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Natur-Kunst

Sieben Brücken von Jürg Conzett am »Trutg dil Flem« in Flims (CH)
Natur-Kunst

Der an Wasserläufen reiche Ort Flims in Graubünden lockt mit einem neuen Wanderweg in der Qualität eines Gesamtkunstwerks, in dem Landschaftsinszenierung und Ingenieurbauwerk untrennbar ineinander verwoben sind. Der Ingenieur Jürg Conzett hat die Natur-Attraktionen am »Flimser Wasserweg« mit sieben Brückenkonstruktionen erschlossen und erlebbar gemacht. Einige der Stege sind in scheinbar schlichter Zimmermannsarbeit ausgeführt, andere als kleine technische Wunderwerke am Limit des Tragwerksbaus.

~Christian Marquart

Steil herabstürzendes Wasser in prägnant modellierter Landschaft wirkt hochdramatisch – auf die Mengen kommt es gar nicht an. Wasserfälle sind, jeder auf seine Weise, ästhetische Ereignisse im Rang echter Kunstwerke: Dynamisierte Land Art. Ob dergleichen eines »Schöpfers« bedarf, ist freilich Ansichts-, genauer: Glaubenssache.
Die spektakulärsten Naturattraktionen sind freilich längst für den Massentourismus zugänglich gemacht worden. Allmählich erst, aber neuerdings mit einigem Nachdruck, werden auch weniger bekannte Landschaftspreziosen »entdeckt« und behutsam erschlossen. Die Schweiz, die ihre »touristischen Flegeljahre« (Neue Zürcher Zeitung) schon hinter sich hat, geht dabei mit unkonventionellen Ideen voran. Es entstehen immer mehr Themen-Wanderwege, und man »inszeniert« Landschaften mithilfe von Aussichtsplattformen und sogenannten Kunstbauten [1], die gar nicht so selten von brillanten Architekten und Ingenieuren entworfen und konstruiert werden. Dahinter steht oft die strategische Überlegung, wie man in Urlaubsregionen der Premium-Klasse wohl auf den bevorstehenden Klimawandel reagieren und eine Verstetigung der Touristenströme dies- und jenseits von Ski, Rodel und Snowboard erzielen könnte.
Zum Auftakt der Sommersaison wird in Flims im Schweizer Kanton Graubünden der Wanderpfad »Trutg dil Flem« eröffnet: entlang des Flem, eines streckenweise tief in die Berglandschaft eingeschnittenen Wasserlaufs, der die Gemeinde Flims auch mit Strom versorgt.
Der »Flimser Wasserweg« führt kreuz und quer über diesen Gebirgsbach. Genau an den richtigen Stellen – nämlich überall dort, wo sich pittoreske Felsformationen, stiebende Wasserfälle, -kaskaden und -rutschen den Wanderern besonders gefällig und vor eindrücklicher Kulisse präsentieren – hat der Bauingenieur Jürg Conzett ein halbes Dutzend kleiner Brücken und Stege gebaut. Eigentlich eher in die Schlucht hinein als über sie hinweg; denn die ganze Landschaftsformation wirkt aus der Distanz und selbst noch aus der Vogelperspektive fast unscheinbar, da die dramatischsten Partien des Parcours durch dicht stehende Nadelgehölze und die steilen Flanken der engen Schlucht, in die sich der Bach eingegraben hat, geradezu raffiniert verdeckt sind.
Jürg Conzett, einst Mitarbeiter von Peter Zumthor, ist Tragwerksplaner und Brückenbauer. Von den Traditionen seiner Disziplin (auch den handwerklichen) ist er mindestens genauso fasziniert wie von den innovativen Potenzialen der zeitgenössischen Ingenieurbaukunst – und er kann seine Gedanken knapp und konzentriert zu Papier bringen. »Grenzüberschreitungen im Entwurf« lautet fast programmatisch der Titel eines Büchleins, das eine Reihe von Vorträgen – u. a. von Conzett – an der Architekturfakultät der ETH Zürich dokumentiert (GTA Verlag, 2007). Die Publikation »Landschaften und Kunstbauten« entstand anlässlich Conzetts kuratorischer Tätigkeit für den Schweizer Beitrag zur Architektur-Biennale Venedig im Jahr 2010 (Scheidegger & Spiess, 2010).
Mountainbiker repräsentieren heute die am schnellsten wachsende Gruppe der Flims-Urlauber. Aber der »Wasserweg« wurde geschaffen, um mehr Wanderer anzulocken. Er führt, je nach Geschmack, hinauf oder hinab: von der Talstation der Flimser Seilbahnen zur Segneshütte und weiter zu jenem Wasserfall, der den Übergang vom »oberen« zum »unteren« Segnesboden oberhalb der Baumgrenze markiert; man kann aber auch den Lift nach Naraus (1842 m) oder die Gondel zur Station Cassons (2675 m) nehmen, hinüber zum Bachlauf des Flem gehen und dann den Pfaden talwärts folgen. Der Piz Segnas (3098 m) markiert übrigens die Südkante der »Tektonikarena Sardona« – ein UNESCO-Welterbe, das offenbart, wie sich einst ältere über jüngere Gesteinsschichten schoben. Unterhalb der Gemeinde Flims lohnt der Blick in die wilde Rheinschlucht, die vor rund 10 000 Jahren durch den gewaltigen Flimser Bergsturz verschüttet wurde, bis sich der Fluss erneut seinen Weg durch Billionen von m³ Geröll bahnte.
Die kleinen Brücken Jürg Conzetts inszenieren zusammen mit einigen älteren Stegen auf relativ kurzer Distanz eine Vielfalt landschaftlicher Szenerien. Gemächlich fließt der Flem durch Almwiesen und schwappt in flachem Gefälle über bemooste Steinplatten; dann wieder schießt er wild durch bewaldete Schluchten, verzweigt sich an Katarakten, stürzt in freiem Fall oder in Kaskaden über Felskanten und kreiselt gleich darunter gurgelnd durch »Wassermühlen«.
Wo die Szenerie besonders pittoresk ist, hat Conzett seine Brücken positioniert: Vier hölzerne Stege – drei Balkenbrücken und eine Sprengwerk-Konstruktion – zitieren herkömmliche Typologien und traditionelle Zimmermannskunst. Die anderen Brücken, gebaut mit »modernen« Materialien wie Stahl und Beton, erlaubten minimalistische Konstruktionen; im Falle der eleganten (vorgespannten) Bogenbrücke, die den Wasserlauf etwa auf halber Wegstrecke des Wanderwegs quert, sogar am Limit des Tragwerkbaus.
Zur künstlerischen Qualität der Kunstbauten am Flem gehört die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich in die Landschaft einfügen. Durchweg zurückhaltend die Gestik der Konstruktionen: ein paar Vektoren aus (noch) hellem Holz in graugrünbraunem Gelände, die von einem Ufer zum anderen weisen; Geländer und Brüstungen wie Linien auf einem Notenblatt; bei der »Wasserfallbrücke bilden Platten aus Valser Gneis ein flaches Bogensegment, das gleich darunter in der »Muletg«-Schlucht eine symmetrisch gespiegelte Korrespondenz in Gestalt eines durchhängenden Baumstamms findet, der da in zufälliger Präzision über den Flem gestürzt ist.
Conzetts »Oberste Brücke« scheint nur aus vier, fünf lose aufeinandergeschichteten Steinplatten zu bestehen, deren größte gerade eben eine schmale Felsspalte überbrückt – knapp über dem Wasserspiegel, aber man ahnt schon, dass der Bach das Brücklein zeitweise überspült. Natürlich ist das scheinbar waghalsig improvisierte Bauwerk sicher im Fels verankert, die »Steine« sind aus Beton, und ein Geländer gibt es auch. Weil aber die Brücken des »Trutg dil Flem« alle so aussehen, als seien sie immer da gewesen, muss man umso aufmerksamer den Blick auf die intelligenten Details richten: das Design der Auflager und Verankerungen etwa, das Lineament der dicht getakteten Geländersprossen aus Edelstahl, das diskrete Spiel der Proportionen im Gesamtbild der je unterschiedlichen Brückenkonstruktionen, bei denen mitunter auch die leichte Austauschbarkeit einzelner Bauelemente eine wichtige Rolle spielt.
Der Wasserweg »Trutg dil Flem« steht auch durchschnittlich rüstigen Wanderern zu (fast) allen Jahreszeiten offen. Sein flamboyanter Lauf legt es nahe, schon im Gehen Grundzüge einer individuellen Landschaftskritik zu entwickeln, die Wasserfällen wieder jene emblematischen Qualitäten zuweist, die sie in der Renaissance und im Barock schon hatten. Was bedeutet es, dass Avantgardekünstler heute Wasserfall-Projekte sogar für Städte entwickeln – so wie Olafur Eliasson kürzlich in New York (2008) oder seine isländische Kollegin Rúri in Reykjavik (1995)?
Übrigens, neben den Kunstbauten Jürg Conzetts hat Flims auch bemerkenswerte Wohnarchitektur vorzuweisen: Hier lebte, arbeitete und baute Rudolf Olgiati; wer Glück hat, kann in einem seiner schönen Häuser Quartier nehmen. •
Der Autor ist freier Publizist und Herausgeber der Zeitschrift »Kultur«; des Weiteren Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung. Er lebt in Stuttgart.
[1] Die Dienststelle Verkehr und Infrastruktur des Kantons Luzern definiert den Fachbegriff kurz und trocken: »Kunstbauten sind Brücken, Bachdurchlässe, Über- und Unterführungen, Tunnel und Stützmauern«.
Ein kommentierter Bildband dokumentiert in Fotografien Wilfried Dechaus das Brücken-Projekt von den ersten Bauarbeiten bis zur Fertigstellung: Trutg dil Flem. Sieben Brücken von Jürg Conzett. Wilfried Dechau (Hrsg.), 192 S., Hardcover, Engl./Deut., 58 Euro. Scheidegger & Spiess, Zürich 2013.
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