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Textilien in der Architektur: Wo stehen wir derzeit beim textilen Bauen?

Textiles Bauen
Gewebt, gewirkt, geschäumt

Wo stehen wir derzeit beim textilen Bauen? Welche Formensprache, welche Funktionalität und Tragfähigkeit – etwa in Richtung Druckfestigkeit – können wir durch technologische Fortschritte und ständige Weiterentwicklungen bei technischen Textilien für das Bauwesen erwarten? Ein Einblick in Forschungsarbeiten und begleitende studentische Projekte zeigt, was »morgen« Realität sein könnte.

Text: Claudia Lüling

Kunststoffe und damit auch Textilien gelten neben Stein, Holz, Glas und Beton als fünftes Baumaterial. Das lateinische »Texere« bedeutet ursprünglich Weben, längst bestimmen aber auch andere Verfahrenstechniken wie Filzen, Flechten, Knüpfen und Stricken bzw. Wirken den Charakter moderner zwei- bzw. dreidimensionaler textiler Flächengebilde. »Textile« also beruhen auf teils uralten Fügetechniken, ihre Materialität wird erst durch die verwendeten linearen Werkstoffe bestimmt. Dabei ist zwischen natürlich-organischen Fasermaterialien wie Wolle, synthetisch-organischen Fasern wie Polyesterfasern und mineralischen Fasen aus Glas und sogar Basalt zu unterscheiden. Vom Zelt über den Sonnenschutz bis hin zu weitgespannten Dachkonstruktionen scheint textiles Bauen funktional wie gestalterisch bekannte Lösungen zu bieten. Nicht zuletzt prägen Frei Ottos gleichermaßen spielerisch-poetisch wie ingenieurtechnisch einprägsame Bauten den in unseren Köpfen fest verankerten Formenkanon des textilen Leichtbaus. Inzwischen, u. a. bedingt durch die Neuerfindung der europäischen Textilindustrie unter dem Druck globalisierter Bekleidungsherstellung, finden sogenannte technische Textilien – und damit neue funktionale wie gestalterische Optionen im Bauwesen – immer mehr Beachtung.

Technische Textilien

Die Sonderschau der Branche dazu, die dieses Jahr im Mai in Frankfurt a. M. organisierte »Techtextil« [1], wird dies demonstrieren: Dort stehen u. a. neue technische Ausrüstungen im Fokus, z. B. leitfähige und adaptive Fasermaterialien und teils mit Sensorik ausgestattete Textilien zur Beheizung oder zur Belichtung. Fragen nach nachhaltigen, recyclierfähigen Leichtbaukonstruktionen in der Luft-, Raumfahrt- und Automobilindustrie treiben dabei immer wieder die Entwicklungen voran, die kombiniert mit intelligenten technischen Textilausrüstungen auch für die Architektur neue konstruktive und gestalterische Möglichkeiten eröffnen. Denn in den verschiedenen Klimazonen der Erde ebenso wie im All bilden Haut, Kleidung und unsere Gebäudehüllen zusammen ein komplexes System für maximalen Komfort und Schutz. Die baulich-textilen Anteile daran reichen zurück zu archaischen Zelten (textile Hülle) und Jurten (textile Filzdämmung, Lagenanzahl jahreszeitabhängig) und führen hin zu hochmodernen, mehrlagigen Membrandachflächen. So etwa Membranen zur Reduktion der Lärmimmissionen und zur Unterstützung der Klimatechnik durch spezielle Beschichtungen wie z. B. beim Flughafen in Bangkok. Selbst bei der NASA bleibt es nicht bei hochleistungsfähigen Raumanzügen: Das »Bigelow Expandable Activity Module« (BEAM) ist ein aufblasbares, textilbasiertes Weltraummodul, das seit April 2016 an der Internationalen Raumstation (ISS) angekoppelt ist und dessen äußere Lage aus einem teflonbeschichteten Gewebe aus Quarzfasern besteht, vergleichbar mit Fiberglas.

Nahtlos

Aber auch technologisch basierte Neuerungen aus der Mode begleiten den Weg von der Bekleidung zur Behausung. So hat der japanische Modedesigner Issey Miyake 1997 mit seiner Kollektion »A–POC« (A Piece of Cloth) genutzt, was unsere Großmütter ähnlich schon mit rundgestrickten Raglan-Pullovern und komplizierten Fingerhandschuhen vorgemacht haben. Auf einer Rundstrickmaschine werden textile Schläuche gefertigt, aus denen Kleidungsstücke »fully fashioned« entstehen, ganz ohne additives Fügen: In vordefinierten Bereichen lassen sie sich ausschneiden, ihr ästhetischer Reiz resultiert aus den sichtbaren belassenen, überstehenden Schnitträndern. Übertragen auf die Architektur verspricht der Begriff »fully fashioned« textile Bauelemente industriell gefertigt, passgenau, hochfunktional und mit einer minimalen Anzahl an Fügepunkten – auch wenn erste konkrete Ansätze im Bauwesen noch auf sich warten lassen. Inspirierende Anwendungen finden sich bereits im Sportschuhbereich, so etwa bei Nike in der Kollektion »Flyknit«, wo eine einzige Naht den Einteiler samt Sohle zu einem Sportschuh verbindet. Noch weiter geht das Massachusetts Institute of Technology in Cambridge (MIT): Ein elastisches und vorgespanntes, bedrucktes Textilmaterial verformt sich nach der Entlastung wie selbstverständlich zu einem modernen, passgenauen Schuh (Abb. 2).

Textile Räume

Was das mittelfristig für die Architektur bedeuten kann, hat u. a. das Centre for Information Technology and Architecture, kurz CITA in Kopenhagen, auf der letzten Architekturbiennale 2018 gezeigt: Entstanden ist eine atmosphärisch leichte, ebenfalls auf dem elastischen Verhalten des Textils beruhende Rauminstallation (Abb.   3). Durch die präzise Definition der gestrickten Struktur aus einer hochfesten, polyethylenbasierten Faser wurde das Dehnungsverhalten des Textils sowie die Integration aller notwendigen Anschlusslaschen, Seilkanäle usw. vorprogrammiert und vor Ort mit druckstabilen Acrylglasrohren und gebogenen Glasfaserstangen ins Gleichgewicht gesetzt.

Alternativ zu diesem Ansatz wird derzeit an der Frankfurt University of Applied Sciences (FRA-UAS, Frankfurt a. M.) untersucht, inwieweit eine sich selbst stabilisierende Konstruktion durch die Kombination von geschäumtem Material mit Textilien entstehen kann: Im Projekt »FabricFoam®« werden Zugkräfte über die textile Struktur und Druckkräfte über die porige Struktur des gewählten Schaummaterials aufgenommen. Gleichzeitig wird versucht, die Dämmwirkung des neuen Strukturverbunds zu optimieren. Erste studentische Seminare zu dem Thema, versuchsweise mit PE-Fasern und PU-Schäumen, zeigen überraschende Ergebnisse (Abb. 4-6): Maschenware aus gestrickten, schaumgefüllten Schläuchen oder Gelegestrukturen, die über Schaumanteile auf Abstand gehalten werden, um höhere Tragwirkungen zu erreichen; oder Gewebe, die im Kreuzungspunkt der Schuss- und Kettfäden Schaumkugeln fixieren und so zu einem beweglichen textilen Bauschaumelement werden. Ein erster Experimentalpavillon (Abb.   6) aus schaumbefüllten Schläuchen in unterschiedlichen Lagenanzahlen und Knotendichten zeigt Effizient und Ästhetik des Ansatzes: Mit nur 65 kg Gesamtgewicht ergibt sich ein »Leichtraum«, der bei Benutzung Intimität wie Durchblick erlaubt und beim Anlehnen freundlich wie ein Korbstuhl vor sich hin knarzt.

Bauen mit Abstand

Gefördert u. a. durch die Forschungsinitiative Zukunft Bau werden an der FRA-UAS dazu weitere Untersuchungen mit Spezialtextilien und Schäumen durchgeführt. Im Fokus stehen hier Abstandsgewebe und -gewirke (mehrlagige, in einem Schritt gefertigte Textilien) und ihr Potenzial für Anwendungen in der Gebäudehülle (Projekt »3dTEX«). Die Decklagen dieser mehrschichtigen Textilien werden über sogenannte Polfäden (Abb.   11) auf definierbarer Distanz gehalten, wodurch sich zudem präzise Hohlräume zwischen den Außenflächen und den Polfäden zum Ausschäumen generieren lassen. Erste Formfindungsversuche zu selbsttragenden Hüllkonstruktionen (Abb. 7-10) variieren zwischen leichten und stabilen Hängeschalen, Faltwerken und Kuppelkonstruktionen. Die hellen, transluzenten und schallgedämpften Rauminstallationen zeigen das konstruktive wie gestalterische Potential des Faser-Schaum-Verbunds.

Im Folgeprojekt »ge3TEX« (gewebt, gewirkt, geschäumt – 3D Textilien für die Gebäudehülle) wird derzeit versucht herauszufinden, inwieweit sich dafür recyclierfähige Monomaterialen aus z. B. Basaltfasern und Schaumbeton, Glasfasern und Blähglas oder PET-Fasern und PET-Schäumen aus recycliertem PET-Material herstellen lassen, inwieweit diese ein Selbstentfaltungs- bzw. Selbstverformungspotenzial zur Erhöhung der räumlichen Tragwirkung entwickeln können und inwiefern zusätzliche Funktionalisierungen (z. B. Sensorik, licht- bzw. stromleitende Fasern) über die textile Ausrüstung sinnvoll wären.

In Bewegung

Parallel zum Projekt »3dTEX« fördert das Land Hessen Forschungen zu dynamischen, textilen Bauteilkomponenten zur Steuerung von Tageslichteinfall, Sichtbezügen und Überhitzung. Auch dabei bieten dreidimensionale, mehrlagige Abstandstextilien aufgrund ihrer einstellbaren Materialdicke, Porosität und Elastizität spezielle Möglichkeiten. Durch Faltung, Biegung, Stauchung oder Dehnung wird Bewegung und Zeit als vierte Dimension in die textile Gestaltung integriert (»4dTEX«). Die Abbildungen 1 sowie 11-13 zeigen erste Ergebnisse zu Sonnenschutz- bzw. Verschattungselementen mit Bewegungsmechanismen, die speziell aus der programmierbaren Geometrie der Abstandstextilien entstehen. Für die Versuche wurden zunächst herkömmliche Polyesterfasern verwendet. Durch die Kombination von Falt- und Schnitttechniken ergeben sich z. B. differenzierte, robuste und scharnierlose Mechanismen, die in
Klapp-, Hebeklapp- und Faltläden, aber auch als außenliegende Plisseeanlagen Verwendung finden können. Ebenso zeigen Biege- und Dehnungsstrategien von Abstandstextilien einen Variantenreichtum: Bei Biegung entstehen Verdunklungen durch die einseitige Verdichtung einer Deckschicht, bei Dehnung der gegenüberliegenden Deckschichten des Abstandstextils lassen sich unterschiedliche Transluzenzen erreichen, die sich manuell, elektrisch, pneumatisch oder auch über adaptive Fasern steuern lassen könnten. Und auch dabei bieten zusätzliche Werkstoffe in Faserform wie Glasfasern weitere Funktionalitäten wie Tageslichtlenkung.

Nach Lust und Laune

Zugstabil, in Kombination mit Beschichtungen und Füllungen druckfest und gedämmt, opak oder transluzent, statisch bis hin zu adaptiv-beweglich: Textilien bieten wie kaum ein anderer Baustoff für die Architektur eine noch nicht ausgeschöpfte
Palette an Möglichkeiten, die zusammen mit neuen Materialtechnologien und beispielsweise »fully fashioned« hergestellt, neugierig auf die Zukunft des textilen Leichtbaus machen.


Zu den im Text genannten Projekten s. auch www.fabricfoam.de und https://kadk.dk/en/case/isoropia


Claudia Lüling

Architekturstudium an der TH Darmstadt, 1991 Master an der SCI-ARC, Los Angeles. Berufstätigkeit als Architektin, seit 2001 Lüling Rau Architekten, 2009 Lüling Sauer Architekten. 2002-03 Vertretungsprofessur an der UdK Berlin, seit 2003 Professur an der Frankfurt University of Applied Sciences, Forschungsschwerpunkt Textiler Leichtbau.


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