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Verkehrskanzel in Berlin

… in die Jahre gekommen
Verkehrskanzel in Berlin

Er hatte Überblick und Macht: Um die sechziger Jahre thronte ein Verkehrspolizist auf einer Kanzel über dem Joachimstaler Platz in Berlin und regelte von dort, das Verkehrsaufkommen überwachend, das Treiben auf der Straße, indem er die Ampeln per Knopfdruck entsprechend schaltete. Obwohl der charmante Hochsitz seit über vierzig Jahren ohne konkrete Funktion ist und sich sein städtebauliches Umfeld längst verändert hat, blieb er über all die Jahre erhalten und steht seit rund zwanzig Jahren unter Denkmalschutz.

    • Architekten: Werner Klenke, Werner Düttmann / Bruno Grimmek

  • Text: Jürgen Tietz Fotos: Willy Kiel, Olaf Krüger, Gümer Schneider, Gert Schütz
Die gläserne Verkehrskanzel bleibt leer. Meistens zumindest. Dabei mangelt es nicht an Wünschen, von dem Hochsitz am Joachimstaler Platz aus einmal einen Blick auf die bekannteste Straßenkreuzung im Westen Berlins zu werfen, auf den Kurfürstendamm und auf die Reste des Café Kranzler, die nach dem Bau des Neuen Kranzler-Ecks von Helmut Jahn übrig geblieben sind. Die Kanzel ist längst eine stille Berliner Attraktion geworden, bei der sich heute manche Passanten fragen, wozu der gläserne Bau wohl gut sei, der über den aktuellen Auslagen eines Zeitungskiosks emporragt. Nur für ein paar Jahre, zwischen 1956 und 1962, führte von hier oben ein Polizist Verkehrsregie und sendete die Signale für die Ampelschaltung an der zentralen West-Berliner Kreuzung. Diese erste Verkehrskanzel in Deutschland war ein Symbol der autogerechten Stadt, deren Opfer sie schließlich selbst wurde: Der rasant zunehmende Autoverkehr machte zu Beginn der sechziger Jahre die Handschaltung der Ampel unmöglich. Die Verkehrslenkung wurde automatisiert. Neben dem Berliner Exemplar gab es nur wenige, weitere Verkehrskanzeln in Ost (unter anderem in Magdeburg) und West (zum Beispiel in Hannover) – sie blieben verkehrs- und baugeschichtliche Randerscheinungen [1].
Obwohl der Aufstieg in den verglasten Kubus am Joachimstaler Platz nur mit einer Leiter möglich ist, gehen beim Bezirksamt von Wilmersdorf-Charlottenburg regelmäßig Anfragen ein, die Verkehrskanzel zu besichtigen oder sie für Veranstaltungen zu nutzen. Die wenigsten werden genehmigt. Für Events ist das kleine Häuschen schließlich weder gebaut noch geeignet. Maximal zwei Personen dürfen die kleine, leicht nach vorne geneigte Kanzel gleichzeitig betreten, das hat eine Untersuchung der Statik ergeben. Immerhin erhielten vor ein paar Jahren einige Schriftstellerinnen die Erlaubnis, vorübergehend den Stuhl vor dem alten Ampelreglerpult mit der seitlichen Uhrenanzeige zu beziehen. In den Verkehr griffen sie nicht ein. Stattdessen kramten sie in ihren ganz persönlichen Kanzel-Erinnerungen und machten sich, über die Passanten und den Verkehr gehoben, ihr eigenes Bild von diesem Ort [2].
Dokument der Nachkriegsmoderne
Errichtet wurde die Verkehrskanzel 1954–56 nach einem Entwurf von Werner Klenke (1926–78) und Werner Düttmann (1921– 83), die unter der »künstlerischen Oberleitung« von Bruno Grimmek (1902– 69) standen, der damals die Entwurfsabteilung der Senatsbauverwaltung leitete. Das Ergebnis war eine städtische Multifunktionsanlage, die bis heute nahezu vollständig erhalten ist, eine Pavillonarchitektur, die einen Kiosk, ›
› Fernsprechkabinen sowie die Abgänge zur Toilettenanlage und U-Bahn unter einem weiten Betondach zusammenfasst. Inzwischen wurden die Telefonhäuschen gegen neue, nicht umhauste Telefone ausgewechselt. Der Charakter der Anlage aber wird dadurch kaum beeinträchtigt. Darüber ragt die gläserne Kanzel bekrönend empor. Die Teile dieser Anlage fügen sich zu einer »eleganten, ausdrucksvollen architektonischen Lösung«, schrieb der Architekturhistoriker und damals zuständige Inventarisator des Berliner Landesdenkmalamtes, Dietrich Worbs, bei der Eintragung der Anlage 1986 in die Denkmalbegründung. »Das Kunstwollen der 50er Jahre – mit seinem Streben nach Leichtigkeit und Schwerelosigkeit, nach asymmetrischen Kompositionslösungen – kommt hier in reiner Form zum Ausdruck.« [3].
Wie sehr die Verkehrskanzel nicht nur Baukunstwerk, sondern auch Zeitdokument ist, wird an der seitlichen Eingangstür zum Kiosk deutlich. Dort sind hinter Glas einige Fotos angebracht, touristische Sehhilfen im Postkartenformat. Sie verdeutlichen, dass dieser zarte Bau der Berliner Nachkriegsmoderne mit seiner delikaten Linienführung wie ein Fels in der Brandung der wechselnden architektonischen Moden steht. Bei seiner Einweihung im April 1956 war gerade erst die elegante Scheibe des Allianzhochhauses von Paul Schwebes und Alfred Gunzenhauser fertiggestellt worden, die die Kanzel hinterfängt. Beide Bauten fügen sich zu einem schönen Dokument der frühen Berliner Fünfziger-Jahre-Architektur, die bei aller Klarheit der Formen von einer beschwingten Leichtigkeit beseelt war. Eine Luftigkeit, die sich bis in die Gliederung des ›
› Straßenraums fortsetzte. Mit der Umgestaltung des Joachimstaler Platzes 2002 durch den Zürcher Landschaftsplaner Guido Hager ging auch die Parkplatzinsel vor dem Hochhaus verloren. Um die Parkplätze ist es nicht schade. Schade aber ist es um die differenzierte Raumerfahrung dieses Platzes der Nachkriegsmoderne, die mit der Umgestaltung ebenfalls verschwand.
Fels in der Brandung
Es ist erstaunlich genug, dass die Verkehrskanzel überdauert hat, während sich die umgebende Berliner City-West noch immer grundlegend verändert. Bei ihrem Bau, gut zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, war der Kurfürstendamm in weiten Teilen noch eine Trümmerlandschaft. Auf der anderen Seite der Joachimstaler Straße standen an der Ecke zum Kurfürstendamm die Reste des von Otto Firle einst umgebauten Warenhauses Grünfeld mit seinem legendären gläserner Fahrstuhl. An dieser Stelle entstand 1969–72 Werner Düttmanns mächtiges Ku-Damm Eck, mit seiner klug differenzierten Gebäudemasse, der weißen Fassade und der großen Bildschirmwand. Die Kreuzung davor war West-Berlins öffentliches Wohnzimmer, hier gab es Sit-ins und Demonstrationen. Und bei Fußballerfolgen feierte man hier im Autokorso. Inzwischen musste der Düttmann einem feisten Neubau von gmp weichen, der die Straßenecke wie eine übergewichtige Tonne besetzt. Angesichts des ebenso unberlinischen wie ungebührlichen Maßstabsprungs der Umgebung mit neuem Kranzlereck (Helmut Jahn) und Hotel Concord (Kleihues und Kleihues) scheint die Verkehrskanzel immer weiter in sich zusammenzuschrumpfen. Um ihre Qualität zu begreifen, hilft nur der genaue Blick auf die schöne Betonstütze als Doppel-T-Profil, die die Kanzel nach oben hebt und an deren Rückseite die Leiter zum Einstieg eingefügt ist. Ein vorgeblendeter blauer Glasschirm schließt den Hochsitz nach oben hin ab – nicht als optischer Gag, sondern als Blendschutz. An sonnigen Sommertagen dürften die Verkehrsregler hier oben trotz der beiden seitlichen Fenster mit ihren Aluminiumrahmen wohl dennoch ziemlich geschwitzt haben. Der Kiosk unter der Kanzel selbst zeigt an seiner schlichten Aluminiumfassade die Nutzungsspuren der Jahrzehnte, während das dünne Betondach elegant über ihn hinwegzufliegen scheint. Mit einem sanften Knick, asymmetrisch gesetzt, verzichtet es auf das Diktat der rechten Winkel und gewinnt dafür eine ganz subtile Akzentuierung des Stadtraums.
Auch wenn die Kanzel heute überwiegend leer bleibt – funktionslos ist sie als verkehrs- und baugeschichtliches Dokument deshalb noch lange nicht.•
Literaturhinweise:
[1] Jan Gympel, Berlin/Magedeburg, Verkehrsleitkanzeln Ost/West Doppelgänger mit ungewisser Zukunft. In: Jan Gympel, Schrittmacher des Fortschritts – Opfer des Fortschritts? Bauten und Anlagen des Verkehrs. Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, 1999, Band 60, S. 39/40
[2] Corinna Waffender (Hg.), Kanzlerinnen, schwindelfrei in Berlin, Transit Buchverlag, Berlin, 2005
[3] Landesdenkmalamt Berlin, Kurzbegründung des Unterschutzstellungsverfahrens
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