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Wohnungen und Wohngruppe der Lebenshilfe in Ingolstadt von blauwerk

Lichtblick
Wohnungen und Wohngruppe der Lebenshilfe in Ingolstadt

Gelungenes Finale eines im Rahmen des Nachwuchswettbewerbs Europan 6 entstandenen Wohnungsbauprojekts in Ingolstadt: Unter der Ägide eines anspruchsvollen Bauherrn sind angemessene Räume für Familien wie auch für betreute Behinderte entstanden, mit geschützten Gärten und breiten Balkonen. Der markante Baukörper spielt innen wie außen mit den Themen Offenheit und Schutz.

Architekten: Kern und Repper Architekten, Partnerschaft BLAUWERK, München
Tragwerksplanung: IB Grad Ingenieurplanungen

Kritik: Klaus Meyer
Fotos: Florian Schreiber

Das Auge sehnt sich nach unverstelltem Horizont, nach saftigem Grün, nach einer Kneipe. Dass der Nordwesten Ingolstadts nichts dergleichen bietet, wäre vielleicht zu verschmerzen, schiene wenigstens die Sonne. Aber es ist grau, kalt und windig an diesem verregneten Wintertag. Nirgendwo im Freien geht einem an solch einem Tag das Herz auf, aber an einem Ort wie am äußeren Ende der Richard-Wagner-Straße geht es einem richtig dreckig. Lässt es sich hier leben? Wird man hier froh? Unablässig wird das Auge abgestoßen.

Jenseits des Verkehrslärms der vierspurigen Straße beherrschen die grauen Hallen des Audi-Güterverkehrszentrums das Bild, im Westen versperrt ein banales Einkaufszentrum die Sicht, im Osten erstreckt sich das übel beleumundete Piusviertel mit seinen farblosen Wohntürmen. Und die Siedlung an der Permoserstraße, die sich im Süden an das Elend anschließt? Diese Geschichte spielt nicht im Paradies. Von Traumlage kann keine Rede sein. Umso bemerkenswerter ist es, was Politiker, Stadtplaner, Bauherren und Architekten aus der misslichen Situation gemacht haben.

Die 2,5 km westlich der Altstadt gelegene Siedlung hat eine Größe von 4 ha. Im Rahmen des Entwicklungsprogramms »Offensive Zukunft Bayern« entstanden hier seit den späten 90er Jahren geförderte Wohnanlagen ganz unterschiedlichen Formats. In jedem der vier Bauabschnitte wurde anderen Materialien, Bauweisen, Ausdrucksformen der Vorzug gegeben, weshalb das Quartier insgesamt einen etwas zerrissenen Eindruck macht. Auf eine behutsame Gestaltung des öffentlichen Raums, die Einheit hätte stiften können, wurde weitgehend verzichtet. Daher sind es nicht großzügige Grünflächen und schöne Wege, die zwischen den disparaten Gebäudegruppen vermitteln, sondern Autostellplätze, verwinkelte Pfade und zerrupfte Restflächen. Einen Lichtblick gibt es jedoch. Und das sind die vier Wohngebäude, die das Quartier im Norden und Westen einfassen und stadträumlich definieren. Der erste im Rahmen des Nachwuchswettbewerbs Europan 6 realisierte Bau, ein langer Terrassenhaus-Riegel, erstreckt sich entlang der Hauptverkehrsader. Sein 2010 fertiggestelltes Pendant schließt sich westlich an. Das dritte Bauwerk, ein Quader mit markanter Auskragung im Süden, markiert am Schnittpunkt von Richard-Wagner- und Permoserstraße den Eingang zum Siedlungsfeld. Nahezu im rechten Winkel dazu vervollständigt das 2015 als letzter Baustein fertiggestellte Wohngebäude das Ensemble. Als Teil eines über fast eineinhalb Jahrzehnte gewachsenen Ganzen nimmt der Neubau in vielerlei Hinsicht Bezug zu den Vorgängerbauten auf. Doch behauptet er sich mit seinen charakteristischen Merkmalen auch als Solitär. Entstanden ist er, wie die anderen drei Europan-Projekte, nach Plänen des Münchner Büros BLAUWERK unter der Bauherrschaft der Gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft Ingolstadt (GWG).

Sichtbeton versus Faserzement

Der viergeschossige Stahlbetonbau bietet Platz für 17 Wohneinheiten sowie einen zusammenhängenden Wohntrakt mit sechs Apartments für behinderte Menschen. In den unteren beiden Geschossen haben die Planer Maisonettwohnungen unterschiedlicher Größe platziert; das Spektrum reicht von der 3-Zimmer-Wohnung mit 76 m² bis zur 5-Zimmer-Wohnung mit 104 m². Die oberen beiden Geschosse beherbergen 2- bzw. 3-Zimmer-Wohnungen zwischen 58 und 82 m². Die Erschließung der OGs erfolgt über Laubengänge, die über markant ausgeformte Treppenhäuser an den Stirnseiten des Gebäudes erreichbar sind. An der Südfront formieren sich die Kante des vorkragenden Flachdachs sowie die vorspringenden Sichtbeton-Brüstungen von Treppenhaus und Laubengängen zu einem skulpturalen Fassadenbild von großer Kraft und Eigenständigkeit. Diese Wirkung wird von vorgeblendeten Glasscheiben, die das Treppenhaus schützen, eher verstärkt als beeinträchtigt. V.a. aus Lärmschutzgründen wurde das nördliche Treppenhaus mit einer Sichtbetonwand weitgehend geschlossen.

Mit seinen markanten Betonteilen setzt sich das Gebäude an der Permoserstraße von den Vorgängerbauten ab. Eine gestalterische Verbindung schafft das Material: Vorgehängte, hinterlüftete Faserzementplatten prägen mit ihrem dunklen Fugennetz die Fassaden aller vier Baukörper. Doch während die Terrassenhäuser sich im einheitlich weißen Eternitkleid präsentieren, steht das klinisch saubere Material beim Neubau in einem gewöhnungsbedürftigen Kontrast zum rohen Beton. Gewählt hat man es nicht zuletzt aus Gründen der Nachhaltigkeit: »Die Platten sind robust und lassen sich bei Beschädigung leicht auswechseln, was beim dauerhaften Unterhalt der Immobilie eine nicht unerhebliche Rolle spielt«, sagt der Architekt Tom Repper.

Sparzwang und Qualitätsanspruch

Alles spielt eine Rolle beim gemeinnützigen Wohnungsbau. Der enge, von zahllosen gesetzlichen Normen definierte Kostenrahmen beeinflusst jede Materialentscheidung, jedes konstruktive Detail, jede gestalterische Lösung. Qualitätvolle Architektur entsteht unter diesen Bedingungen nur, wenn die Planer zugleich kompromissbereit und kreativ agieren. Was dabei herauskommen kann, zeigt das Beispiel der vertikal verspringenden Fenster an der Westflanke des Gebäudes. Aus Kostengründen kamen preiswerte Kunststoffrahmen zum Einsatz, die jedoch größtenteils durch vorstehende Faserzementplatten und abschließende Aluminiumwinkel verdeckt werden. Was auch immer man über das Kaschieren von Schwächen denkt: Hier stärkt die Maßnahme das Erscheinungsbild ganz eindeutig.

Nicht immer müssen die zwischen Sparzwang und Qualitätsanspruch zu suchenden Lösungen bis an die Oberfläche durchdringen. Ein Beispiel ist der ökonomische Umgang mit Baumaterialien wie etwa dem Armierungsstahl. Um die Kosten niedrig zu halten, wurden nicht-tragende Innenwände ohne Bewehrung ausgeführt; Risse nimmt man in Kauf, zumal sie von einer einfachen Gipskartonbeplankung verdeckt bleiben, die ihrerseits wiederum nicht verputzt, sondern nur verspachtelt wurde. Außerdem kamen kostengünstige Filigrandecken zum Einsatz.

Solche Grundentscheidungen wurden selbstverständlich nicht allein von den Planern getroffen, sondern in Abstimmung mit einem sehr erfahrenen Bauherrn, der laut Tom Repper auch schon mal bereit ist, von strengen Normen abzuweichen, wenn sie sich nicht am praktischen Nutzen orientieren. Der Boden der Laubengänge ist ein Beispiel: »Eigentlich ist dort ein schallentkoppelnder Belag zwingend vorgesehen, doch man entschied sich dagegen, weil die Maßnahme keine spürbare Verbesserung bringt.«

Räume zum Wohlfühlen

Erlebbare Wohnqualität zu schaffen, war das Hauptziel aller Bemühungen. Um es zu erreichen, galt es Schwerpunkte zu setzen. So hat man sich auf eine funktionale Ausstattung der Bäder beschränkt und dafür in allen Räumen hochwertiges Mosaikparkett verlegt. Einen hervorragenden Eindruck machen auch die beplankten Balkone in den OGs, die Holztreppen in den Maisonettewohnungen, die mit Holz bekleideten Fensterlaibungen und viele Ausstattungsdetails mehr. Neben den gediegenen Materialien überzeugen auch die Räume als solche. Alle Wohneinheiten verfügen über durchgesteckte, zweiseitig belichtete Zentralbereiche. In den meisten Wohnungen ermöglichen raumhohe Schiebetüren das Zusammenschalten von Räumen. Die Maisonetten wirken nicht zuletzt dank der Galerie im Eingangsbereich und des rückwärtigen, geschützten Privatgartens großzügig. Die Einheiten in den oberen Geschossen öffnen sich auf breite Ostbalkone, die den Wohnraum nach draußen verlängern. Last but not least stimmt die Qualität auch in energetischer Hinsicht. Die meisten der mit Fernwärme geheizten Räume sind mit Zu- und Abluftanlagen zur Wärmerückgewinnung ausgestattet. Das Gebäude ist ein KfW-Effizienzhaus 70.

Und was sagen die Mieter? Der Familienvater aus der 3-Zimmer-Wohnung im OG und die Bewohnerin der 77-m²-Maisonette sind sich einig: Alles bestens, man wohnt sehr gerne hier. Zum Wohlbefinden trägt sicherlich der günstige Mietzins von 7,5 Euro/m² bei. Doch auch die architektonischen Qualitäten wissen die Mieter zu schätzen. Und noch etwas gefällt ihnen: In vier Jahren wird Ingolstadt auf dem 30 ha großen Gelände zwischen dem Westpark-Einkaufszentrum und den Audi-Hallen eine Landesgartenschau ausrichten. In Sichtweite der Siedlung an der Permoserstraße entsteht dann ein großer, schöner Park. Wenn das kein Lichtblick ist.

Vertikalschnitt, M 1:20
Plan: BLAUWERK Architekten / bearbeitet von Birk Heilmeyer und Frenzel Gesellschaft von Architekten, Stuttgart

  • Standort: Permoserstraße 41/43, 85057 Ingolstadt

    Bauherr: Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft (GWG) Ingolstadt
    Architekten: Kern und Repper Architekten, Partnerschaft BLAUWERK, München (heute: BLAUWERK Architekten)
    Mitarbeiter: Diana Obermaier, Felicitas Rosenberger
    Tragwerksplanung: IB Grad Ingenieurplanungen, Gaimersheim
    HLS-Planung: GWG Ingolstadt
    Elektroplanung: Ingenieurbüro HTK, Ingolstadt; GWG Ingolstadt
    Landschaftsarchitektur: BLAUWERK mit grabner + huber landschaftsarchitekten partnerschaft, Freising (heute: grabner huber lipp landschaftsarchitekten & stadtplaner partnerschaft)
    Bauphysik: Akustik Süd, München
    Brandschutzplanung: K33 Brandschutz Steinlehner Riedner Wagner Architekten Partnerschaft, München
    Wohnflächen: 1279,6 m² (Wohnungen, 2-5 Zimmer) + 343,4 m² (1-Personen-Apartment + Wohngruppe)
    BGF: 2 661 m²
    BRI: 8 265 m³
    Baukosten (KG 300+400): 2 767 580 Euro; 1 705 Euro/m2WF
    Bauzeit: Januar 2013 bis Oktober 2014 (Gebäude), bzw. Mai 2015 (Freianl.)
  • Beteiligte Firmen:
    Bauarbeiten: Rudolf Röss Bau, Ingolstadt, www. roess.com;
    Meier Betonwerke, Lauterhofen, www.meier-betonwerke.de
    Kunststofffenster: Veka, Sendenhorst, www.veka.de; Christian Kotschenreuther, Steinwiesen, www.kotschenreuther-schreinerei.de
    Fassade: (Equitone Textura) Eternit, Heidelberg, www.eternit.de; Bilfinger OKI Isoliertechnik, Speyer
    Schiebetüren: (Junior 120) HAWA, Mettmenstetten, www.hawa.ch
    Innentüren/Schreiner: Bauelemente Geuß, Niederaichbach
    Metalltrennwände: (UTS-LB) Käuferle, Augsburg, www.kaeuferle.de;
    Heinrich und Schleyer, Kitzingen
    Lüfter mit Wärmerückgewinnung Meltem, Alling, www.meltem.com
    Mast-, Wandleuchten: Bega, Menden, www.bega.de
    Bodenspot: Trilux, Arnsberg, www.trilux.com
    Estrich: HG Bau, Halle
    Bodenbelag: Max Hofmann Fußböden, Neutraubling
    Aufzug: Butz & Neumair, Bergkirchen
    Außenanlagen: Emilian Stefoni Tiefbau, Wettstetten

BLAUWERK Architekten


Christian Kern
1987-95 Studium in Stuttgart und Perth (AUS). 1994- 97 Mitarbeit u. a. bei Stirling & Wilford. 1999-2004 Wiss. Assistenz an der TU München. Seit 2008 Büro mit Tom Repper. Seit 2007 Professur an der TU Wien.

 

 

Felicitas Rosenberger
2001-08 Studium in Weimar und Prag. 2004-10 Mitarbeit in mehreren Architekturbüros. Seit 2010 bei BLAUWERK Architekten, seit 2014 als Assoziierte.

 

 

Tom Repper
1991-96 Studium in München. 1995-98 Mitarbeit bei Meier-Scupin&Petzet. 1997-99 Aufbaustudium Städtebau in München. 1999-2007 Mitarbeit bei Steidle + Partner. Seit 2008 Büro mit Christian Kern.


Anfangs von der unschönen Umgebung deprimiert, hellte sich die Stimmung unseres Kritikers Klaus Meyer beim Gang durch die klug konzipierte Wohnanlage immer mehr auf.

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