Bei der Eröffnung der »neuen« Liederhalle am 21. Juli 1956 in Stuttgart schienen alle einig: ein neues Zeitalter kulturellen Lebens in einer modernen Gesellschaft bricht an. Und es wird ein Schlussstrich unter einen zehn Jahre andauernden Streit zwischen Bewahrern der Tradition, die am liebsten den alten, in den Bombennächten 1943/44 zerstörten Bau von 1876 wieder aufgebaut hätten, und denen, die den Aufbruch mit einem deutlichen Zeichen moderner Konzerthausarchitektur gebaut wissen wollen, gezogen. Der Wandel von konservativer Rekonstruktion zu mutiger Vision wurde in den fünf streitbaren Jahren von 1949 – 54 deutlich: Den vom Stuttgarter Liederkranz e. V. ausgelobten Wettbewerb um Standort und Entwurf gewann 1950 Hans Scharoun mit unkonventionellen Formen, fließend und offen. Die Jury blickte in die Zukunft, die Verantwortlichen hingegen verließ der Mut. Zu modern, zu unkonkret, utopisch. Aber Scharoun hinterließ Spuren: 1954 schien die Zeit reif, die Bauherrschaft war auf die im wirtschaftlichen Aufschwung befindliche Stadt übergegangen, der Gemeinderat stimmte nach dramatischem Ringen für die Realisierung der Ideen eines »Konzerthauses Liederhalle« von Rolf Gutbrot und Adolf Abel. Fortan nahm der Gedanke von gebauter Musik kristalline Formen an, und die ursprüngliche Utopie wurde konkret, sehr unkonventionell und modern zugleich. Ein Ensemble entstand: Der Beethovensaal – geschwungen, frei von Stützen, rechten Winkeln und Repräsentation – bietet eine atemberaubende Akustik und ein neues Klangerlebnis für mehr als 2000 Menschen, gleich einem gebauten Musikinstrument. Der fünfeckige Mozartsaal für Kammer- und Studiomusikliebhaber, der ursprünglich als Probenraum konzipierte, später dann doch als Studioraum ausgeführte Silchersaal – alles durch zwei offen gestaltete Foyerebenen, auf denen seitdem rauschende Feste gefeiert werden, miteinander verwoben; ein zukunftsträchtiges Gestaltungskonzept und Ausdruck modernen gesellschaftlichen und kulturellen Lebens – 1956 noch städtebaulicher Solitär und Schmuckstück in einer öden, brachliegenden Gewerbelandschaft – 31 Jahre später bereits unter Denkmalschutz. Mittlerweile hat auch die Entwicklung der Peripherie dafür gesorgt, dass die Liederhalle nicht nur eines der besten Konzerthäuser der Welt ist, sondern eingebunden in den lebendigen, reichhaltigen städtebaulichen Kontext und tatsächlich angekommen. Mit der Erweiterung um eine Vielzahl von Tagungsräumen 1991 und nach der Sanierung der Liederhalle 1993 durch Wolfgang Henning ist der Ort zum Kultur- und Kongresszentrum Liederhalle ausgebaut worden. Nach fünfzig Jahren ist die Liederhalle in Stuttgart vitaler denn je und zeitloser kultureller Ausdruck einer sich verändernden Gesellschaft.
~Rudolf Schricker
Diskurs
Stuttgarter Liederhalle wird 50
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