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Zum Umgang mit der Schullüftung in Corona-Zeiten

Zum Umgang mit der Schullüftung in Corona-Zeiten
Unbelehrbar bis unbeschulbar

Der jahrelange, unsägliche Sanierungsstau an Schulen gipfelt derzeit in Aufruhr und Frust über defekte und verschlossene Fensterflügel und die Unmöglichkeit zu lüften. Die Sorge mancher Eltern vor dem Corona-Virus mündet in manch unbeholfener Verzweiflungstat und allzu vereinfachte oder undurchdachte Rahmenhygienepläne mancher Länderministerien in Kritik von Klimaingenieuren.

Ein unnötiger Zustand. Denn spätestens mit der Anerkennung von Aerosolen als Übertragungsweg für COVID-19 hätte man den Bedarf in nicht ausreichend belüftbaren Klassenzimmern ermitteln und sich mit nachrüstbaren Lüftungsgeräten beschäftigen können. Immerhin verkündete am 12. November die Stadt Stuttgart, man wolle nun als »erste größere Kommune in Baden-Württemberg« gemeinsam mit der Uni Stuttgart an neun Schulen Luftreinigungsgeräte und deren Filter-Wirksamkeit »unter Realbedingungen« untersuchen. Besser spät als nie? In Anbetracht der derzeitigen Lage stellt sich (zum Redaktionsschluss am 19.11.) die Frage, wie lange die Realbedingungen tatsächlich noch Realität bleiben.

Während Wissenschaftler seit Monaten an Studien arbeiten und ihre Erkenntnisse und Bemühungen tagtäglich durch Medien kreisen, muss man kopfschüttelnd der Handlungsunfähigkeit der Verantwortlichen zusehen. Im Kontext umherschwirrender Binsenweisheiten und Anordnungen einige Anmerkungen für mechanisch und natürlich belüftete (Klassen-)Räume:

1. Differenzieren: Die Handreichung vom Umweltbundesamt zur Fensterlüftung in Schulen (alle 20 Min. für 3-5 Min.) gilt nur für solche Schulen, die nicht mit einer mechanischen Lüftungsanlage ausgestattet sind. Das UBA hat hierzu bereits ein weiteres Hinweisschreiben angekündigt. Länderministerien, die in ihren Hygieneplänen ein häufiges Stoßlüften anordnen, sollten also nach Gebäudetechnikkonzept differenzieren.

2. Klappe zu oder nachrüsten: Schulzimmer mit mechanischer Lüftung müssen nicht gelüftet werden, sofern die Anlage auf Volllast (mit höchstem Frischluftanteil) ohne Umluft läuft. Besteht keine Möglichkeit, den Zuluftanteil zu erhöhen, lassen sich Umluftsysteme mit HEPA-Filtern ausstatten. Bei Schulen mit natürlichem Lüftungskonzept können nachträglich dezentrale Lüftungen eingebaut werden, was in der Kürze der Zeit jedoch kaum realisierbar sein wird – und ggf. einen Teilaustausch der Fenster oder Fassade bedingt.

3. Hinschauen: Auch wenn leider an derlei Ecken gerne gespart wird – eine regelmäßige Wartung und Kontrolle der Technik ist jetzt umso wichtiger. Das kann nicht überall einem Hausmeister überlassen bleiben.

4. Nicht auskühlen: Lüftet man trotzdem häufig und noch dazu falsch (permanent gekippte Fenster), können Schulen im Winter wegen unbehaglicher Innentemperaturen nicht mehr genutzt werden. Ob dabei Passivhausschulen mit Wärmerückgewinnung schneller Probleme bekommen als ältere, konventionelle Schulen mit klassischer Heizung, aber weniger dichter Hülle, wird sich wohl individuell zeigen.
Gleichzeitig sieht Wolfgang Feist vom Darmstädter Passivhaus Institut bei der derzeit geführten Lüftungsdebatte das Problem zu trockener Winterluft als vernachlässigt: Er regt an, eine Untergrenze etwa bei 40-45  % Luftfeuchte zu definieren, unter der dann ggf. eine Luftbefeuchtung vorgesehen wird.

5. »Besser« lüften: Ein Luftaustausch findet bekanntermaßen bei Durchzug sowie größerem Temperaturunterschied und Wind rascher statt. Während Martin Kriegel, Gebäudetechnik-Professor und Leiter des Hermann-Rietschel-Institut der TU Berlin, sogar ein 15-minütiges Lüften alle 30 Min. für sinnvoll hält, schwant manchen Eltern, dass die »Alle-20-Min.-Regel« mehr oder weniger versehentlich vergessen wird. Sei es dem Kälteempfinden und der Angst vor Erkältungen geschuldet oder dem verqueren Denken einzelner Lehrer. Ein Lüftungsgong könnte Vertrauen fördern.

6. Indikatoren nutzen: Wenn die von RKI, Lehrerverbänden etc. mit Nachdruck geforderte Gruppenteilung mit Wechselunterricht und Abstand leider weiterhin nicht umgesetzt wird, können CO2-Ampeln in vollen Klassenzimmern als Indikatoren dienen. Zuverlässige, gute Geräte gibt es schon für rund 150 Euro, rät z. B. Uwe ter Vehn, ausgewiesener Energieberater an Schulen im Raum Hannover. Er weiß: Liegt der Wert über 1000 ppm, heißt es spätestens dann: Fenster auf, Aerosole raus.

7. Zusätzlich mobil filtern: Portable Lüftungsgeräte sind zwar ein Hoffnungsschimmer, ersetzen jedoch keine Lüftung mit Frischluft. Die CO2-Konzentration in Klassenzimmern war auch schon lange vor Corona und auf Fachtagungen ein viel diskutiertes Thema. Daher empfehlen UBA und Schulbaurichtlinien sinnvollerweise bereits seit Jahren mechanische Lüftungsanlagen, erklärt z. B. Lukas Renz, der sich mit seinem Schorndorfer Ingenieurbüro auf die Gebäudetechnik in Schulen in Baden-Württemberg spezialisiert hat.

8. Nur für Psyche oder Wirtschaft: Für wenige Hundert Euro von gutgläubigen Eltern eigeninitiativ angeschaffte, nicht ausreichend lang getestete Luftreinigungsgeräte haben eher psychologische Wirkung – oder dienen allenfalls dem Markt. Laut Christian Kähler, Professor am Institut für Strömungsmechanik und Aerodynamik an der Universität der Bundeswehr München, zählen zu den Qualitätskriterien eine hohe Filterleistung (sechsfaches Raumvolumen/h), HEPA-Filter H 13/14 (nach europ. Lüftungsnorm EN  1822-1 geprüft) und geringe Geräuschentwicklung (≤  52 dB). Sinnvoll sind auch (leider teure) Geräte, deren Filter sich über Erhitzung selbst desinfizieren. Ob bei solchen mit Elektrofiltern gesundheitsschädliches Ozon freigesetzt wird, sei außerdem noch nicht wissenschaftlich endgültig geklärt, so Renz.

Kurzum:
Wie immer ist es auch bei diesem Thema angebracht, nach dem Sinn und Ziel neuer Regeln zu fragen und unter Einbezug von Wissenschaft und Praxis ebenso differenziert zu denken wie vorausschauend zu planen und zu handeln – um unsinnige Empfehlungen, die nur für (Lüftungs-) Verwirrung sorgen, rasch aus der Welt zu schaffen und dem politischen Mantra »Die-Schulen-sind-sicher« letztlich Glaubwürdigkeit zu verleihen.

~Christine Fritzenwallner

Die db-Redakteurin u. a. für Technik verfolgt seit längerem die politischen und wissenschaftlichen Äußerungen und Erkenntnisse sowie Debatten an Schulen und in Kommentarblogs zu dem Thema.


siehe auch:

Der unsichtbare Weg der Aerosole »
Lüftungstechnische Auswirkungen von Covid-19 auf Gebäude

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