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unterschiedliche Strategien zur Nachverdichtung in Paris

Die Neuentdeckung der Stadt
Paris geht die nötige Nachverdichtung mit großer Verve an

Bis 2030 wird die Bevölkerung der Metropolregion Paris um fast vier Mio. Menschen anwachsen. Die Stadt wappnet sich schon jetzt, indem sie ehemalige Gleisanlagen überbaut und Industriebrachen entlang der Ringautobahn Périphérique ertüchtigt. Bei den wichtigsten Stadtentwicklungs- und Stadtverdichtungsprojekten wurden in Bezug auf Architektur und urbanen Raum ganz unterschiedliche Qualitätsstandards gesetzt.

~Wojciech Czaja

Wie zwei strenge Billy-Regale stehen die beiden Häuser prominent an der Westkante des Parks. Das eine weiß und groß, das andere schwarz und etwas kleiner. Doch bei genauerer Betrachtung fällt die eine oder andere Irritation in der Matrix auf: Ab und zu hat sich ein stilisiertes Satteldach hineinverirrt, davor eine umlaufende Terrasse mit Blumentöpfen XXL, gefüllt mit Wucherpflanzen gleichen Maßstabs, und stört das sonst so reduzierte Architekturbild mit lustigen, vielleicht sogar sarkastischen Versatzstücken paneuropäischer Häuslichkeit.

Das ungewöhnliche Doppelhaus im neu geschaffenen Stadtviertel Clichy-Batignolles im 17. Pariser Arrondissement, Parzelle O4B, umfasst 170 Wohnungen und diverse Geschäftslokale im Sockelbereich. Die 50 m hohe und 13 000 m2 große Wohnbebauung des Investors und Wohnbauträgers Kaufman & Broad ist ein Beispiel dafür, wie auch im standardisierten, großvolumigen Wohnbau architektonische Qualität und künstlerisches Augenzwinkern Platz finden können. Erst kürzlich wurde das Haus mit dem in Frankreich renommierten Preis »Livraison 2018 Certification H&E« ausgezeichnet.

»Wir haben das Gebäude als eine Art Exoskelett mit gebauter Materie und Freiräumen in Form von Balkonen und Terrassen interpretiert«, sagt Vincent Parreira von AAVP Architecture, der das Projekt in Zusammenarbeit mit dem Lissaboner Architekten Aires Mateus realisierte. »Wir haben in diesem Skelett gewisse Fremdkörper verteilt, die die klare, für das Haussmann‘sche Paris so typische Struktur stören. Zudem konnten wir mit der Positionierung der stilisierten Einfamilienhäuser auch etliche Wohnräume mit großer Raumhöhe schaffen.«

Auf Clichy-Batignolles ist man in der der Seine-Metropole derzeit ganz besonders stolz, u. a. weil hier viele Neues ausprobiert wurde, wie etwa eine unterirdische Vakuum-Müllentsorgung. In den letzten Jahren wurden hier von Architekten aus ganz Europa rund 3 400 Wohnungen unterschiedlicher Rechtsformen (von supergeförderten Kleinst-Garçonnièren bis hin zu frei finanzierten Eigentumswohnungen), sowie etliche Bürobauten und diverse öffentliche Institutionen angesiedelt. Der mit Abstand größte Anziehungspunkt ist das neue, 160 m hohe Palais de Justice von Renzo Piano (s. db 5/2018, S. 53), das als PPP-Projekt errichtet wurde und das Palais de Justice in der Innenstadt um eine von drei Instanzen entlastet.

Die Verlängerung der vollautomatischen, fahrerlosen Métro-Linie 14 bindet das neue Areal an wichtige Punkte wie etwa Saint-Lazare, Châtelet und die Bibliothèque Nationale an. Im östlichen Teil des Areals, in der ersten Bauphase, scheinen sich die beteiligten Architekten einen Gestaltungskrieg geliefert zu haben. Die Verteilung der Massen und die Rhythmik der Dichten, Bauhöhen und Stimmungsräume wirken mancherorts unbeholfen und beliebig. Um dem wilden Potpourri etwas mehr Halt zu geben, wurde in der zweiten Bauphase daher eine eigene Arbeitsgruppe gegründet, in der sich die Architekten und Bauträger miteinander austauschen und die Einzelprojekte aufeinander abstimmen konnten.

Höhe wagen

»Nicht alle der hier realisierten Wohnbauten halten sich an den klassischen Pariser Bebauungsplan, der seit Haussmann traditionell mit 35 m Bauhöhe reglementiert ist«, erklärt Architektin Marcia Mendoza, die das Projekt von der ersten Stunde an begleitet und heute professionelle Architektur- und Stadtführungen durch das Quartier anbietet. »Viele nehmen die Ausnahmeregelung von 50 m Bauhöhe in Anspruch, doch mein Eindruck ist, dass die Mischung hier sehr sorgfältig gewählt wurde.« Auch der soziale Mix unterliegt einem strengen Reglement: 50 % Sozialer Wohnungsbau, 30 % privater Wohnungsbau mit Mietobergrenze und 20 % freifinanzierter Wohnungsbau mit Miete und Eigentum.

Herzstück des rund 54 ha großen Stadtverdichtungsgebiets ist der Martin-Luther-King-Park, den der Stadtplaner François Grether gemeinsam mit der Landschaftsarchitektin Jacqueline Osty entwickelte und koordinierte. Der 20 ha große Ökopark fungiert nicht nur als Branding-Maschine und Naherholungsgebiet, sondern v.a. auch als »Green Infrastructure« [1] mit Hunderten von bereits ausgewachsenen Bäumen, rege genutzten Kleinflächen für Urban Gardening sowie etlichen Auffang- und Sickerbecken für Regenwasser, die die Pariser Kanalisation entlasten und mit denen die Parkanlage zu 100 % bewässert wird. Und überall Granit, Marmor, Cortenstahl.

Im größeren Zusammenhang

Die Pläne für das Stadtentwicklungsprojekt Clichy-Batignolles, das auf dem Areal des einstigen Fracht- und Verschubbahnhofs nördlich der Gare Saint-Lazare realisiert wurde, reichen weit zurück und sind ein Folgeprodukt von Nicolas Sarkozys Ideenoffensive »Grand Paris« im Jahr 2007, an der sich zehn Architekturteams aus ganz Europa beteiligt hatten – darunter etwa Richard Rogers, Jean Nouvel, Christian de Portzamparc und MVRDV. Die visionären, z. T. sogar utopischen Verkehrs-, Infrastruktur- und Stadtentwicklungsprojekte waren ein wichtiger Katalysator, um erstmals die große strukturelle und topografische Barriere der bestehenden Bahntrassen und der permanent überlasteten Ringautobahn Périphérique zu überwinden.

Gerade auf der Schiene fallen im historisch gewachsenen Paris enorme Flächen an. Da das Eisenbahnnetz aus insgesamt sieben Kopfbahnhöfen besteht, die quer über die ganze Stadt verteilt und kaum miteinander vernetzt sind, gibt es entsprechend viele, eigenständige Verlade- und Verschubflächen, die sich heute als wertvolle

städtebauliche Reserven erweise. Die aktu-ellen Stadtentwicklungs- und Stadtverdichtungsprojekte, die im sogenannten Plan Local d‘Urbanisme (PLU) festgehalten sind, umfassen 13 Quartiere entlang wichtiger Straßen- und Schienenachsen und sollen Platz für rund 200 000 Bewohner bieten. Die größten und wichtigsten Areale konzentrieren sich im Norden, Osten und Süden. Während die Frachtbahnhöfe größtenteils aufgelöst wurden, befindet sich in Clichy-Batignolles heute eine unterirdische Werkstätten- und Waschstraßenhalle der Französischen Staatsbahnen. Auch das schwarz-weiße Doppelhaus von AAVP und Aires Mateus hat statt eines Kellers kilometerlange Gleiskörper im Fundament.

In kleineren Einheiten

Am genau entgegengesetzten Ende der violetten U-Bahn-Linie liegt das Stadtentwicklungsgebiet Paris Rive Gauche. Das 130 ha große Areal am linken Seine-Ufer liegt zu 20 % im ersten Stock. Es handelt sich dabei um die Überbauung der vom Kopfbahnhof Gare d’Austerlitz nach Südosten hinausführenden, bis zu 80 m breiten Gleisanlagen. Die hinter dem Gesamtprojekt agierende Immobiliengesellschaft Semapa entwickelt auf dem neu gewonnenen Stadtterrain rund 7 500 Wohnungen. Hinzu kommen Bürogebäude, Handelsflächen und öffentliche Einrichtungen wie etwa Krankenhaus, Universität, Schule und Bibliothek im Gesamtausmaß von etwa 2 Mio. m2, Zeithorizont: 2025. Mittendrin prangen die vier dramatischen Büchertürme der Bibliothèque Nationale von Dominique Perrault, die bei ihrer Fertigstellung 1996 wohlgemerkt noch in der Einöde standen.

Der strukturelle Unterschied zu Clichy-Batignolles, das v. a. durch architektonische und städtebauliche Qualität besticht, jedoch urbanes Leben und ganz alltägliche städtische Infrastrukturen vermissen lässt, ist frappant: Die Architektur ist langweilig und belanglos. Die hier aus dem Erdboden gestampfte, austauschbare Monotonie lässt einen kurz an Jacques Tatis Moderne-Satire »Playtime« denken. Außergewöhnliche, innovativ gestaltete Bauten hingegen sind an einer Hand abzuzählen – wie etwa die zum Gründerzentrum »Station F« transformierte, 310 m lange Frachthalle (s. db 6/2018, S. 64).

Doch dafür fallen in Rive Gauche die vielen kleinmaßstäblichen, infrastrukturellen, mikrogewerblichen Maßnahmen auf, darunter etwa Cafés, Restaurants, Bankfilialen, Reisebüros, Zeitungskioske, Blumengeschäfte und kleinere Modeboutiquen. Dass man es mit der sichtlich gelungenen Belebung des Stadtviertels von Anfang an ernst gemeint hat, beweist die pathetische Namensgebung der nach Südosten führenden Hauptstraße: Avenue de France. Das Konzept scheint jedenfalls aufgegangen zu sein: Businessmänner mit Pappkaffee in der Hand, immer wieder Kinderwagen und Skateboards, ein voll besetzter Bus Richtung Gare d’Austerlitz – es scheint, als wüsste die Stadt mit schlechter Architektur ganz gut umzugehen, solange nur die infrastrukturelle Substanz gegeben ist.

Eine ganze Stadt im Haus

Das vielleicht exotischste und zugleich radikalste Stadtentwicklungsprojekt liegt im äußersten Norden der Seine-Metropole. Zwischen der Métro-Station Porte de la Villette und der neu geschaffenen RER-Haltestelle Rosa Parks: Nur wenige Schritte von den berühmten Brutalismus-Wohntürmen Cité Curial-Michelet entfernt, befindet sich das ehemalige Rail- und Cargozentrum Entrepôt Macdonald. Nachdem die 1969 errichtete Logistikzentrale 2006 aufgegeben wurde, entschied sich das Eigentümerkonsortium rund um Icade, Semavip und die Caisse des Dépôts et Consignations, das 617 m lange Betongebäude in großen Teilen zu erhalten und zu überbauen. An ein paar strategisch wichtigen Stellen wurden Teile der Baumasse entfernt und die entstandenen Zäsuren zu öffentlichen Plätzen umfunktioniert.

»Entrepôt Macdonald ist ein Stückchen Stadt in einem einzigen Haus«, sagt David Chevalier, Projektleiter in der Entwicklungsgesellschaft Icade. »Um das große Volumen – wir sprechen hier von immerhin 150 000 m2 im Bestand – architektonisch und ästhetisch zu strukturieren, haben wir das Gebäude in 17 fiktive Bauplätze mit 17 verschiedenen Architekten unterteilt. Auf diese Weise haben wir eine gewisse städtische Vielfalt schaffen können.« Selbst namhafte Architekten wie etwa Odile Decq, Gigon Guyer und Christian de Portzamparc haben sich daran beteiligt.

Und wiewohl die gestalterische Qualität dieses an Karikatur grenzenden Sammelsuriums mit mal brutalistischen, mal postmodernen, mal sinnentleert ornamentalen Versatzstücken architektonisch zu wünschen übrig lässt, ist Entrepôt Macdonald in gewisser Weise beispielgebend für die Zukunft des europäischen Wohnbaus: Die gewöhnungsbedürftige Collage veranschaulicht den in der Moderne forcierten Untergang des industriellen Sektors in der Stadt und macht auf diese Weise wertvolle Flächen frei – nicht nur physisch, sondern auch mental in den Köpfen der Architekten, Stadtplaner und zuständigen Behörden.

»Im rasant wachsenden Paris haben wir so einen brutalen Druck und eine kaum zu bändigende Wohnungsnot, dass wir gar nicht anders können, als kreativ zu sein und über den Tellerrand zu blicken«, sagt Chevalier. Not macht bekanntermaßen erfinderisch. An dieser inhaltlichen, prozessualen und nicht zuletzt architektonischen Radikalität können sich viele Städte, die das Mittelmaß für sich gepachtet haben, ein Beispiel nehmen.


[1] Green Infrastructure ist ein 2010 von der Europäischen Kommission geprägter Begriff, der unterschiedliche ökologische Aufgaben der Stadt wie etwa Begrünung, Wasserhaushalt und Klimaregulation umfasst und zugleich als wertvolles urbanes Lebensbiotop dient, siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Green_infrastructure.

{Der Autor ist freischaffender Architekturjournalist in Wien. Er arbeitet vorwiegend für die österreichische Tageszeitung Der Standard.


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