von Binnenmigranten aufnehmen musste. Eben das darf der Besucher einer Biennale erwarten: dass Probleme benannt und Lösungen zumindest angeboten werden, die sich in den Bereichen von Architektur und Stadtplanung bewegen statt in wohlfeiler Alles-wird-gut-Propaganda. Letztere gälte es gerade in Venedig mit seinen zahllosen, straff geführten und ausgebeuteten Straßenverkäufern von Piraterieprodukten und Plastikspielzeug etwas genauer zu reflektieren.
Da sticht inmitten der geschäftigen Giardini ein stiller Pavillon hervor, das quadratische Zelt der Westsahara. Allerdings: Den Staat gibt es nicht. Wohl aber die Probleme der dortigen, von kolonialen Machtansprüchen gebeutelten Region: Flucht, Migration, Lager, Spontansiedlungen; 160 000 Sahrawis – wie die Bewohner heißen – leben z. T. seit 40 Jahren in solchen Siedlungen, die ganz eigene Bauformen ausgebildet haben und dabei sozialen Systemen wie Schule und Bildung Form geben. Die Grenzen der jeweiligen Begriffe sind fließend, und übrigens ist das eine der wichtigsten Erkenntnisse, die diese Biennale vermittelt: nur nicht alles über einen Kamm scheren. Zwischen »Camp« und »Slum«, zwischen »Favela« und »Banlieue« liegen Welten, und wo etwa Flüchtigkeit endet und Dauerhaftigkeit beginnt, ist eine Frage der Perspektive.
Solch wechselnde Perspektiven nimmt die Hauptausstellung ein, die sich auf das 500 m lange Arsenal sowie den Zentralpavillon in den Giardini verteilt. Der Künstlerische Direktor der Biennale Alejandro Aravena will seinen etwas reißerischen Titel »Reporting from the Front« auf die »battles«, die Schlachten bezogen wissen, die auf allen möglichen Feldern zu schlagen sind, von Abfall bis Verkehr. Tatsächlich geht es ihm um die Praxis, nicht einmal in erster Linie der Architektur, sondern des Bauens überhaupt als einer Ur-Tätigkeit des Menschen. 88 Beiträge hat der 51-jährige Chilene eingeladen, darunter den Pavillon Westsahara als Nummer 01. Des Weiteren finden sich Beispiele etwa von mit Flachziegeln gemauerten Segmentkuppeln der Ingenieure Ochsendorf, Block, DeJong in Südafrika, oder eines aus dünnen Rippen im Diagonalverbund aufragenden Parabolgewölbes, erinnernd an die längst verschwundene Flugzeughalle in Orly, die in jeder Architekturgeschichte abgebildet ist – von Solano Benítez/Gabinete de Arquitectura aus Paraguay, mit dem Goldenen Löwen für den besten Einzelbeitrag ausgezeichnet. Der indische Straßenbauingenieur Nek Chand hat im heimatlichen Chandigarh einen Fantasiepark gebaut, einen verwunschenen Steingarten, bei dessen Umfriedung auch der ansonsten bei Aravena verpönte Zement zum Einsatz kam. Am Ufer des Biennale-Bassins hat Alexander Brodsky, dieser melancholische Künstler-Architekt aus Moskau, ein schräges, unbetretbares Haus hingestellt, genauer gesagt eine windschiefe Hütte. Das ist eine Metapher für das Unbehaustsein, ja für die Unmöglichkeit von Behaustsein, die im Gedächtnis bleibt.
Aravenas Ausstellung bildet ein Kaleidoskop von Aufgaben, die sich heute stellen, von den temporären Städten etwa indischer Religionsfeste mit ihren Massen von Besuchern – bis zu 7 Mio. (!) Dauergäste beim 55-tägigen Kumbh Mela, alle 12 Jahre in Allahabad – bis zur politisch verfügten Sesshaftmachung mongolischer Nomaden, die ihre Jurten dann eben inmitten der Hauptstadt Ulaanbataar aufstellen, von den aus Abbruchziegeln gewonnenen Recyclingbauten des chinesischen Pritzker-Preisträgers Wang Shu (s. db 6/2014, S .18) bis zu den egalitären Wohnbauten in traditionellem Handwerk von Studio Mumbai. ›
› Bereits die vorangehenden Biennalen hatten aufs Handwerk des Bauens wie auf die meist anonyme Produktion von Wohnraum Akzente gelegt. Doch bei Aravena, der sich dem im weitesten Sinne sozialen Aspekt der Architektur zuwendet, dem geradezu archaisch Gemeinschaftlichen des Bauens, kommt eine stringente Erzählung heraus, eine Erzählung von Material, Handwerk und Pragmatismus. Da fügen sich auch die Großmogule der Architektur nahtlos ein; Norman Foster mit einem hypermodern als Drohnen-Flughafen bezeichneten Kuppelbau, David Chipperfield mit seinem flach geduckten Museumsbau in der Wüste des Sudan, Renzo Piano, dessen »Building Workshop« schon immer kompatibel war zu allen Anstößen von Partizipation und Diskurs. Tadao Ando darf den Umbau des Zollgebäudes auf der Inselspitze Punta della Dogana von 2009 (!) in einem sehr schönen Modell vorführen; so viel Lokalbezug muss wohl sein.
Bel Architekten Berlin vergleichen die Unterbringung von 12 Mio. Ostflüchtlingen nach 1945 in Retortensiedlungen wie Bielefeld-Sennestadt mit der möglichen Verdichtung in heute von Migranten geprägten Städten und Stadtteilen wie Hamburg-Wilhelmsburg, das Ganze in einem sehr einprägsamen Großmodell aus hellblauem Polystyrolschaum. An dieser Stelle könnte sich der Besucher fragen, warum die Hauptausstellung der Binnenwanderung in den bevölkerungsreichen Ländern Asiens keine Beachtung schenkt, wo doch beispielsweise in China Zehntausende von Wohnhochhäusern am Fließband produziert werden. Industrielles Bauen? Fehlanzeige. Der Biennale-Kommissar von 2006 und Professor für Urbanistik an der London School of Economics, Ricky Burdett, zeigt in einem dem Arsenal benachbarten Gebäude Flächen- und Bevölkerungswachstum ausgewählter Megacities der Dritten Welt; auch das nicht neu und bei einer früheren Biennale auch schon eindrucksvoller an dreidimensional dargestellten Statistiken vorgeführt. Aber das sind Probleme der Gegenwart, die sich im Rückgriff auf »vernakuläres«, traditionsgesättigtes Bauen in Handarbeit nicht lösen lassen. Dass der Beitrag der Volksrepublik China am Ende des Arsenal-Gebiets einmal mehr jede Antwort schuldig bleibt auf Fragen, die sich jedenfalls dem europäischen Besucher im Hinblick auf die forcierte Urbanisierung des Riesenlands stellen, ist ein Ärgernis. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate, die diesmal einen großen Auftritt haben, gehen mit der Darstellung der zweifellos gut gemeinten Hausbauprogramme der Regierung an der ostentativen Weltstadt-Inszenierung der Golfanrainer völlig vorbei.
Es ist nahezu unmöglich, alle Biennale-Beiträge zu besichtigen; noch weniger, ihnen wirklich gerecht zu werden. 65 Länder nehmen diesmal teil, fünf davon erstmals – wie das vom Bürger- oder eher Stellvertreterkrieg gepeinigte Jemen, das die Bedrohung seiner traditionellen Wohnburgen anklagt -, und nur 30 finden auf dem Gelände der Giardini Platz, noch weniger in jeweils eigenem Pavillon. Die Niederlande widmen sich den 160 afrikanischen Standorten der UN-Blauhelme, die USA der dahinsiechenden Ex-Industriemetropole Detroit, Großbritannien dem Management des (vernetzten) Haushalts, Japan der Mikroarchitektur von Wohnungen nach dem traumatischen Erdbeben von 2011, Süd-Korea dem bestimmenden Einfluss der Bodenverwertung auf das Gebaute: Das hätte, auch wenn das Thema notabene schon mehrfach bei Biennalen angeschnitten wurde, durchaus wenn nicht den Löwen, so doch eine ehrende Erwähnung verdient gehabt. Denn dass sich Architektur nur innerhalb der Grenzen vollzieht, die Markt und Macht ihr setzen, ist eine Binsenweisheit, die freilich nicht oft genug wiederholt werden kann.
Auf den Biennale-Plakaten und -Katalogen ist die suggestive Fotografie einer Frau zu sehen, die auf einer Leiter stehend auf eine unendlich weite, vegetationslose Ebene blickt, über der sich ein stahlblauer Himmel wölbt. Man kann das Bild als Allegorie der Architektur lesen: Sie blickt auf das noch jungfräuliche Land, ohne es überblicken zu können. Aber sie wagt die Aussicht, wagt zu handeln. Mit diesem vorsichtigen Optimismus entlassen Alejandro Aravena und die Biennale ihre Besucher.
Der Autor ist Redakteur im Kulturressort des Tagesspiegel, Berlin.
Venedig, Giardini und Arsenale, bis 27. November. Katalog bei Marsilio (2 Bde.), 70 Euro, Kurzführer 16 Euro. Informationen und Rahmenprogramm: www.labiennale.org
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