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Lampion, Bernstein und Nationalstolz

Die neuen polnischen Stadien zur Euro 2012
Lampion, Bernstein und Nationalstolz

Mit Polen und der Ukraine sind zum ersten Mal zwei osteuropäische Länder Gastgeber der Fußball-Europameisterschaft 2012. Die Euphorie vor Ort wich rasch der Angst, die neuen Stadien nicht rechtzeitig fertig zu bekommen und die prestigeträchtige Veranstaltung an andere Länder abgeben zu müssen. Doch allen Unkenrufen zum Trotz konnte das Gros der Investitionen abgeschlossen werden. Polen und Ukrainer freuen sich auf den Anpfiff am 8. Juni 2012.

~Gabriele Lesser

Im rot-weißen »Weidenkorb«, dem neu gebauten Nationalstadion in Warschau, treffen als Erstes Gastgeber Polen und die Nationalelf von Griechenland aufeinander. Drei Wochen später, am 1. Juli, wird sich im modernisierten Olympiastadion von Kiew entscheiden, welche Mannschaft den UEFA-Wanderpokal im Triumphzug nach Hause tragen wird. Die Ukraine und Polen haben sich jeweils für vier Städte als Spielorte entschieden. In Polen sind dies neben der Hauptstadt Warschau die niederschlesische Metropole Breslau, das großpolnische Posen und die an der Ostsee gelegene Hafenstadt Danzig.
»Wir fiebern dem Ereignis auch entgegen«, bekennt Marek Sawicki vom Warschauer Architekturbüro Davos. Unter Leitung von Krzysztof Domaradzki hat das Stadtplanungsteam den 1. Preis für die Gestaltung des Geländes rund um das Nationalstadion in Warschau gewonnen. »Das heißt«, fällt ihm sein Bruder Piotr ins Wort, der ebenfalls als Architekt arbeitet, »uns interessiert v. a. die Zeit nach der Euro 2012. Denn dann soll unser Projekt realisiert werden. Wir sind also sehr gespannt, ob den Fans überhaupt auffällt, dass die große Schotterfläche vor dem Nationalstadion nur ein Provisorium ist, das wir gar nicht vorgesehen hatten. Eigentlich sollte es dort grün sein.«
Doch Warschau hatte sich mit der Aufgabe, das mit 55 000 Sitzplätzen größte Stadion Polens zu bauen, die Infrastruktur zu verbessern und die Metro unter der Weichsel hindurch bis zum Stadtteil Warschau-Praga zu bauen, leicht übernommen. »Der Bau des Stadions verschlang nicht nur knapp 400 Mio. Euro, sondern erforderte auch ganz exorbitante Managementleistungen, insbesondere, da ja die Bahnhöfe, die Gleise, die Flughäfen, die Straßen, Bus- und Tramlinien auch modernisiert werden mussten«, listet Marek Sawicki auf. Da musste das Projekt der »New City«, das den über Jahrzehnte vernachlässigten Stadtteil Praga zu einem neuen Anziehungspunkt für die Warschauer machen sollte, erst einmal warten.
Nationalfarben
Vom gegenüberliegenden Weichselufer aus wirkt das neue Stadion wie ein Ufo, das gerade abhebt, insbesondere nachts, wenn es angestrahlt wird. »Es steht ungewöhnlich hoch, da es in das alte Stadion Dziesieciolecia (Stadion des 10. Jahrestags des Julimanifests 1944) hineingebaut wurde«, erklärt Marek Sawicki. »Sicher wäre es einfacher gewesen, das alte Stadion vollständig abzutragen und ganz neu zu bauen. Doch das Stadion Dziesieciolecia wurde aus den Trümmern der von den Nazis 1944 vollständig zerstörten Altstadt gebaut.« Emotional wäre für die meisten Polen das Wegkippen der Ruinen dem Entsorgen der eigenen tragischen Vergangenheit gleichgekommen. »Das ging nicht«, schüttelt Marek Sawicki den Kopf. Am fertigen Stadion, das von den Architekturbüros JSK Architekten und Gerkan, Marg und Partner in Zusammenarbeit mit den Ingenieuren Schlaich Bergermann und Partner geplant wurde, sei nun nicht nur die schiere Höhe und die Flechtwerkfassade aus Streckmetall in den Nationalfarben Rot und Weiß etwas Besonderes, sondern auch das von der Mitte her ausziehbare und für Schneelasten ausgelegte Dach aus PTFE-Membranen. Die Spielstätte kann vollständig geschlossen werden. Die Spindel mit dem zusammengezurrten Regencape schwebt nur von Drahtseilen gehalten in einer Höhe von rund 30 m über dem Spielfeld. Am 29. Januar konnte das Stadion mit wenigen Monaten Verspätung eingeweiht werden.
Bernstein
Das schönste Stadion und die Visitenkarte Polens bei der Euro 2012 steht in der Hafenstadt Danzig. »Bernstein-Arena« nennen die meisten Polen das Stadion, das in der Sonne wie das »Gold der Ostsee« leuchtet. Diesen Effekt ruft die Fassade hervor, die aus 18 000 Polycarbonatplatten in den Farben Gold, Messing und Braun besteht. Verantwortlich dafür zeichnet das Düsseldorfer Architekturbüro RKW Rhode-Kellermann-Wawrowsky. Offiziell heißt das mit 44 000 Sitzplätzen drittgrößte Stadion Polens PGE-Arena. Das Energieunternehmen hat für umgerechnet rund 8 Mio. Euro das Namensrecht bis 2014 erworben.
»Insgesamt hat Danzig wohl am weitesten in die Zukunft gedacht und dafür gesorgt, dass rund um das Stadion ein lebendiges und attraktives Erholungsgebiet entsteht«, erläutert Piotr Sawicki. Sein Bruder nickt: »Anders als in Warschau wurde in Danzig von Anfang an das städtebauliche Konzept mit realisiert. Der riesige Parkplatz neben dem Stadion soll allerdings nach der Euro 2012 wieder verschwinden.« Obwohl die Bernstein-Arena am Stadtrand errichtet wurde, gilt sie schon heute als neues Wahrzeichen Danzigs. Eine Besonderheit bildet die knapp zwei Kilometer lange und rund um das Stadion führende Rollschuhbahn mit elektronischer Zeitmessung im Stadion. Da die Bahn mit dem Fahrradwegenetz der Dreistadt Gdingen, Danzig und Zoppot verbunden ist, können Touristen und Amateursportler sie später auch problemlos mit dem Fahrrad, auf Rollschuhen und Inlineskatern erreichen.
Leuchtkörper
Breslau, die niederschlesische Metropole, hat sich für ein Stadion in Form eines chinesischen Lampions entschieden. Die öffentliche Ausschreibung gewann wie auch in Warschau das Büro JSK Architekten. Charakteristisch für die Konstruktion ›
› ist das an umlaufenden Stahlreifen aufgehängte Außennetz. Die Reifen verlaufen nicht parallel zueinander, sondern sind leicht gegen die Horizontale geneigt und verleihen dem Bau dadurch zusätzliche Dynamik. So empfindet sich Breslau, die »Stadt der Begegnung«, auch selbst: jung, dynamisch und modern. Die lichtdurchlässige Außenhaut aus Glasfasergewebe wurde mit einer Teflonmembran verstärkt und mit Leuchtdioden unterlegt. »Dieser Lampion ist höchst raffiniert«, so Piotr Sawicki. »Auf den ersten Blick kommt das Breslauer Stadion bescheiden daher, sehr leicht und geradezu transparent. Doch dann – auf einen Knopfdruck gewissermaßen – leuchten die Dioden unter der Außenhaut plötzlich auf wie bei einem Lampion: azurblau, smaragdgrün oder blutrot. Das ist sehr effektvoll.«
Mitten in der Bauzeit drohte die UEFA allerdings, Breslau als Austragungsort der Euro 2012 zu streichen. Der Generalunternehmer Mostostal sah sich nicht in der Lage, die vereinbarten Fristen einzuhalten. Als Mostostal dem Zeitplan bereits ein halbes Jahr hinterherhinkte, kündigte der Oberbürgermeister von Breslau den Vertrag und beauftragte das deutsche Unternehmen Max Bögl mit der Fortführung des Baus. Die Europäische Kommission, die ein genaues Auge auf die Vergabe sämtlicher Planungs- und Bau-Aufträge hatte, genehmigte dieses Verfahren im Nachhinein.
Denkmalwert
Posen verfügte als einziger der vier polnischen Austragungsorte bereits über ein modernes Fußballstadion. Der Erstligist Lech Poznan spielt hier seit 1980. Allerdings war das Stadion mit ursprünglich 27 500 Sitzplätzen zu klein, es musste erweitert, von Grund auf erneuert und zu einer Multifunktionsarena umgestaltet werden. Dafür wurden zwei Tribünen abgerissen und neu gebaut. Seit September 2010 können bis zu 45 500 Zuschauer ein Match verfolgen. Eine raumgreifende Membran-Dachkonstruktion über den gesamten Zuschauerraum ersetzte das bisherige Dach über der Haupttribüne. Ähnlich wie in Breslau kann das ganze Stadion in verschiedenen Farben beleuchtet werden. Möglich sind auch dynamische Farbspiele. Den Architekturwettbewerb zum Stadionumbau hatte das ortsansässige Planungsbüro Modern Construction Systems gewonnen. »Ähnlich wie in Warschau gibt es auch in Posen eine historische Reminiszenz«, erklärt Piotr Sawicki. »Während das Nationalstadion in Warschau auf dem Ruinenschutt der Altstadt ruht, wurde während der Bauarbeiten in Posen ein Bunker entdeckt.« Die Behörden stellten den preußischen Festungsbunker aus dem 19. Jahrhundert sofort unter Denkmalschutz, sodass er zum integralen Bestandteil des Posener Stadions wurde.
In Zukunft soll der freigestellte Bunker hinter der dritten Tribüne auch für Besichtigungen freigegeben werden.
Marek Sawicki greift erneut zur eleganten Mappe mit den Stadtplanungen für die New City rund um das Nationalstadion in Warschau. »Polen kann stolz darauf sein, in nur vier Jahren drei Stadien völlig neu gebaut und eines grundlegend modernisiert zu haben. Wir hoffen jetzt nur, dass der Elan nach der Euro 2012 anhält und rund um die Stadien dann auch tatsächlich die geplanten Parks, Erholungszentren und attraktiven Stadtteile entstehen.« •
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