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db-Kommentar: Failed state an der Spree – Landespolitik ohne Strategie

Die Berliner Landespolitik agiert ohne Strategie
Failed state an der Spree

Reden wir über die Zukunft. Ein Thema, das in Deutschland mit Angst belastet ist anstatt Zuversicht zu erzeugen. »German Zukunftsangst« dominiert auch in der deutschen Hauptstadt.

~Jürgen Tietz

Was haben die Ergebnisse des Bildungstrends deutscher Viertklässler, die das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) jüngst ermittelt hat, mit Architektur und Stadt zu tun? Jede Menge! Im Ranking der Bundesländer liegt Berlin, das als Hauptstadt doch eigentlich eine Vorbildfunktion einnehmen sollte, abgeschlagen auf dem vorletzten Platz. Knapp ein Drittel aller Schüler erreicht nicht die Mindeststandards in Mathematik. Ähnlich erschütternd ist das Ergebnis bei der Rechtschreibung. Für Berlin bedeutet das nicht weniger als dass (Stand 2017) ein Drittel der Gesellschaft künftig wohl kaum in der Lage sein wird, aktiv und gestaltend an der Formung unserer (partizipativen) Gesellschaft teilzuhaben, weil sie die grundlegenden sprachlichen und mathematischen Kulturtechniken nicht mehr beherrscht. Eine Bankrotterklärung. Es geht hier schließlich nicht um Quantenmechanik, sondern allenfalls darum, eine geometrische Form zu spiegeln.

Wer glaubt, Berlins Schulsenatorin Sandra Scheeres habe deshalb selbstverständlich sofort ihren Rücktritt erklärt, weil sie ihr bildungspolitisches Minimalziel verfehlt hat, der irrt. In Berlin doch nicht! Sie ist ebenso weiter im Amt wie Berlins regierende graue Maus Michael Müller. Berliner Politiker scheitern seit Jahren an der Lösung nahezu jeder Aufgabe, die die Zukunft der Stadt betrifft. Gerade erst wurde der Berliner Senat für sein Tegel-Nachnutzungs-Konzept mit einer schallenden Ohrfeige der Wahlbürger abgestraft, die Tegel offen halten wollen. Reaktion? Aussitzen! Niemand wundert sich in der Stadt darüber, dass weder ein Ende des Berliner Dauerskandals BER in Sicht ist noch eine intelligente Lösungsoffensive, um genügend qualitätvollen und bezahlbaren Wohnraum in der Stadt zu schaffen. Stattdessen dominiert in der Stadt eines Bruno Taut, der in den Zwanzigerjahren den Wohnungsbau mit seinen Siedlungen revolutionierte, ein herzfrostendes Investorengewürge. Ungeniert wird derweil in der »Financial Times« mit Blick auf Kuppelschloss (!) und Bauakademie (!!) unter dem Slogan »From Prussia to Europe« für Luxusapartments am Schinkelplatz geworben. Vielen lieben Dank! Endlich verstehe ich, warum in Berlins Mitte ohne Konzept Hunderte von Millionen Euro für Museumssammlungen in Schlossrepliken verballert wurden.

Um Babylon Berlin zu erleben, muss ich mich nicht televisionär in die Zwanzigerjahre zurück zoomen. Babel ist heute: Der Tiergarten ist zur lebensgefährlichen nächtlichen No-Go-Area mutiert, seit Jahren bekommt niemand die Gewalt auf dem Alexanderplatz in den Griff und U-Bahn- und Tramfahren geht mit der Gefahr einher, zusammengeschlagen oder die Treppe hinabgestoßen zu werden. Zur Erinnerung: Tiergarten und Alexanderplatz liegen nicht an entlegenen urbanen Randzonen. Sie bilden Herzstücke der Stadt. Ebenso wie Regierungs- und Parlamentsviertel. Doch die schweben in der rosaroten Blase ihres schusssicheren Paralleluniversums und fressen sich für immer mehr Abgeordnete samt Mitarbeitern immer tiefer in die Berliner Mitte, weil die dringend nötige Wahlrechtsreform nicht umgesetzt wird. Der dusselige Steuerbürger zahlt ja. Die Hipster aber, die Berlins coolen Ruf in die Welt trugen, sind längst nach Lissabon in die nächste kreative Metropole weitergezogen oder starten gleich in Kanada durch.

Knapp 30 Jahre nach der Wiedervereinigung gleicht Berlin von der Bildung über die digitale und analoge Infrastruktur bis zur Wohnungspolitik in nahezu allen Bereichen einem »failed state«. Es ist eine dreckdurchwehte Stadt ohne Selbstvertrauen und ohne Perspektive, in der jeder seinen Müll auf der Straße ablädt, als habe es die Broken-Windows-Theorie [1] nie gegeben.

Angesichts dieses Zustands war es an der Zeit, dass sich die Jugend der Welt von den Universitäten aus Austin, Navarra und Potsdam endlich ans Werk macht, um neue Perspektiven zu formulieren. Als Auftakt einer geplanten Ausstellungstrilogie im »Satelliten« der Architektur Galerie Berlin stellen sie »Berlin 2050. Konkrete Dichte« vor und stoßen damit eine überfällige Diskussion in einer Stadt an, die vom Planwerk Innenstadt noch immer in baukultureller Schockstarre gefesselt wird. Doch die so bitterlich erhoffte Vision der Ausstellung erstickt in aufgestapelter Blockranddichte und banalem Gesimsgestapel. Kritische Rekonstruktion reloaded? Bitte nicht! Vielleicht setzen ja die geplanten Ausstellungsteile zwei und drei die so dringlich erhofften neuen Impulse. Aber Achtung: Was Berlin fehlt, ist kein starrer neuer Masterplan. Berlin braucht eine mutige Strategie (vielen Dank liebe Kollegen von »Brand eins« für Euer wunderbares Oktoberheft »Der Plan war scheiße.«), um seine Interessen und Ziele zu managen. Doch halt, wie lauten diese Ziele überhaupt? Welches Leitbild hat Berlin? Bis 2050 seinen in steinerner Dichte erstickten Wiedergänger zu erzeugen? Ich fürchte fast, dass niemand wirklich wissen will, wie Berlins Zukunft aussieht. Denn im Jahr 2050 wird jenes Drittel der Berliner Viertklässler, das heute weder die Mindeststandards in Mathe noch in Rechtschreibung erfüllt, bereits Anfang 40 sein. Gerade deshalb aber wird es Zeit, dass wir in Berlin doch über die Zukunft streiten, denn zwischen Bildungsdesaster, BER und Bundesblase haben wir die Zukunft bereits zu einem Drittel verloren.

~Der Autor studierte Kunstgeschichte und arbeitet als Architekturkritiker und Buchautor in Berlin.

Lesen Sie hierzu auch den db-Kommentar
»Repräsentationsblähungen« aus db 6/2017 zu den gedankenlosen Ausgaben für Repräsentationsbauten des Bunds.
von Jürgen Tietz

Siehe auch:
brand eins
»Der Plan war scheiße.«

[1] Erläuterung:
Laut Broken-Windows-Theorie besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Verwüstungen in und Vernachlässigung von Stadtgebieten und Kriminalität. Die US-amerikanischen Sozialforscher James Q. Wilson und George L. Kelling illustrierten die Aussage ihrer Theorie mit der Behauptung, dass eine zerbrochene Fensterscheibe schnell repariert werden muss, damit weitere Zerstörungen im Stadtteil und damit vermehrte Delinquenz verhindert werden.

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