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Tauwetter?

Diskurs
Tauwetter?

Tauwetter?
»Hoher Himmel, wenig Wolken, die Wildgänse am Horizont ziehen nach Süden ...« – Schreibarbeit vor dem Millennium Art Museum in Peking Foto: Heiner Schmitz, Dortmund
In Dresden war es die Sächsische Akademie der Künste, die im Oktober vergangenen Jahres eine internationale Tagung über das Schicksal der Prager Straße veranstaltete, um jenen imposantesten Stadtraum der Moderne in der DDR aus dem Blickwinkel europäischer Stadtbaugeschichte zu bewerten und vor dessen endgültiger Zerstörung zu warnen. Den Staffelstab jener Großversammlung hat die Künstlerinitiative »info offspring« übernommen, die ihr alljährliches Sommerprojekt diesmal ganz den gefährdeten Highlights der Dresdner Nachkriegsepoche widmet: In wöchentlichen Vortrags- und Debattenabenden werden den barockseligen Bürgern von Elbflorenz allerjüngste Denkmal(verdachts)bestände wie Kulturpalast (1962 – 69) oder Rundkino (1972) ans Herz gelegt.

In Berlin eröffnete der Werkbund im Mai dieses Jahres vor überfülltem Auditorium seine Ausstellung »Ostmoderne«, in der mit Andreas Butter und Ulrich Hartung zwei energische Nachwuchshistoriker antraten, Lücken im baugeschichtlichen Bewusstsein der jahrzehntelang geteilten Stadt zu schließen. Zum Vorschein kamen erstaunlich »geradlinige« Bauten aus früher DDR-Zeit, die bislang im dräuenden Schatten Stalinscher Klassizismen ein unbeachtetes und daher oft gefährdetes Dasein fristen. Mitte Juni bot Leipzig ein universitäres Drei-Tage-Symposium zur Zukunftstauglichkeit seiner Bauten der fünfziger und sechziger Jahre – ein Thema, das sich für die Stadt angesichts zahlreicher vollzogener oder noch geplanter Abrisse zu einem eklatanten Sündenregister auszuwachsen droht, wenn nicht schnell noch ein Kurswechsel gelingt.
Somit ist eigentlich alles im Lot: Retrokult und Rekonstruktionsbesessenheit haben definitiv die Höhen der politischen Entscheidungsbefugnis erobert, doch an der Basis, wo sich Stadtaneignung und also Stadtveränderung praktisch vollziehen, findet gerade der nächstfällige Generationswechsel statt. So, wie heutige Amtsträger vor drei Jahrzehnten ihre vom Geist der Moderne erfüllten Väter mit dem Ruf nach Kontext und Symmetrie bis ins Mark erschreckten, lockt nun die Kinder der radikalen Moderne-Verächter heute eben kein Adels- oder Gründerzeitprunk mehr hinterm Ofen hervor. Jungarchitektonischer Zeitgeist ergeht sich, ob in Hamburg, Köln oder München, immer häufiger am Nierentisch in stillgelegten Tankstellen und Kinofoyers. Im Café Moskau, dem opulent gläsernen Vergnügungshaus von Josef Kaiser in der Ostberliner Karl-Marx-Allee (1964), feiert nicht nur EUROPAN seine deutschen Preisträger, sondern die Berliner Architektenkammer inzwischen ihr Sommerfest. Südwestdeutsche Hochglanzillustrierte laden zur Verlagsparty in Henselmanns Kongresshalle am Alexanderplatz, wohl wegen der frisch aufpolierten Ästhetik à la Raumschiff Enterprise. (Und was Deutschlands Spitzenindustrielle in den skelettierten Palast der Republik gelockt haben mochte …? Hier versagt des Kommentators Fantasie.)
Auf diese manchmal skurrile, häufiger jedoch konfliktgeladene Weise hat sich Baugeschichte zu jeder Zeit fortgeschrieben. Während die Bannerträger der vorletzten Revolte noch rasch ein paar Tatsachen durchdrücken, also in Leipzig die Brühlbebauung, in Berlin das Linden-Hotel, in Dresden den Kulturpalast, in Cottbus die Stadtpromenade und in Halle die beiden Stahlhochhäuser am Bahnhof beseitigen (oder umgekehrt: in Braunschweig das Schloss auferstehen lassen) wollen, findet im Widerstand dagegen die nachfolgende Generation zu sich selbst. Kulturelle Wertschätzung, die Aufnahme in den gesicherten Kanon aufhebenswerter Dinge, beginnt allenthalben mit den Allüren des »radical chic«. Ohne solch Ritual reichten unsere Baustil- fibeln heute wahrscheinlich noch nicht einmal bis zum Jugendstil.
Mit einem bisschen Geschick und gutem Willen klärt sich im Windschatten einer demnächst rehabilitierten Nachkriegsbauepoche vielleicht sogar das Trauma der deutsch-deutschen Architekturbeziehungskiste. Da die DDR ihr »besten Jahre« in den Sechzigern und frühen Siebzigern hatte, ihre ansehnlichsten Häuser und Ensembles also in jener Phase entstanden, die im Westen »Spätmoderne« heißt, wird die ernsthafte, das heißt stilkritische, aber gerechte Auseinandersetzung mit ostelbischer Baugeschichte womöglich jetzt überhaupt erst kunst- und kulturpolitisch korrekt. Das in Hamburg endlich gestartete Großprojekt »Zwei deutsche Architekturen« tut schon so, als sei der Vergleich auf gegenseitiger Augenhöhe das Normalste von der Welt (siehe Seite 16). In Ostdeutschlands Städten liefert man sich im Zank um das Erbe der Nachkriegsmoderne dagegen die letzten Nachhutgefechte des Kalten Kriegs. Wolfgang Kil
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