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Cradle-to-Cradle sieht anders aus

Cradle-to-Cradle sieht anders aus
Cradle-to-Cradle sieht anders aus

Cradle-to-Cradle sieht anders aus
Foto: Crawford Jolly auf Unsplash

~Falk Jaeger

Die Bauschaffenden sind in Aufruhr. Kaum ein Tag, an dem nicht eine Bundesingenieurkammer, ein Institut für Stadtbaukunst, ein Bund Deutscher Architektinnen und Architekten, eine Umweltingenieurin oder ein Chef eines Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung die Stimme erhebt, um ein radikales Umdenken in der Baupolitik einzuklagen, das im Koalitionsvertrag seinen Niederschlag finden soll. Die Gründe und Anliegen sind durchaus vielfältig und dringlich, münden aber alle in die Forderung nach einem starken Bundesbauministerium.

»Wenn diese Zeilen die Leserschaft erreichen, wird die Bundestagswahl gelaufen sein und wird man Koalitionen schmieden und um Posten schachern«, begann unser Kommentar im Oktober. Da nun das vorliegende Dezemberheft ausgeliefert ist, wird die Koalition (hoffentlich) stehen, die Eckpunkte der Politik sind im Koalitionsvertrag festgeklopft, aber ob das »Postengeschacher« schon gelaufen ist?

Gibt es schon das vielfach geforderte eigenständige Bundesbauministerium? Eines, das endlich stark genug ist, auf die anderen Ressorts Einfluss zu nehmen, wenn dort baurelevante Gesetzte lanciert werden? Im Verkehrsministerium etwa. Oder im Umweltschutzministerium, wo weltfremde Vorschriften für Wärmedämmung oder für Lärmschutz ausgedacht werden, die sich verheerend auf Haus- und Städtebau auswirkten. Die Energiebilanz eines Hauses lässt sich z. B. eben nicht in Zentimeter Steinwolledämmschicht messen. Und ob ein Handwerker wohnungsnah und damit verkehrsreduziert arbeiten kann, sollte von einer differenzierten Betrachtung abhängen, wie viel Lärm er mit seinem speziellen Metier erzeugt und nicht, ob Gewerbeflächen grundsätzlich und pauschal (zu hohe) Emissionswerte zugeschrieben werden, die derlei doch höchst wünschenswerte Koexistenz von Wohnen und Arbeiten von vorneherein ausschließt. Es gibt zahlreiche baufremde Einflüsse dieser Art, die von einem starken Bauressort revidiert oder modifiziert oder notfalls abgewehrt werden müssten.

Vom Bauen ist weder in den Wahlprogrammen noch in der Koalitionsdiskussion, allenfalls in Bezug auf Wohnungsbauzahlen explizit die Rede, doch eine neue Regierung, die derart engagiert in die Klimaproblematik einsteigt wie die rot-grün-gelbe, hätte ohnehin einen triftigen Grund, die Baupolitik zum Schlüsselressort zu erheben. Seit zwei Jahrzehnten wird die Zahl von 40 % kolportiert, die der Gebäudebestand Anteil am Primärenergieverbrauch habe. Die Zahl liegt eigentlich bei 29 %, doch sie ist nur die halbe Wahrheit. Für das Klima relevant sind die Emissionswerte, und die liegen bei Betrieb und Bauen von Wohnraum, Arbeitsstätten und Infrastruktur (Tunnel, Brücken) bei 55 %, nämlich einschließlich der bei der Produktion von Beton und Stahl, beim Transport und bei der Entsorgung anfallenden CO2-Emissionen.

Mehr als die Hälfte der klimaschädlichen Emissionen sind also dem Baubereich anzulasten. Daraus ergeben sich gewaltige Aufgaben, die in den Koalitionsvertrag gehören. Dabei geht es um das Erzwingen von Kreislaufwirtschaft, Förderung und Forderung von Bauweisen mit nachhaltigen Baustoffen (nicht nur Holz, auch Stroh und Lehm), Vermeidung von Neubauten durch Umnutzung des Bestands in großem Stil (Stichwort graue Energie), städtebauliche Verdichtung, Verkehrsvermeidung durch Nutzungsmischung u. v. m. Aber auch in andere Handlungsfelder reicht das Bauwesen hinein, Stichworte Umorganisation des innerstädtischen Verkehrs, Wasserhaushalt (»Schwammstadt«), Mikroklima sowie Artenvielfalt (Begrünung von Stadtraum, Fassaden und Dächern).

Der Ingenieur Werner Sobek, der seit zwei Jahren schwerpunktmäßig die klimarelevanten Faktoren des Bauwesens untersucht, sammelt einschlägige Gruselgeschichten. Eine davon: In und um München stehen aus Umweltschutzgründen keine bezahlbaren Deponien zur Verfügung. Der Bauschutt wird per LKW mehr als 500 km weit nach Nordtschechien und Südpolen gekarrt und dort preisgünstig deponiert. (Unter welchen Bedingungen und Umständen ist den reichen Münchnern gleichgültig, es gilt das Prinzip »aus den Augen, aus dem Sinn«). Durch den LKW-Transport entstehen allerdings Emissionen, die jene der Produktion des Baustoffs übersteigen. Cradle-to-Cradle sieht anders aus.

Ganz abgesehen von den traditionellen, weil nie abschließend gelösten Aufgaben des Bauressorts, mit denen Architekten- und Ingenieurverbände den jeweiligen Ministerinnen und Ministern schon immer in den Ohren liegen wie Abbau von Bürokratie und Vereinfachung des Genehmigungswesens, Entschlackung der wuchernden Vorschriften, Harmonisierung der unterschiedlichen Landesbauordnungen, Novellierung der HOAI, Unterstützung der freien Berufe im europäischen Kontext usw., hat ein Bauministerium jetzt die klimabedingten Aufgaben zusätzlich zu stemmen. Was auch immer Eingang in den Koalitionsvertrag findet und wie auch immer das Ministerium ressortieren oder aufgestellt sein wird, es muss dazu erheblich an Gewicht und Statur sowie an Personal und Etat gewinnen. Als Wurmfortsatz des Innen- und Heimatministeriums war das nie und ist das in Zukunft erst recht nicht zu machen.

Der Autor lebt und arbeitet als freier Publizist und Architekturkritiker in Berlin.

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