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Mutierter öffentlicher Wohnungsbau

Wohnungsbauboom in Madrid
Mutierter öffentlicher Wohnungsbau

Mutierter öffentlicher Wohnungsbau
1 Mit der Autorität einer ägyptischen Pyramide thront der »Mirador« von MVRDV über den staubigen Straßen des Bezirks Sanchinarro 2 Ein »Innenhof« in vierzig Metern Höhe 3 Aranguren y González Wohnblocks überzeugen durch die Wahl moderner Materialien und das Spiel mit verschiedenen Volumen
Madrids derzeit ungewöhnlichstes Monument ist ein Gebäude des öffentlichen Wohnungsbaus: Der von MVRDV entworfene Mirador, ein 22-stöckiger Monolith mit einer riesigen Öffnung in der Mitte, beherrscht den Stadtteil Sanchinarro, einen von etwa 15 neuen Bezirken, die im Madrider Generalplan im Umkreis der Hauptstadt vorgesehen sind. Mit über 200 000 gebauten oder geplanten, frei oder öffentlich finanzierten Wohneinheiten sind diese neuen Randsiedlungen Ausdruck eines auf Niedrigzinsen und angestauter Nachfrage gegründeten Baubooms. So wurde in Spanien im Jahr 2004 – das vierte Rekordjahr in Folge – mit dem Bau von 675 000 Wohnungen begonnen.

Der kühne, kompromisslose Entwurf für das Mirador-Hochhaus, der in Zusammenarbeit mit der spanischen Architektin Blanca Lleó für die kommunale Wohnungsbaugesellschaft EMV entstand, spiegelt den Geist dieses Aufschwungs wider. Wie Efeu klettern die rotgestrichenen Außentreppen die Fassade empor, die differenzierten Wohnmodule mit unterschiedlichen Wohnungsgrundrissen, Öffnungen und Ausbaudetails sind wie mit der zufallsgesteuerten Präzision eines Mondrian-Gemäldes übereinander gestapelt. Das hoch aufragende Gebäudeprofil widersetzt sich allen städtebaulichen Entwurfsnormen, die diese neuen Bezirke so langweilig machen. Die Architekten stellten die herrschende Typologie der achtziger Jahre (Rob Kriers Wohnblöcke mit Innenhof) auf den Kopf, indem sie den Innenhof in eine Höhe von vierzig Metern über dem Boden hievten. Ausgestattet mit diesen starken individuellen Merkmalen, thront der Mirador über Sanchinarros staubigen Straßen und vereinzelten konventionellen Wohnblöcken, zwischen noch unbebauten Flächen und halbfertigen öffentlichen Plätzen, mit der ganzen Autorität einer ägyptischen Pyramide.
Als EMV-Flaggschiff bezeugt der Mirador die hohe Qualität vieler öffentlicher Wohnungsbauprojekte in Madrid, die mit den Namen renommierter spanischer und internationaler Architekten verknüpft sind – darunter David Chipperfield, Ricardo reta, Madridejos & Sancho, Aranguren & González Gallegos, Paredes & Pedrosa, das Cano Pinto Studio, Carlos Ruiz Larrea, RubioLegor & Álvarez Sala. Noch im Bau oder in der Planung sind Projekte von Thom Mayne, Wiel Arets, Jean Nouvel, Peter Cook, Pei Cobb Freed, João Carrilho da Graça Rogelio Salmona aus Kolumbien, dem schwedischen Team von Ahlqvist y Almqvist, Alejandro Zaera und Farshid Moussavi von Foreign Office Architects und anderen.
Die EMV-Entwurfsabteilung bedient sich der ganzen Palette von Wettbewerbsinstrumenten, um hochwertige Entwürfe »anzulocken« und relevante Studien und Innovationen zu fördern: Wettbewerbe für Studienabgänger, offene, beschränkte Wettbewerbe, allgemein gehalten oder mit besonderen Schwerpunkten wie z. B. Energieeinsparung oder Wohnungsgrundriss. Die internationalen Architekten werden direkt beauftragt. Ihr Renommee ist von großem Nutzen, wenn es darum geht, typologisch gewagtere Entwürfe durch die Genehmigungsverfahren zu steuern. Einerseits müssen sich die Architekten nach den knappen Budgets und den strengen Vorgaben des öffentlichen Wohnungsbaus richten, andererseits hilft ihnen EMV auch, Genehmigungen etwa für Flächennutzungsänderungen zu erhalten. Da die geltenden Gesetze aus den sechziger Jahren stammen, als die Familien noch größer waren und weniger Menschen studierten oder zu Hause arbeiteten, ist nun eine Überarbeitung der spanischen Wohnungsbaunormen fällig – eine Aufgabe, der sich das neue Wohnungsbauministerium der Zentralregierung gegenwärtig annimmt.
In der Forschung von EMV steht das Thema Energieeinsparung vorne an. So bieten zum Beispiel die vier im Jahr 2002 in Vallaverde fertig gestellten Wohnblockzeilen mit ihren aus umlaufenden Metalljalousien und Sonnenblenden komponierten Fassaden attraktive Lösungen für Sonnenschutz und natürliche Belüftung. Der vom Team um Fernando Maniá entworfene Wohnblock ist von zwei großen Sonnenkollektoren gekrönt, die Fassade des Gebäudes von Equipo AUIA durchzieht eine Reihe seltsamer metallischer Lüftungskamine.
Ein jüngster Wettbewerb in Carabanchel zielte auf Grundrissinnovationen ab. Den ersten Preis erhielten María José Aranguren und José González Gallegos, deren auf junge Mieter ausgerichtetes Konzept Ende letzten Jahres verwirklicht wurde. Der Grundriss sieht Tag- und Nachtbereiche auf einer einzigen 60 Quadratmeter großen Fläche vor. Die Schlafbereiche können durch Faltwände abgetrennt werden. Die Sekundärflächen (Bad, Küche, Korridor, Einbauschränke) wurden 72 Zentimeter höher angelegt, so dass sich Betten darunterschieben lassen, damit tagsüber mehr Wohnraum zur Verfügung steht. All dies ließ sich mit den bestehenden Grundrissvorschriften in Übereinstimmung bringen.
Wie auch andere, haben Aranguren y González mit neuen Außenmaterialien experimentiert und dabei das traditionelle Ziegelmauerwerk durch Fertigtafeln aus Glasfaserbeton (GFB) ersetzt. Diese Betontafeln wurden in ihrer Naturfarbe belassen und mit Fensterläden aus verzinktem Wellstahl kombiniert. Der Entwurf fällt besonders auf, weil er zu den wenigen gehört, die an das abschüssige Gelände gut angepasst sind, und da er die monotone Abschottung des vorgeschriebenen Wohnblocks in mehrere, unterschiedlich ausgerichtete Volumen aufbricht.
David Chipperfield (in Zusammenarbeit mit Manuel Santolaya und José M. Fernández Isla), der den Auftrag erhielt, ein im Stadtbild markantes Gelände in Villaverde zu bebauen, hat mit GFB-Tafeln eine ganz andere Wirkung erzielt, indem er Baumasse und Öffnungen sorgfältig und plastisch bearbeitete, als handele es sich um einen massiven Steinblock. Andere Madrider Achitekten verwenden weiße GFB-Tafeln, um helle, moderne Wohnblöcke zu gestalten, so wie zum Beispiel César Ruíz Larrea in Villaverde oder Carlos Rubio und Enrique Álvarez-Sala in Sanchinarro. Diese Rückkehr zu einem klassischen, gut proportionierten und detailreichen Modernismus erreicht ihren Höhepunkt in Carabanchel mit einem noch laufenden Projekt der Madrider Architekten Sol Madridejos und Juan Carlos Sancho. Durch das disziplinierte, gestalterisch exquisite Spiel mit massiven Elementen und Hohlräumen, durch die kalksteinverkleideten weißen Fassaden, die großen Öffnungen und Balkone und schließlich die perfekte Detailarbeit erreicht das Gebäude einen Luxusstandard, der sonst noch nicht einmal für den teuersten frei finanzierten Wohnungs- bau in Betracht kommt.
Die gezielten Bemühungen, internationale Architekten nach Madrid zu holen, haben auch zu anderen bemerkenswerten Entwürfen geführt. Ricardo Legorreta (mit Eugenio Aguinaga) hat die intensiven Farben seiner mexikanischen Projekte für ein schwieriges Grundstück in Campamento eingesetzt und die massiven tragenden Betonstrukturen zwischen Gärten und Hofflächen verteilt. Bei einem gegenwärtig in Carabanchel realisierten Projekt hat Thom Mayne (mit Begoña Diaz-Urgorri) mit der von den Stadtplanern bevorzugten typischen sechsgeschossigen Bauweise gebrochen und ist zur Teppichbebauung mit zweigeschossigen Wohneinheiten und privaten Patios zurückgekehrt – ein Stil, der an die historischen Madrider Wohngebäude von Caño Roto aus den fünfziger Jahren anknüpft (siehe db 6/1992). Mayne sieht auf dem ganzen Gelände durchgehende Begrünung vor, die durch Fußwege und eine zentrale Plaza artikuliert wird. In Pradolongo hat Wiel Arets (mit Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano) Längsblöcke mit winkliger und unregelmäßiger Geometrie angeordnet. Die Gebäude scheinen über dem Gelände zu schweben und verbinden sich mit dem angrenzenden Park. Auf einem benachbarten Grundstück wird Arets’ Initiative von den Madrider Architekten Ángela García de Paredes und Ignacio Pedrosa durch eine Bebauung in ihrem eigenen eleganten Stil weitergeführt. Beide Projekte sind zur Zeit im Bau.
Diese beiden Bauprojekte mit linearen Blöcken sind kennzeichnend für Madrids zukünftige Stadtplanung, wie auch der Entwurf für das Olympische Dorf zeigt. Die herrschende Typologie »Wohnblock mit Innenhof« hat aus verschiedenen Gründen eine eingeschränkte Zukunft. Seit diese Bauform zuerst Ende der achtziger Jahre im öffentlichen Wohnungsbau in den Bezirken Palomeras und Madrid Sur verwirklicht wurde (siehe db 6/1992), hat sie sich in den heute gebauten Bezirken als ein wirtschaftlich erfolgreiches Rezept erwiesen. (Diese Bebauungen wurden Anfang der neunziger Jahre geplant, aber verzögert, weil die Stadt zu wenig Erfahrung mit der Umsetzung solch großer und komplexer Projekte besaß.) Der zentrale Innenhof ist jetzt größer als bei den anfänglichen Projekten und ermöglicht den Blick nach außen, aber die Nutzung ist nur für die Bewohner bestimmt. Typischerweise enthält der Innenhof gepflegte Grünanlagen, ein Schwimmbecken und Kinderspielbereiche. Im obersten Geschoss sind Penthäuser und Terrassen vorhanden, die dem Privilegien- und Hierarchiebedürfnis entgegenkommen, obwohl die Typologie dies eigentlich erschwerte. Die Formel scheint perfekt zu sein, um das durch hohe Dichte geprägte Leben der traditionellen Stadt an das »ausgedünnte« Straßenleben der neuen Vorstädte anzupassen.
Gleichzeitig wird dieses Wohnbaukonzept aber auch als viel zu starr kritisiert. Die Innenhöfe sind von hohen Mauern umschlossen, und zur Überdeckung der Tiefgaragen werden befestigte Flächen benötigt. Die an vier Seiten entlanglaufenden Straßen nutzen, selbst wenn sie zu Füßgängerzonen umgewidmet wurden, die knappen öffentlichen Flächen nur schlecht. Die Morphologie dieser Blöcke lässt sich nur schwer an Hanglagen anpassen. Dagegen gehören zu den von Arets und Parredes-Pedroso entworfenen Längsbauten öffentliche Flächen, die offener und mit der Außenwelt verbunden sind und außerdem üppigere Begrünung und größere Nutzungsvielfalt erlauben. Durch die entsprechende Ausrichtung der Gebäude können optimale Bedingungen zur Solarenergienutzung und Energieeinsparung geschaffen werden. Sie erscheinen weniger festungsartig, sind flexibel und lassen sich besser an das Terrain anpassen.
Eine seltsame Revolution, die sich da gegenwärtig vollzieht: Madrids Wohnungsbau kehrt zurück zu den Ideen der deutschen Siedlung der zwanziger Jahre, und dies kommt auch in Madridejos’ und Sanchos großartigem Projekt zum Ausdruck. Wird Maynes Teppichbebauung einen ähnlichen Einfluss ausüben? Nicht zum ersten Mal stehen gut konzipierte öffentliche Wohnungsbauprojekte an der Spitze einer Evolution, die sich auf den ganzen Bereich des Wohnungsbaus erstreckt. David Cohn
Aus dem Englischen von Christiane Hearne
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