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Betrachtungen zum »Masterplan Güterverkehr und Logistik«

Diskurs
Betrachtungen zum »Masterplan Güterverkehr und Logistik«

Der schnelle Transport und die verlässliche Vermittlung von Gütern sind für das Funktionieren moderner Volkswirtschaften unerlässlich. Der Trend, dass immer mehr Waren und Güter über immer größere Distanzen transportiert werden, lässt sich nicht revidieren. Damit ist eine Vervielfachung des Bedarfs an Logistik- und Transportdienstleistungen zu erwarten und auch ein verstärkter Ausbau der logistikrelevanten Räume. Der Masterplan »Güterverkehr und Logistik«, der vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ausgearbeitet wurde und den das Kabinett 2008 verabschiedete, schafft Fakten. Es ist bemerkenswert, wie gleichgültig die Gesellschaft den anstehenden Überformungen ihres Lebensraums gegenübersteht.

~Wilhelm Klauser

Kaum jemand, den die endlosen Ketten von Lkws auf einer Autobahn nicht an den Rand der Verzweiflung brächten. Die Vorstellung eines weiteren Wachstums der Branche macht Angst. Und noch schlimmer: Dieses Wachstum ist real und schreitet ungebremst voran. Spezialisierung und Arbeitsteilung sind Treiber dieser Entwicklung.
Dies sind die Hochrechnungen: In Deutschland muss zwischen 2004 und 2025 mit einer Zunahme der Güterverkehrsleistung um 71 % gerechnet werden, im Straßengüterverkehr fällt dieser Anstieg mit 79 % und im Straßengüterfernverkehr mit 84 % noch deutlicher aus [1]. Einem Güteraufkommen, das im Jahr 2007 3,7 Mrd. t betrug, wird im Jahr 2050, selbst bei Einrechnung eines demografischen Faktors, ein Aufkommen von 5,5 Mio. t gegenüberstehen. Die Güterverkehrsleistung wird sich im selben Zeitraum auf 1 200 Mrd. tkm gar verdoppelt haben, denn auch die Transportweiten nehmen zu. Die Verteilung der Verkehrsträger, die diese Distanzen überwinden und die Lasten verschieben, wird sich allerdings nur graduell verändern. Über 80 % des Güterverkehrsaufkommens werden weiterhin über die Straße abgewickelt. Da sich dieser Anstieg regional ungleichmäßig verteilt, ist auf vielen Fernstraßen nahezu mit einer Verdoppelung des Güterverkehrs zu rechnen. Dies bedeutet, sofern der prognostizierte Anstieg Wirklichkeit wird: Wo heute auf Autobahnen eine Fahrspur von Lkw genutzt wird, sind in knapp 20 Jahren zwei Spuren nötig, um das Güteraufkommen bewältigen zu können [2].
Geografie der Distribution
Die Landschaften, die traditionellen Siedlungsstrukturen, vertraute Produktionsabläufe, selbst alltägliche Selbstverständlichkeiten wie das Einkaufen in einem Supermarkt wirken vor dieser Projektion in die Zukunft seltsam überholt. Niemand wird glauben, dass in 40 Jahren diese Rahmenbedingungen überhaupt noch relevant sind. Denn selbstverständlich deuten die Voraussagen nicht nur auf einen Ausbau des Straßennetzes, sondern auch eine kontinuierliche Veränderung und Fortentwicklung der Transportindustrie an sich. Die hin und wieder aufblitzenden Ausblicke auf das, was unserer Landschaft bevorsteht, rufen in der Regel blankes Entsetzen hervor. An den Autobahnausfahrten, neben denen Rastanlagen wie Pilze aus dem Boden schießen, oder in den homogenen Fassaden von Cross Docking-Stationen[3] zeigen sich die ersten Ablagerungen. In der Suburbia und in den Agglomerationsräumen entstehen Lagerhallen, die in ihrer Ausdehnung die Dimension der Innenstädte um ein Vielfaches überschreiten. Riesige Schubverbände sollen auf Binnenwasserstraßen durch Biosphärenreservate gleiten, die Hafenanlagen fressen sich in das Hinterland und ganze Landstriche können sich nur noch durch Online-Einkäufe versorgen.
In den vergangenen Jahren entstand eine Geografie der Distribution, die in ihrer Komplexität und in ihren Auswirkungen erst in Ansätzen verstanden wird. Distribution wird auch in den kommenden Jahren den Ausbau des Raums maßgeblich beeinflussen. Von großer Bedeutung ist dabei die Erkenntnis, dass weder die Verwaltungseinheiten wie Bundesländer oder Kommunen noch die vorhandenen Verkehrsinfrastrukturen die tatsächlichen Wirkungszusammenhänge in der Logistik reflektieren. Standortstrukturen haben sich verändert und entwickeln sich weiter, neue Beförderungstechniken entstehen und die Warenproduktion ist nur noch auf kurze Zyklen fixiert. Die räumliche Anforderung an die Organisation der Güterflüsse reflektiert vor diesen Rahmenbedingungen eine andere Wirklichkeit als die, von der wir heute ausgehen.
Die Verringerung der Fertigungstiefe und die Ausweitung der Produktionszusammenhänge, welche die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie sichern, bedeuten, dass Informations- und Güterströme über große Distanzen aufeinander abgestimmt und gesteuert werden müssen. »Gleichzeitig weiten sich Beschaffungs- und Absatzgebiete aus und es entstehen immer neue und miteinander zu vernetzende Güterströme. Dadurch nehmen auch die Aufwendungen für Transport, Lagerhaltung und Umschlag zu.«[4] Es entsteht eine räumlich ausgedehnte, zwischenbetriebliche Arbeitsteilung. Die Distanzen werden von spezialisierten Dienstleistern überbrückt. Diese Entwicklung wird insbesondere von den Konzentrationsprozessen angetrieben, die in den letzten 20 Jahren im Handel und in der Industrie abgelaufen sind. Immer weniger Akteure operieren in immer größeren räumlichen Zusammenhängen. Eng verbunden mit diesen Konzentrationsprozessen sind Wandlungen in der Unternehmensorganisation. Für Handelsunternehmen, die eine Vielzahl von Stützpunkten betreiben, ist es beispielsweise konsequent, auch Verteilprozesse in ihr Portfolio zu integrieren und ein eigenes Netzwerk einer bundes- oder gar europaweiten Güterverteilung aufzubauen. Die Kontrolle über logistische Prozesse erlaubt es dabei, die Nachfrageentwicklungen zu verknüpfen oder sie sogar zu kontrollieren. Die seit einigen Jahren zu beobachtende Tendenz, auch die Hersteller durch die Entwicklung eigener Handelsmarken in einen Gesamtprozess der Güterverteilung und Distribution einzubinden, zeigt das Entstehen vertikaler Kooperationen, die in dieser Form bislang unbekannt gewesen sind und die heute außerordentlich erfolgreich operieren.
Die letzte und zentrale Rolle in der erfolgreichen Bewältigung der Raum-Zeit-Distanzen spielt schließlich ein informationstechnologischer Quantensprung, der es erlaubt, flexibel und zeitnah auf Nachfrageschwankungen zu reagieren. Waren-, Geld- und Informationsflüsse werden in einem weitgespannten Netz verwoben. Das immense Wachstum der Logistikbranche ist unmittelbar mit der Erhebung, der Speicherung, der Verarbeitung und Weitergabe von Daten verbunden, eine Entwicklung, die von der Öffnung des Welthandels und der Einrichtung eines europäischen Binnenmarkts befördert wurde. Ein umfassendes Supply-Chain-Management[5] ist für die Organisation der langen Prozessketten unverzichtbar und bildet heute einen wesentlichen Teil der logistischen Wertschöpfung.
Räumliche Konsolidierungsprozesse sind eine selbstverständliche Folge. Die Bündelung von Ladungen, die Vermeidung von Leerfahrten und die Verkürzung von Standzeiten sind Voraussetzungen einer effizienten Organisation. Dabei entstehen unterschiedliche Transportmuster, da die einzelnen Wirtschaftsbereiche jeweils eigenen Vorgaben gehorchen. Ein überregional aufgestellter Einzelhändler wird versuchen, durch die Einrichtung von regionalen Verteilzentren eine optimale Distributionsstruktur aufzubauen. Cross Docking-Stationen erlauben ihm dabei eine schnelle und effiziente Kommissionierung und Zustellung. Ein Buchversand hingegen, der eine Vielzahl einzelner Abnehmer und kleine Gebindegrößen bewältigen muss, operiert in der Regel von einem einzelnen nationalen Zentrallager aus. Ein Automobilproduzent wickelt die Belieferung der Kunden, aber auch die Versorgung von Produktionsstätten über ein zentrales Umschlagslager ab. Paketdienste wiederum, die auf eine zeitnahe und verlässliche Belieferung ausgerichtet sind, werden relativ kleine, agglomerationsnahe Strukturen aufbauen. Die Entwicklung der Logistikmärkte ist also außerordentlich segmentiert und spezialisiert. Die Strukturen gleichen sich allerdings hinsichtlich eines Merkmals: Sie generieren in der Regel Binnenverkehre. Ziel und Quelle des Transports befinden sich innerhalb des Bundesgebiets. Die Explosion der straßengebundenen Güterverkehrsleistung ist mitnichten der Tatsache geschuldet, dass Deutschland Exportweltmeister ist. 2007 verzeichnete das statistische Bundesamt im innerdeutschen Verkehr eine Beförderungsmenge von 3,18 Mrd. t. 90,7 % davon wurden über die Straße transportiert. Weitere 318 Mio. t wurden exportiert (26 % über die Straße), 418 Mio. t wurden importiert (15 % über die Straße) und nur 45 Mio. t waren Durchgangsverkehre (6,8 % davon wurden über die Straße transportiert) [6]. Bei einem noch schärferen Blick zeigt sich, dass 45 % der Binnenbeförderung aus Bauschutt bestehen, der über eine durchschnittliche Distanz von höchstens 50 km befördert wird. Es zeigt sich, dass weitere 6 % den Transport landwirtschaftlicher Güter darstellen, von Produkten also, die ebenfalls nur über relativ kurze Distanzen in Veredelungsbetriebe transportiert werden. Es handelt sich damit um regionale Verkehre, die möglicherweise durch entsprechende lokale Maßnahmen aufgefangen und gesteuert werden können. Weitere 11,4 % des Lastaufkommens betreffen den Transport von Nahrungs- und Futtermitteln [7]. Darin spiegelt sich eine Logistikaufwendung, die durch die Konzentration des Einzelhandels, die in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren stattgefunden hat, vorgegeben wurde. Das Ausbluten und Veröden von Ortskernen, das in diesem Zusammenhang bei der Analyse der Versorgungssituation in Deutschland immer wieder beklagt wird, der Verlust einer funktionierenden Versorgungsinfrastruktur, der mit diesen Konzentrationsprozessen zusammenhängt, hat also auf der Transportebene weitere Auswirkungen.
Am Kern vorbei
Das Verhindern des drohenden Zusammenbruchs der Fernverkehrsverbindungen in der Bundesrepublik durch einen beschleunigten Straßenausbau erscheint also nur auf den ersten Blick als konsequenter Ansatz, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Ein solcher Ansatz behandelt das Symptom, ohne sich die Frage zu stellen, was eigentlich das Verkehrsaufkommen überhaupt verursacht. Trotzdem setzt die Politik genau hier an. Unter reger Mitarbeit der logistischen Lobbyverbände wurde im Juli 2008 durch die Regierung der Masterplan Güterverkehr und Logistik verabschiedet. Er konstatiert, dass der Ausbau der Straßenverbindungen unerlässlich ist. Er stellt weiterhin fest, dass Telematikeinrichtungen zur Verkehrslenkung nötig werden. Er stellt selbstverständlich fest, dass mehr Güter auf die Schiene verlagert werden müssen, er behauptet aber auch, dass es nicht ohne »Meeresautobahnen« gehen wird, dass die Binnenschifffahrt gestärkt werden muss und dass ein Masterplan für die deutschen Häfen unerlässlich ist. In Europa scheint Deutschland damit führend: Zur Sicherung des allgemeinen Wohlstands gilt es, Hindernisse oder Verzögerungen, die im Transportprozess anfallen, wenn nicht zu beseitigen, so doch zumindest zu reduzieren. Die Reduktion der Logistikprozesse auf das Thema des Transfers allerdings greift zu kurz. Nur 44 % der Gesamtumsätze der Logistikleistungen in der BRD werden nämlich durch den Transport an sich erwirtschaftet, 46 % der Gesamtumsätze entfallen auf die Bereiche Lagerwirtschaft und Beständehaltung und die verbleibenden 10 % müssen der Abwicklung und Planung von Logistikabläufen zugerechnet werden. Der Masterplan reflektiert damit zunächst ausschließlich knapp die Hälfte der raumrelevanten Logistikumsätze. Gleichzeitig unterstützt er mit seiner Schwerpunktsetzung eine räumliche Organisation, die bestehende Unzulänglichkeiten zementiert. Der Masterplan zeigt damit einerseits die begrenzten Möglichkeiten der Politik, in die dargestellten Prozesse steuernd einzugreifen. Er zeigt aber auch die begrenzte Fantasie, da der Plan die Entwicklung eines Szenarios der Lastvermeidung gar nicht berücksichtigt! Die Vorstellung, dem angekündigten Verkehrskollaps durch einen Ausbau der Straßen zu begegnen, ist hilflos. Denn es geht in der Logistik eben nicht nur um den Verkehr! Gleichzeitig ist der vorgeschlagene Ansatz unflexibel. Er kann weder auf Veränderungen in der Industrie selbst reagieren noch verfügt er über eine überzeugende Exit-Strategie, um sich im Fall einer gegenläufigen Entwicklung anzupassen. Aber viel schlimmer noch: Der Plan konterkariert gleichzeitig die vielfältigen Bemühungen, durch großflächige Planung den räumlichen Wildwuchs einzugrenzen. Wie beispielsweise verträgt sich der Ansatz des Masterplans mit den gleichermaßen nachdrücklichen Forderungen nach Reduktion des Flächenverbrauchs? Wie will man mit solch einem Ansatz das Problem der »Zwischenstadt« in den Griff bekommen, die eben nichts mehr und nichts weniger ist als auch eine Abbildung von optimierten Distributionsprozessen? Und wie verträgt sich dieser Ansatz überhaupt mit dem Wunsch, den CO2-Ausstoß zum Wohle des Klimas zu reduzieren? Die Vorstellung, bei einer Verdoppelung der Verkehrsleistung durch verbesserte Motoren oder eine optimierte Verkehrssteuerung einen relevanten Beitrag zur Debatte zu leisten, erscheint naiv und die avisierte Verschiebung von Lasten auf die Bahn oder auf Binnenschiffe ist nur für Durchgangsverkehr praktikabel, der im Verkehrsaufkommen zudem nur eine untergeordnete Rolle spielen wird. Die Chance, das Thema Logistik als eine unternehmens- und branchenübergreifende Schnittstellendisziplin par excellence zu begreifen, die durch ihre Ausformung und Vermittlungsfunktion im Stande ist, räumliche Disparitäten auszugleichen, begreift der Masterplan nicht. Und das ist bestürzend. •
  • Der Autor ist Architekt und Urbanist. Er lebt in Berlin und betätigt sich auch als Autor und Kritiker.
  • Auf der Website des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung steht der Masterplan Güterverkehr und Logistik als pdf-Download zur Verfügung: www.bmvbs.de, Rubrik Verkehr/Güterverkehr & Logistik
Literaturhinweise und Erläuterungen [1] Intraplan Consult GmbH und BVU Beratergruppe Verkehr + Umwelt GmbH (2007): Prognose der deutschlandweiten Verkehrsverflechtungen 2025, FE-Nr. 96.0857/2005, im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung [2] Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Masterplan Güterverkehr und Logistik, 2008 [3] Bei der Warenumschlagsart Cross Docking werden die Waren vom Lieferanten vorkommissioniert geliefert; dadurch entfallen der Einlagerungsprozess und die dazugehörige Aktivität des Bestandslagers [4] Kujath, Hans Joachim; Logistik und Raum – neue regionale Netzwerke der Güterverteilung und Logistik; IRS, Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung; Erkner 2003; S. 3 [5] »Lieferkettenmanagement« bezeichnet die Planung und das Management aller Aufgaben bei Lieferantenwahl und Beschaffung, Umwandlung und aller Aufgaben der Logistik. Insbesondere enthält es die Koordinierung und Zusammenarbeit der beteiligten Partner [6] www.destatis.de; Güterbeförderung; Beförderungsmenge nach Hauptverkehrsrelationen und Verkehrsträgern 2007; gefunden 19.4.2009 [7] alle Zahlen: www.destatis.de; Güterbeförderung; Beförderungsmenge nach Verkehrsträgern und Güterabteilungen 2007; gefunden 19.4.2009
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